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Berlin, Mai 1900.
Bei einem entfernten Verwandten meiner Mutter, den ich Onkel nenne, bin ich gewesen. Ich glaube, er würde Ihnen gefallen, drum will ich Ihnen von ihm erzählen.
Nach äußerlicher menschlicher Klassifikation gehört er zu den deutschen Professoren, aber ich glaube, innerlich und eigentlich ist er ein Wesen aus einer klassischen Periode, vielleicht ein auferstandener alter Grieche, der in einer Tonne hauste und den Dingen zuschaute, oder der einstmalige Abt eines berühmten Klosters der italienischen Renaissance – aber kein Savonarola, der gegen die Verderbnis der Menschen eiferte und die Welt bessern wollte, sondern ein Mönch von der beschaulichen Sorte, der in Chroniken mit schön gemalten Buchstaben seine Beobachtungen niederlegt, der die Schlechtigkeit der Welt wohl erkennt, aber sich nicht zum eingreifenden Reformator berufen fühlt, sondern denkt, daß, wer das eigene Herz nur rein hält, auch schon sein Teil getan hat.
Er wohnt nahe am Tiergarten, in einer Straße, deren eines Ende sich zu einem kleinen Platz erweitert, auf dem zwischen Fliederbüschen eine Kirche steht. Es ist kein sehr alter Teil Berlins, aber doch auch keiner von den ganz neuen, und es ist dort wohltuend geräuschlos. Zu den ernsten, etwas gleichmäßigen Häusern denkt man sich unwillkürlich als Bewohner still arbeitende Leute, die ein Menschenalter hindurch in denselben Zimmern gelesen und geschrieben haben und nichts von hastigen Umzügen wissen. – Es ist eine Gelehrtengegend.
Solang ich denken kann, wohnt der Onkel im selben Haus im dritten Stock. Sein Arbeitszimmer ist ein nach rückwärts liegender Saal, von dessen Balkon aus man auf Gärten blickt, in denen es jetzt grünt und Frühling wird. Über seinem Schreibtisch hängt ein Marmorrelief an der Wand. Es stellt die längst verstorbene Frau des Onkels dar, und das kühne Profil zeigt ein auffallende Ähnlichkeit mit Achim von Arnim oder Byron. Es ist das ein Menschentypus, dem man in unseren Tagen selten mehr begegnet, und der früher häufiger gewesen zu sein scheint. Vielleicht verschwinden Menschentypen mit den Idealen ihrer Epoche. Wer würde wohl heute wie Byron für die Unabhängigkeit der Griechen kämpfen? – Wenn man Gesichtszügen vertrauen darf, so muß die verstorbene Tante ein wahrer Gentleman gewesen sein, der nie aus der Not anderer Kapital geschlagen hätte.
Der Onkel ist in den Jahren, die ich in der Ferne verlebt, ein ganz alter Mann geworden. Sein langes Haar ist weiß geblichen, die ganze, hohe Gestalt ist so abgemagert, als seien die irdischen Bestandteile, deren wir zum Leben bedürfen, von ihm schon abgefallen. Die Worte »ein verklärter Leib« fielen mir ein, als ich ihn wieder sah. Die klaren, schönen Augen sind dieselben geblieben, nur größer sind sie geworden, und es ist, als übersähen sie vieles, was sich unsern Blicken aufdrängt, und als gewahrten sie dafür schon Dinge, die uns noch verborgen sind.
Harmonie und Ruhe strahlten von ihm aus.
Er lebt in seiner besonderen Welt, und ich merkte bald, daß er sich gegen alles, was ihn daraus reißen könnte, ablehnend verhält, als fürchte er sich zu zersplittern und mit einer großen Aufgabe nicht mehr fertig zu werden.
Er sprach gleich von seinem Lebenswerk »Florenz in der Renaissancezeit«, an dem er arbeitete, als ich vor Jahren in die Fremde gezogen bin und das jetzt in herrlichen illustrierten Lieferungen erscheint. Er zeigte mir die neuesten Blätter. – Wie klein und zwecklos erscheinen doch die meisten Existenzen, mit ihren hastigen, wechselnden, folgelosen Bestrebungen, neben solch einem Leben, durch das sich ein einziges großes Interesse bestimmend hindurchzieht!
Ich traf beim Onkel noch einen anderen Gast. Ein kleines, buckliges, engbrüstiges Männchen, mit gescheitem, scharf geformtem Kopf, durchdringenden Augen, und bitterem Lächeln um die feinen schmalen Lippen. Ein alter Bekannter von früher ist mir Hanz-Buckau. In einem hohen, altersgrauen Gebäude an der Spree, verwaltet er seit Jahren eine Bibliothek; und in den Mußestunden, die ihm diese Arbeit und häufiges Kranksein lassen, übersetzt er klassische italienische Dichtungen, verfaßt selbst formvollendete Sonette satirischen Inhalts und versammelt abends eine auserwählte Gesellschaft um sich. Hanz-Buckau ist einer der wenigen Menschen in Berlin, die einen Salon gebildet haben. Die Leute, die zu ihm kommen, erscheinen in seinen vier Wänden viel gescheiter, als bei sich zu Hause. Es ist, als locke er den versteckten Geist aus den verschiedensten Menschen heraus. Vielleicht auch leiht er ihnen von dem eigenen. Eine grenzenlose Bewunderung hat Hanz-Buckau für schöne Frauen, und sie müssen wohl fühlen, welchen Altar dieses arme, verwachsene Männchen ihnen in seinem Herzen errichtet, denn ich kenne keine, die ihm nicht gut gewesen wäre. Der arme Hanz-Buckau, der alle Schönheit so intensiv empfindet und darum unter dem eigenen mißgestalteten Äußern so besonders schwer leidet, der führt auch in seiner Art einen beständigen Kampf zwischen Geist und Körper. Er erinnert mich stets an Leopardi, an jenen großen Italiener, der ewig ungestillte Sehnsucht im Herzen trug, der um die Vergangenheit trauerte und nie eine Gegenwart besessen hatte. Hanz-Buckau ist solch eine Leopardi-Natur, mit einem starken Zusatz echt Berliner Schärfe. Für den Onkel hegt er eine rührende Freundschaft und hat seine Eigenart des vornehm Maßvollen richtig erkannt. »Professor Lichte Höh« ist der neckende Spitzname, den er ihm gegeben. Durch seine Abwehr gegen alles Exzessive und sein inneres Gleichgewicht ist der Onkel dem leidenschaftlichen Hanz-Buckau wahrscheinlich wohltuend. Dieser betrachtet alles sehr kritisch, läßt wenig gelten und spottet gern über die Herdennatur der Menschen, über die Leichtigkeit, mit der sie sich Götzen aufnötigen lassen, die sich stets als blecherne erweisen. Auch heute redet er viel davon. Er hat sich noch nicht mit der Welt abgefunden, und es entrüstet ihn die falsche Bewertung, die er überall sieht.
»Gegen physische Faulheit wird genug geeifert und gepredigt,« sagte er, »aber geistige Trägheit wird eher unterstützt. Die eine Hälfte der Menschheit soll überhaupt prinzipiell darin verharren und von der anderen Hälfte so viele als irgend möglich. Durch diese künstliche Beförderung der Unselbständigkeit sind all die vielen falschen Größen möglich.«
Und später sagte er: »Wir sogenanntes Volk der Denker tun eigentlich nichts weniger gern, als nachdenken, besonders nicht über Dinge, die uns doch praktisch angehen. Drum ist man im Ausland auch immer ganz verwundert, wenn sich in Deutschland mal die öffentliche Meinung wirklich äußert. Gewöhnlich schläft sie, im Bewußtsein, daß Minister, Geheimräte, Professoren, die alle etwas vom Gottesgnadentum an sich haben, für sie wachen. Wir verlassen uns darauf, im gegebenen Moment immer die nötigen großen Männer zu haben, als hätten wir sie ein für allemal gepachtet, und wollen nicht sehen, daß wir in dieser Ware doch recht oft übervorteilt werden. Wir sind unverbesserliche Heroenanbeter und nehmen fürlieb. Sind die Zeiten schlecht, so werden die Helden kleiner, ganz wie die Brötchen während der Teuerungen.«
Der Onkel antwortete: »Was Ihnen, lieber Hanz-Buckau, als charakteristisch erscheint für Land und Epoche, in denen Sie zufällig geboren sind, hat in Wirklichkeit immer und überall bestanden, denn alle Zeiten sind stets davon überzeugt gewesen, an großen Männern reich zu sein. Durch das spätere Urteil der Geschichte entsteht aber oftmals gerade dort eine Öde, wo die Zeitgenossen ein Gewühl sahen. In unmittelbarer Nähe sieht alles groß aus, aber wenn die Erscheinungen erst in eine gewisse Entfernung rücken, die Vergleiche und die Anlegung eines allgemeinen Maßstabes gestattet, ergibt sich die wahre, dauernde Bedeutung der Dinge. Die echten Riesen, auf die es allein ankommt, kommen schließlich immer zum Durchbruch, und Werte ganz zu fälschen, ist nur auf kurze Zeiten möglich – drum lasset den Eintagsgötzen die Eintagsanbeter.«
»Ihr Onkel«, wandte sich Hanz-Buckau an mich, »hat zeitliche Begriffe bereits überwunden. Für ihn sind Luther, Friedrich der Große, Goethe und Bismarck gegenwärtige Realitäten, Manifestationen ein und desselben großen germanischen Geistes, die zusammen bestehen. Geringeres übersieht er. Der Ärger von uns Kleinen über die zeitweilige falsche Größe anderer ebenso Kleiner ist ihm ganz gleichgültig. Nur auf die Genies kommt es dem Onkel an. – Ich will Ihnen ganz leise ein Geheimnis verraten: der Onkel ist eigentlich, ohne es selbst zu wissen, einer von den ganz schrecklich Modernen!«
Hanz-Buckau hatte das mit der sich selbst verspottenden Zärtlichkeit gesagt, die immer durch seine Stimme klingt, wenn er vom Onkel spricht. Es ist, als solle man nicht wissen, wie lieb er ihn hat.
Es war spät geworden, und also sprechend hatten mich die beiden bis auf den Treppenabsatz begleitet vor des Onkels Wohnungstür. Eine schmale Treppe führt von da noch hinauf zum Boden, und von hoch oben fiel ein goldener Nachmittags-Sonnenstrahl gerade auf den Onkel, der die Hand auf das Geländer gestützt hatte, die durchsichtige, feine Hand, die emsig die Feder geführt hat ein Leben lang.
Ich hatte mich schon verabschiedet, aber tausend feinste Erinnerungsfäden zogen mich zu ihm hin, und ich kehrte noch einmal zurück und beugte mich über die lieben Greisenhände. Eine Träne fiel auf sie – – der Onkel ist einer der allerletzten aus meiner Kinderzeit.
»Mein gutes Kind«, sagte der Onkel, und in seiner Stimme lag das ganze Mitleid derer, die schon über dem Leben stehen, für diejenigen, die sich noch mitten drin befinden. Vielleicht ahnte der Onkel, wie unsäglich verlassen ich mir in dem Augenblick vorkam, denn es klang auch wie eine Ermahnung in den Worten, ruhig zu sein, alles Exzessive zu bezwingen, und wo es nicht vermieden werden kann, es doch still im Innern zu verbergen. Wie eine klassische Gestalt von olympischer Ruhe erschien mir der Onkel, wie ein alter Maharattah-Häuptling, der mir einst in Indien seinen golddurchwirkten Schal zeigte und mir sagte: »Der schützt vor Sonne und Kälte, vor Wind und Staub, und sein fürnehmster Dienst wird einstmals sein, mich im Sterben zu umhüllen, und so meine letzte Todesnot zu verbergen.« Der Onkel besitzt sicher solchen golddurchwirkten Maharattah-Schal. Man sieht von ihm nur, was man sehen soll – und das ist alles harmonisch verklärt, »lichte Höh«, wie Hanz-Buckau sagt.
Und ich bezwang die Tränen, die mir schon brennend in den Augen standen, deutete auf die Treppe, die die drei Stockwerke hinab in zunehmende Dunkelheit führte und sagte: »Leb wohl, Onkel, jetzt steig ich wie Rautendelein hinunter in den finsteren Schicksalsbrunnen.«
Hanz-Buckau antwortete: »Ja, in den müssen wir schließlich alle mal hinab, und das Leben ist ein beständiges Abschiednehmen.«
Langsam schritt ich die vielen Stufen hinunter. Noch einmal schaute ich hinauf. Nebeneinander standen die beiden oben, von der Sonne beschienen – der weißhaarige Mann, der in der Einsamkeit des Alters milde lächelte, und der arme Verwachsene, dem äußerliches Gebrechen, Entsagung heischend, Schicksal geworden ist. Sie beugten sich über das Geländer und winkten mir nach.