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New York, November 1899.
Lieber Freund!
Wir haben einen sehr angenehmen Abend bei Bridgewaters verbracht. Schon ihr Haus zu sehen, ist eine wahre Freude. Alle Räume sind mit individuellem Geschmack eingerichtet und mit viel schönen Dingen geschmückt, die Mr. Bridgewater und seine kunstsinnigen Töchter auf ihren Reisen gesammelt haben. Das Haus hat seine eigene Physiognomie, viel Erlebtes liegt darin, und es bleibt uns in der Erinnerung, wie eine ausgeprägte Persönlichkeit. Der alte Mr. Bridgewater ist in diesem Hause geboren und bewohnt es jetzt mit Kindern und Enkeln – das ist in New York an sich schon eine Merkwürdigkeit.
Nach dem O'Doyleschen Fest war dieses Diner wie die Offenbarung einer anderen amerikanischen Welt – und beide Häuser liegen doch nur ein paar Blocks voneinander entfernt! Wir hören aber so viel von der amerikanischen Gleichheit reden, davon, daß der Präsident aller Welt die Hände schüttelt, daß wir leicht auf den Gedanken kommen könnten, die amerikanische Gesellschaft sei eine einzige gleiche Brühsuppe, aus der, als Klöße, nur etliche Vanderbilts herausragen. Aber ganz im Gegenteil. Die hiesige Gesellschaft zerfällt in zahllose verschiedene Koterien, die himmelweit voneinander entfernt sind. Es sind ja alles Amerikaner, und gewisse Rasseneigenschaften werden sie wohl gemeinsam haben, aber zwischen der O'Doyleschen und der Bridgewaterschen Koterie z. B. ist ein Unterschied, wie zwischen einem rohen Stück Rindfleisch und einem im Café Anglais servierten Tournedos à la Rossini. Und die Tournedos achten strengstens darauf, daß niemand von den Rindfleischens sich bei ihnen einschmuggele. Im Sinn für aristokratische Exklusivität haben die Amerikaner uns vielleicht schon überflügelt. Ein jeder, der etwas auf sich hält, muß hier in der Wahl seines Umgangs auch deshalb selbst so streng sein, weil die Amerikaner niemand haben, der die nötige erhabene Stellung einnimmt, um einem anderen den allgemein gültigen sozialen Segen erteilen zu können. Ich hörte kürzlich eine Amerikanerin sagen, das sei in europäischen Städten, wo es Höfe gibt, so bequem, da könne man ruhig all die Leute kennen, die zu den kleinen, auserlesenen Hofgesellschaften befohlen würden (nicht etwa zu den großen Aufwaschefesten, da liefe zu vieles mit durch); aber von denen, die auf der kleinen Liste ständen, könne man mit Sicherheit annehmen, daß sie sozial wünschenswert seien. Aber in Amerika gibt es kein offizielles soziales Haarsieb.
Bei Mr. Bridgewater wird offenbar sehr fein gesiebt, und ich habe da angenehme Menschen getroffen. Ich glaube, die Gäste waren alle reich. Ich habe aber für diese Annahme nur den einen Anhaltspunkt, daß sie vieles als durchaus selbstverständlich ansahen, von dem ich weiß, wie schrecklich teuer es hier ist. Keiner von ihnen erwähnte Geld oder Geschäfte. Ich glaube, man könnte ihren »set« den der Geistesaristokratie nennen. Nur darf man in diesem Fall den Begriff Geistesaristokratie nicht mit Schlapphüten, übergeknöpften Manschetten und Smoking-Jacken am Vormittag in Verbindung bringen.
Ich saß bei Tisch neben einem Mr. Anstruther, der zum Klub der vierzig amüsantesten Männer New Yorks gehört. Er war recht nett und unterhaltend, äußerte aber leider nichts so erstaunlich Amüsantes, daß es nicht auch außerhalb dieses Klubs hätte erdacht werden können. Ich wartete den ganzen Abend darauf, wie auf das Bukett beim Feuerwerk. Aber es stiegen nur einige Raketen auf.
Es gehört doch Selbstvertrauen dazu, sich um die Mitgliedschaft dieses Klubs zu bewerben! Ich fragte, was man denn täte, wenn man blackballiert würde, und ob man dann sein Lebenlang die Etikette trüge, ein langweiliger Mensch zu sein? Mr. Anstruther antwortete: »Dann geht man nach Hause und schreibt ein gescheites Buch und nennt es: a clever book by a bore.«
»Das ist möglicher, als es zuerst klingt,« meinte Bridgewater, »denn es ist leichter, ein gescheites Buch zu schreiben, als im täglichen Leben amüsant zu sein – Bücher werden mit dem esprit d'escalier geschrieben, der häufig vorkommt, amüsant ist man durch die viel seltenere Gabe der repartie, und vor allem durch Sinn für Humor.«
»Und wegen dieses Sinns für Humor sind amüsante Menschen eigentlich nie lustige Menschen,« sagte Anstruther, »denn der Humor sieht die traurige Komik des Lebens, den Widerspruch zwischen Aspirationen und Leistungen, zwischen dem, was man sich einbildet, und dem, was wirklich ist. Humor existiert deshalb auch selten bei jungen Menschen, er kommt mit den Jahren, und in gleichem Maße, wie er wächst, schwindet die Fähigkeit eigentlicher Lustigkeit.«
Da Mr. Bridgewater so viel im Ausland gelebt hat, sind Fremde häufig bei ihm zu Gaste, und wir trafen dort eine russische Witwe, Madame Baltykoff, eine Schriftstellerin, die Mr. Bridgewater in Petersburg gekannt hat, und die nach New York gekommen ist, um das amerikanische Leben zu studieren und dann das unvermeidliche Buch darüber zu schreiben. Madame Baltykoff ist jung und hübsch, voller Interesse und Begeisterung für amerikanische Einrichtungen; natürlich erwidern das die Amerikaner, indem sie ihrerseits von Madame Baltykoff begeistert sind. Anstruther scheint besonders für sie zu schwärmen. Mir gefällt an ihr, wie sie aus dem Enthusiasmus leicht in Witz und Spott überspringt, alles plötzlich wieder in Frage stellend. Heiliger Ernst und Blague, ungefähr zu gleichen Teilen – eine echt slawische Mischung. Die Amerikaner, die bei dem Diner zugegen waren, sind alle weitgereiste und gebildete Leute, besonders auch die Frauen. Aber keiner von ihnen scheint tätigen Anteil am amerikanischen politischen lieben zu nehmen. Sie waren offenbar stolz auf ihr Land, sie schienen es als einen Eilzug anzusehen, mit dem sie gern zu reisen bereit sind, aber dessen Führung sie lieber anderen überlassen. Denn in Amerika zeigen gerade die Besten eine gewisse Scheu davor, sich an den öffentlichen Angelegenheiten handelnd zu beteiligen, – na, um so besser, denn es ist auch so schon ein genügend gefährlicher Konkurrent.
Der alte Mr. Bridgewater schien am meisten Interesse an Regierungsgeschäften zu nehmen; vielleicht ist es eine Folge seines langen Aufenthalts in Ländern, wo die geringste Verbindung mit der offiziellen Welt denjenigen Glanz verleiht, den hier eine noch so entfernte Verwandtschaft mit den Vanderbilts oder Astors gewährt.
Von Mr. Bridgewater geleitet, langte die Konversation bald beim Imperialismus und der wachsenden Wichtigkeit der Vereinigten Staaten an. Mr. Bridgewater sagte: »Ich möchte ein Buch schreiben über den Eintritt Nordamerikas in das Konzert der Mächte, denn das ist die wichtigste Tatsache am Schluß des Jahrhunderts, und sie bedeutet nicht nur eine Verschiebung der realen Machtverhältnisse, sondern sie wird weittragende geistige Konsequenzen haben. Durch den zunehmenden Verkehr mit uns werden die Europäer von den amerikanischen Gedankengängen und von unseren Geschäftsmethoden beeinflußt werden. Wir sind daran gewöhnt, über alle Dinge, die uns angehen, informiert zu werden und sie frei zu diskutieren, und es ist schon jetzt bemerkbar, daß, sobald Amerika an einer Weltfrage beteiligt ist, diese Frage ganz anders ungeniert von den Zeitungen erörtert wird, als wenn es sich um rein europäische Angelegenheiten handelt. Je mehr aber die Zahl der Fragen zunimmt, in denen Amerika eine Rolle spielt, um so mehr wird auch diese Methode angewandt werden. Das ist ein erster Schritt, um die Europäer zu einem stärkeren Wunsch nach Selbstbestimmung und einem höheren persönlichen Verantwortlichkeitsgefühl zu erwecken; so werden sie lernen, die Volksrechte höher zu schätzen und werden verlangen, über ihre eigenen Angelegenheiten auch selbst gehört zu werden; sie werden sich nicht mehr damit begnügen, blind geführt zu werden, wie es heute noch in allen auswärtigen Fragen geschieht. Nichts ist ansteckender als gewisse Ideen. Früher waren wir es, die alles aus Europa entnahmen, aber das ist längst anders geworden; heute sind wir schon beinah völlig unabhängig von der alten Welt und wir senden ihr Korn, Fleisch, Konserven und eine stetig zunehmende Zahl anderer Artikel – aber viel wichtiger als all das ist, daß die amerikanischen politischen Ideen Europa überfluten werden.«
»Halten Sie es wirklich für denkbar, daß amerikanische Anschauungen über Verfassungen sich in Europa verbreiten werden?« fragte Madame Baltykoff eifrig.
»Im letzten Ende ganz sicherlich ja,« antwortete Mr. Bridgewater.
»Da bin ich doch anderer Ansicht,« sagte mein Bruder, »denn das Wachsen der imperialistischen Tendenz in den Vereinigten Staaten, die Sie uns eben als wichtigste Tatsache dieses Jahrhundertsendes geschildert haben, ist ein speziell europäischer und monarchischer Zug. Je mehr Gewicht der äußeren Expansion und einer starken auswärtigen Politik beigemessen wird, um so mehr werden die Volksvertreter, die sich notwendigerweise mehr mit inneren Fragen beschäftigen müssen, an Bedeutung verlieren. Eine große imperialistische Politik bedingt die Herrschaft einzelner großer Führer, und da haben die Länder den Vorteil, wo ein einzelner Mann an der Spitze des Staates steht.« »Sehen Sie, Bridgewater,« sagte Anstruther lachend, »dieser Fremde prophezeit uns einen Kaiser, wenn wir auf dem Pfade der Intervention, Protektion, Expansion, der Kriege und des Inselschluckens verharren.«
»Ja, gescheit und voll moderner Ideen sollte Sam I. von Amerika freilich sein – sonst müßte er sich ja vor den europäischen Kollegen schämen.«
Auf dem Heimweg sprachen mein Bruder und ich davon, wie oft man hier die Empfindung bekommt, daß die Amerikaner uns Europäer als bemitleidenswert zurückgeblieben ansehen. Nachdem sie uns moderne Geschäftsmethoden gelehrt haben, wollen sie uns jetzt mit modernen Prinzipien im allgemeinen versehen und mit allem, was uns sonst auf geistigem Gebiet fehlen mag. Klingt das nicht sonderbar? Und sie haben doch eigentlich alles von uns, stehen auf unsern Schultern. Mein Bruder sagt, er erinnere sich noch sehr gut der Zeit, wo man nach Amerika kam und für alles so ein gewisses elterliches Wohlwollen hatte; die Amerikaner fragten damals begierig, ob man wirklich alles bei ihnen »sehr groß« fände, und freuten sich, wenn man was lobte. Jetzt sind sie überzeugt, uns überflügelt zu haben.
Na, es muß ja vorkommen, daß Kinder ihren Eltern über sind – wie wäre sonst das erste Genie entstanden?