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New York, den 24. Juni 1900.
Immer dieselben widersprechenden Nachrichten in den Zeitungen. Die Schilderungen entsetzlicher Metzeleien, daneben die Versicherungen chinesischer Gesandten, daß die Fremden in Peking noch am Leben seien, daß ihnen irgendein chinesischer General beistände. Was soll man glauben? Ach, man glaubt ja bis zuletzt immer, was des Herzens heißester Wunsch ist.
Ich habe angefangen, mein Pekinger Tagebuch wieder durchzulesen. Auf jeder Seite steht Ihr Name, lieber Freund, und daneben irgendeine neue Freude, die Sie sich für mich ausgedacht! Damals nahm ich es alles so hin – als könne es nicht anders sein. Jetzt erst beim Lesen ist es mir, als spräche aus den vergilbten Blättern eine ferne Stimme zu mir und erzählte mir leise von Dingen, die ich nur dunkel geahnt. Jetzt versteh ich – jetzt, wo vielleicht ... Aber ich will das Entsetzliche nicht denken – es darf nicht so enden! Ich habe ja auch gar keinen sicheren Anhaltspunkt dafür, daß Sie mit in Peking eingeschlossen sind – nur daß es so ungefähr die Zeit ist, in der Sie von Ihrer Reise zurück sein sollten. Aber wie oft dehnen sich solche Reisen im Innern länger aus, als man zuerst berechnet, und wenn Sie unterwegs von den Unruhen hörten, werden Sie doch sicher nicht den gefahrvollen Weg nach der Küste eingeschlagen haben, sondern werden wohlgeborgen bei einem Ihrer Freunde geblieben sein. Denn Sie hatten deren ja so viele unter den Eingeborenen und sind mir immer als der eine Fremde erschienen, der wirklich Fühlung mit den Chinesen hatte. Sie kannten Palastbeamte, Zensoren, Gildenhäupter, Literaten, während so manche andere Europäer beinah einen gewissen Stolz hineinsetzten, von den Kindern des Landes möglichst wenig zu wissen. Jetzt ist es mir ein Trost, mich daran zu erinnern, daß Sie auch unter den Mongolen, die jeden Herbst nach Peking ziehen, Freunde hatten, und unter den Händlern, die die fernen Provinzen durchstreifen, um für reiche Sammler berühmten alten Vasen nachzuspüren. Von all diesen Leuten erhielten Sie stets Nachricht von Dingen, die anderen verborgen blieben, und Sie haben gewiß die Ursachen und das Entstehen dieser neuesten Begebenheiten, die uns als plötzliche Erscheinungen überraschen, lange im voraus gekannt. Sie sind ja vielleicht der einzige Europäer, der China so gut kennt, daß Sie spurlos in den Volksmassen untertauchen könnten – den Strickland Chinas hatten Kipling-Schwärmer Sie einstmals genannt. Wenn irgendeiner, mußten Sie sich retten können.
Wenn ich doch aber nur eine Silbe von Ihnen hörte!
Ach, dies fortwährende Grübeln und Sehnen – dies Wissenwollen und doch Zittern vor dem Wissen.
Beständig schweifen die Gedanken zurück zu den verflossenen Jahren. Das Pekinger Häuschen, das Sie uns mieten und einrichten halfen, sehe ich immer wieder vor mir. Mit Mauern umfriedet lag es in der Straße hinter den Gesandtschaften nahe am Hatamen, dort, wo die großen Bäume stehen. Des kleinen Hofes mit der riesigen, verwitterten Steinschildkröte, und der Wistaria mit den hellila Blütendolden gedenke ich und der vielen Abende, die wir unter dem alten Baume sitzend dort verbrachten. Der Wind spielte in den Zweigen und leise fielen die blassen Blüten auf uns herab. Eine verspätete Biene flog summend durch den Hof. Von jenseits der Mauer drangen die seltsamen, abendlichen Rufe der Verkäufer, die durch die Straßen zogen, aus der großen, grauen Stadt zu uns – Töne aus einer Welt, von der wir allmählich einige kleine Äußerlichkeiten zu unterscheiden lernten, deren Geist und innerstes Wesen uns doch ewig fremd und rätselhaft bleiben werden. Und beklemmend wurde in solchen Stunden das Gefühl unendlicher Ferne und Weite. Einer Last gleich legte es sich auf das Herz. Ein traumhaftes Empfinden der Angst, im Raum verloren, durch unabsehbare Entfernung und unendliche Zeiten von allem getrennt zu sein, das früher einmal unsere Welt gewesen.
Was mag aus unserem Häuschen geworden sein? Was aus den Menschen allen, die ich dort gekannt, die inmitten Tausender fremder und feindlicher Wesen so ahnungslos sicher dahinlebten? Es ist, als seien sie alle weggezaubert, versunken in eine Nacht, die unser Blick nicht zu durchdringen vermag. Immer wieder sehe ich sie alle vor mir, wie sie sich am Morgen unserer Abreise in unserem kleinen Hofe versammelt hatten, um uns Lebewohl zu sagen. Öde und ausgeräumt war alles und Ta dirigierte die Kulis, die sich die letzten Koffer und Kisten aufluden. Man saß auf den Treppenstufen und auf dem Rücken der alten Steinschildkröte herum, und alle Sprachen schwirrten durcheinander. Abschied wurde genommen und Rendez-vous in der Pariser Ausstellung verabredet: Auf Wiedersehen! auf Wiedersehen! tönt es mir immer wieder in den Ohren. Wie oft und ahnungslos haben wir doch alle an jenem Morgen das Wörtchen wiederholt! Und dazu knatterten die Feuerwerke, mit denen die Chinesen alle Abreisen begleiteten, um die bösen Geister zu verscheuchen. Aber die füllten wohl schon damals das ganze Land, unsichtbar lauernd harrten sie ihrer Stunde und keiner von jenen, die da standen, fühlte ihre Gegenwart. Denn das Schicksal schlägt mit Blindheit, die es zu verderben gewillt ist.
Und Sie, der Sie vielleicht der einzige waren, der ahnend vorausschaute, wo sind Sie, lieber Freund? – das ist die quälendste, unerträglichste Frage. In immer neuen Gefahren glaube ich Sie zu sehen.
Wann werden wir wissen? oder ... werden wie nie wissen ? ...