Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
New York, 1. Januar 1900.
Lieber Freund! Möchte das Jahr Sie mit allem Guten beschenken, das ich Ihnen wünsche! Gleich die ersten Gedanken heute früh flogen hinaus über die grollenden Wintermeere und die weiten, hartgefrorenen Ebenen, in denen der Sturm heult, flogen aus, Sie zu suchen, und konnten Sie nicht finden, und flattern nun weiter unstet umher, können nirgends zur Ruhe kommen, sehnen sich so sehr, Ihnen ein kleines Zeichen zu geben. Alles Schöne und alles Glückliche möchte ich in Ihr Leben hineinzaubern – und konnte Ihnen doch am Weihnachtsabend kein Bäumchen schmücken, kann Ihnen heute zu Neujahr nicht einmal die Hände reichen! Den ganzen Tag war mir, als müsse heute durchaus ein Wort von Ihnen zu mir dringen, als müsse Ihre Stimme ganz leise aus der Ferne klingen, wie einstmals in vergangenen Tagen, als Sie mir sagten: »Und darf es nicht Glück sein, so sei's doch das Nächstbeste.« Und Ihr »Nächstbestes«, lieber Freund, war immer noch so viel reicher und zarter, so viel sorgender als alles, was andere Menschen als höchstes Glück zu geben vermögen; Sie haben mich so sehr verwöhnt, daß ich mir jetzt oft ganz verlassen vorkomme.
Auf daß Ihnen aber die Lektüre dieses Briefes nicht schlecht bekomme und Sie nicht etwa dem Hochmutsteufelchen verfallen, werde ich gleich hinzusetzen, daß ich immer etwas am großen Heimweh der Vergangenheit leide, und daß, wenn man mehrere Jahre in einem so eigenartigen Ort wie Peking gelebt und dort Wurzel gefaßt hat, es schwer fällt, in einer so absolut entgegengesetzten Welt wie New York heimisch zu werden. Wer sich in Brüssel wohlfühlt, dem wird auch Paris gefallen, wer sich in Dresden eingelebt, der wird es auch in München fertigbringen. – Da sind keine weltentrennende Rassen- und Anschauungsgegensätze zu überwinden. Wer aber den Osten wirklich mal kennt und liebt, der paßt nicht mehr in diese westliche Welt. Man staunt sie an, sagt sich wohl auch mit dem Verstand, daß ihr das neue Jahrhundert gehören wird, aber man wird in ihr nie mehr heimisch, man fühlt sich in stetem Widerspruch. – Wie mag es nur Kipling, dieser große Orientale, hier je ausgehalten haben! Wie sehr kann ich ihm das Heimweh nach dem Osten nachempfinden, das wie ein Moll-Leitmotiv der Sehnsucht durch seine Werke zittert – unverständlich für die, deren beste Jahre nicht jenseits Suez gelebt wurden.
Ich muß heute so viel an manche englische Beamte denken, die ich vor Jahren in Indien gekannt und dann pensioniert und gealtert in irgend einem Städtchen Englands wiedergesehen habe. Dort in Indien hatten sie viel räsonniert, über Klima, Natives und Silberkurs, aber trotz aller Klagen fühlten sie sich doch immer als Götter, wenn auch nur als Achtel-, Viertel- oder Halbgötter; und es waren doch, ohne daß sie es recht wußten, ihre glücklichsten Jahre gewesen, die sie dort verlebt – man ist ja meist glücklich, ohne es zu wissen und merkt, daß man es war daran, daß man es aufhört zu sein. In Bath oder Torquay, unter grauem Himmel, in engen Zimmern, mit einer ungeschickten, schlecht kochenden Mary Ann, der sie nie einen hindustanischen Fluch nachschmettern durften, umgeben von lauter Leuten, die nichts wußten von der Gottgleichheit, die jedem weißem Sahib in den Städten auf »abad« oder »epore« zu eigen ist, da verstanden die Armen es erst ganz, wie schön es einst gewesen; und das große Heimweh nach dem Osten schlich sich in ihre Herzen und nistete sich fest ein.
Ich komme mir hier so oft vor wie einer jener pensionierten englischen Beamten! Oder wie eine arme, kleine, vertriebene Königin, der niemand anmerkt, daß sie einst ein güldenes Krönchen trug! Wenn ich mich in dem Straßengewühl durchdränge, wo keiner mich kennt, und mir sage, daß, wenn ich tot umfiele, in eine kalte, graue Morgue gebracht würde, und niemand wüßte, wer ich bin, da sehne ich mich oft nach der Stadt, wo jeder mich kannte, wo alle am Bahnhof standen, als ich abreiste, und mir nachwinkten.
Das Bewußtsein der eigenen Kleinheit und Belanglosigkeit lastet auf uns modernen Menschen allen wie ein schweres Gewicht. Wir leiden unter der eigenen Winzigkeit, unter den engen Grenzen unseres Wissens und Lebens, seitdem uns die Endlosigkeit von Raum und Zeit gelehrt ward. Leute früherer Epochen kannten diesen Gegensatz zwischen menschlicher Kleinheit und Weltunendlichkeit nicht; sie müssen zufriedener gewesen sein, weil sie sich selbst im richtigen Maßstab zu allem übrigen vorkamen. Diese Menschen, die in alten Häusern mit hohen Giebeln wohnten, und auch noch heute die Leute, die in ganz kleinen Zentren leben, wo jeder jeden kennt und der Glaube an die eigene Wichtigkeit nie getrübt wird, scheinen mir beneidenswerte Wesen; denn es gibt ja nichts Befriedigenderes, als an sich glauben zu können. In solchen kleinen Gemeinden floriert dann auch diese höchste Blüte der eigenen Wichtigkeitsüberzeugung – der Glaube an ein persönliches Fortbestehen. Es scheint doch ganz unmöglich, daß Herr A, mit dem man alle Samstag seit dreißig Jahren gekegelt hat, Frau B, mit der man schon auf der Schule in Rivalität lebte, plötzlich ganz ausgewischt, wie nie gewesen, sein sollen. Das kann solch bedeutenden Persönlichkeiten nimmer widerfahren! Sie sind zeitweise unsichtbar, auf der großen Reise begriffen, die alle mal antreten – aber nachher wird man sich wiederfinden, ganz selbstverständlich. – Wer aber von den Wellen an zahllose fremde Küsten verschlagen worden ist und gesehen hat, daß überall und seit unendlichen Zeiten Millionen und Millionen geboren und begraben werden, ohne daß ihr Kommen und Gehen mehr Bedeutung hätte, als Mückenschwärme, die einen Augenblick durch die Sonnenstrahlen schweben, der verliert den Glauben an die Wichtigkeit der Erscheinungen und an die innere Notwendigkeit der ewigen Fortdauer all dieser ganz gleichgültigen ameisenartigen Existenzen, die in individuell kaum unterscheidbaren Wiederholungen immer aufs neue entstehen und vergehen. Wenn einem dann die Erkenntnis aufgeht, daß man selbst auch nur in die Schar der menschlichen Eintagsfliegen gehört, dann sehnt man sich nach denen, die durch Freundschaft und liebevolle Pflege uns zeitweise die Illusion gegeben, als sei man eigentlich doch eine recht wichtige kleine Fliege, deren Wohl und Wehe für ein anderes Wesen die allergrößte Bedeutung hat. Und weil ich das alles heute so sehr empfinde, hier in der Fremde, wo es jedem offenbar ganz gleichgültig ist, wie arme, kleine, vertriebene Königinnen das neue Jahr beginnen – drum habe ich Heimweh nach – sagen wir nach Peking!