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Tuxedo Park, Mai 1900.
Lieber Freund! Nachdem wir in New York gelandet waren, erhielten wir von Mr. Bridgewater die freundliche Aufforderung, ihn hier zu besuchen. Ich war noch so müde und abgespannt von allem in Deutschland Erlebten, daß ich dankbar die Einladung annahm, mich etwas auf dem Lande zu erholen. Landleben, wie ich es von früher in der Erinnerung habe, Stille, Einsamkeit norddeutscher Güter, die meilenweit voneinander entfernt liegen, nur durch Landwege verbunden, die während Herbst- und Frühlingstauwetter eher verkehrshemmend als fördernd wirken – so etwas gibt es hier freilich nicht. Tuxedo Park beweist mir mal wieder, daß Amerikaner wohl Sinn für Exklusivität, aber nicht für Alleinsein haben. Sie brauchen Menschen, Bekannte – allerdings nur sorgfältig ausgewählte, solche, die in jeder Hinsicht sozial wünschenswert sind. In diesem Bedürfnis nach Verkehr, dieser Scheu vor Einsamkeit sind sie Kindern ähnlich. In dem Park von Tuxedo stehen auf bewaldeten Hügeln, die sich um einen See ausdehnen, eine Menge hübscher Landhäuser, Schweizerhäuschen mit geschnitzten Holzbalkonen und hohen Giebeln, massive Steinbauten mit breiten südländischen Veranden, burgartig kleine Kastelle, die altertümlich aussehen möchten. All diese Landsitze sind nahe zusammengedrängt, die einzelnen Gärten gehen ineinander über und bilden alle vereint den einen großen Park. Ausgezeichnet gehaltene Wege verbinden die einzelnen Besitzungen und werden fleißig benutzt von Fahrenden, Reitern und Spaziergängern, lauter Menschen, die sich einer zum andern begeben, in ihrem charakteristischen Bedürfnis nach möglichst viel »social gatherings«. Die meisten der Häuser sind mit einem Luxus und einem praktischen Komfort eingerichtet, wie er auf dem deutschen Durchschnittslandgut ganz unbekannt ist. Zu jedem dieser Reichtumsheime denken wir Europäer uns unwillkürlich als notwendige Grundlage und Begleitung eine meilenweite Herrschaft hinzu, statt dessen liegen sie aber nur ein paar Minuten voneinander entfernt. Unten am See steht das gemeinschaftliche Klubhaus, mit Einrichtungen für alle Arten von Sport, mit großem Ballsaal und Lesezimmer. Nachmittags trifft sich da die ganze Gesellschaft. Es ist eine Assoziation befreundeter Familien, die hier in den einstmaligen indianischen Jagdgründen eine Kolonie reicher Leute gegründet haben.
Während der Wochentage dominiert das weibliche Element an Zahl, wie in den meisten Landaufenthalten in der Umgegend New Yorks; der Sonnabend-Nachmittagszug bringt dann eine Menge Herren, Villenbesitzer und Gäste, die bis Montag bleiben, um sich von der großen Anstrengung des Gelderwerbs auszuruhen. Ich weiß nie genau, was der Beruf des einzelnen Amerikaners ist, weiß nur, daß sie alle Geld machen. Sie erscheinen mir wie geheimnisvolle Wesen, die eine Zauberformel kennen, durch die sie aus allen Winkeln Gold herauszuziehen vermögen, wie in Indien die Schlangenbeschwörer aus allen Ecken, wo niemand sie vermutet, Kobras hervorlocken.
Den Zauber Amerikas aber bilden die Frauen, die es immer verstehen, ihre eigenen Sorgen beiseitezusetzen und das Liebenswürdigsein als Beruf betreiben; vielleicht wären sie noch reizender, wenn sie es nicht immer so eilig hätten, als seien sie in Angst, irgend etwas zu versäumen.
Hier sind einige sehr nette Frauen, von ansteckender Heiterkeit; und ich weiß nicht, ob es ihr Einfluß oder der volle warme Frühling macht, aber mir ist manchmal, als erwache ich allmählich aus einem seltsamen narkotischen Zustand. So muß den Murmeltierchen zumute sein, wenn sie sich nach dem Winterschlaf dehnen und recken und die kleinen blinzelnden Augen gewahr werden, daß die schöne Welt immer noch da ist. Dann ruft so ein erwachendes Murmeltierchen sicher auch: Guten Morgen, lieber Freund!