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Berlin, Mai 1900.
Und ich habe es im Sonnenschein wiedergesehen!
Ganz früh fuhr ich vom Friedrichstraßen-Bahnhof ab. Zuerst durch das häßliche Straßengewirr, an hohen Häusern vorbei, in die man von rückwärts hineinschaut, als wolle man heimlich und hinterrücks all ihre Geheimnisse ergründen. Staub, Ruß, eine unabsehbare Menge von Schienensträngen, auf denen Vorortzüge wie um die Wette fahren. An allen Bahnhöfen ein Gewühl von blassen, ruhelosen Großstadtgesichtern, lauter Menschen, die irgendwohin zu irgendwelcher Arbeit eilen müssen. Lauter kleine Räder eines einzigen großen Betriebs. Alles grau, freudlos und schon am frühen Morgen so abgehetzt.
Endlich hinaus aufs flache Land und, einer Überraschung gleich, wahrgenommen, daß es ja eigentlich Frühling ist! Hellgrüne Saatenfelder, Gemüsegärten, kleine Fichtenschonungen. Rehfelde, Strausberg, noch andere, altbekannte Namen. Bald darauf hoher Fichtenhorst, mit Wacholderbüschen als Unterholz; in den Wäldern scheint die Nacht noch in großen bläulichen Nebelfetzen zu hängen; der Rauch der Lokomotive vermischt sich mit ihnen und kriecht zwischen den ersten Reihen hoher rötlicher Stämme bis hinein ins tiefe Waldesdunkel.
Und nun aus dem Wald heraus und rechts der Torfstich, der schon zum Garziner Bezirk gehört. Neben den schwarzen, viereckigen Wasserlachen sind die ausgestochenen Torfstücke in regelmäßigen Pyramiden aufgebaut. Bläulicher Dunst lagert über dem Moor, weiße Birkenstämme schimmern hindurch, hellgrüne, herzförmige Birkenblättchen zittern in der Morgenluft; weiter zurück verschwimmt alles im Frühnebel.
Nun hält der Zug. Ich steige aus. Dies ist die Station, von der aus es in einstündiger Wagenfahrt nach Garzin geht. Ich bleibe unschlüssig auf dem Perron stehen. Ein Gepäckträger führt eine Berliner Familie, die auch ausgestiegen ist, und ich höre ihn sagen: »Hier, über die Bahnbrücke, zur Kleinbahn nach Garzin.«
Kleinbahn nach Garzin? also auch hier ganz Neues. Ich folge der Berliner Familie und dem Gepäckträger, der sich mit einem Fahrrad und etlichen Taschen belastet hat, über die hohe Brücke, unter der wir den Zug, der uns gebracht hat, schon nach Osten weiter rollen sehen, und steige in einen spielartigen kleinen Bahnzug.
»Kein Gepäck, Madamken?« fragt mich der Dienstmann. Ich verneine leise und ziehe den dichten schwarzen Schleier fester um mich, denn ich habe den Mann sicher schon früher gesehen, und mir ist auf einmal so bang geworden, als täte ich ein Unrecht, und könne dabei ertappt werden.
Die Berliner Familie besteht aus Vater und Mutter, beide dick und behäbig, Leute, an denen alles selbstverständlich erscheint, die das Leben sicher ganz einfach und ohne viel Kopfzerbrechen nehmen, die die Sozialdemokraten verabscheuen und für Richter stimmen. Dann ist eine erwachsene Tochter da, eine offenbar höhere Tochter, vielleicht hat sie sogar das Lehrerinnen-Examen gemacht, und eine kleine, kränkliche Tochter mit altem, verbittertem Kindergesicht. Außerdem ein Vetter, ein junger Mann, auf dessen blassem, pickeligem Gesicht die keimenden blonden Barthaare sich wie spärliche Halme auf magerem Boden ausnehmen. Er ist im Radelkostüm, wodurch dünne Beine und lange platte Füße besonders aufdringlich hervortreten. Sein graues Flanellhemd ist vorn mit roter seidener Kordel zugeschnürt. Er trägt einen weichen weißen Filzhut mit einem Stutzen und auf die Nase ist ein Zwicker geklemmt. Alle fünf sprechen sie ganz laut über ihre Angelegenheiten, als seien sie allein auf der Welt, und ich entnehme, daß sie wegen Rikes Gesundheit auf ein paar Tage nach Garzin fahren, und daß ihnen das Hohenzollern-Hotel am Stadtsee von Freunden, die den letzten Sommer dort verbrachten, sehr gerühmt worden ist. Mein altes Garzin Luftkurort! Und ein Hohenzollern-Hotel!
In zwanzig Minuten fährt die Kleinbahn durch Kiefernwald, tiefen Sand und einen niedrigen feuchten Wiesengrund, der früher einmal ein See gewesen sein muß, bis zum Eingang des Städtchens Garzin. Dort steigen wir aus. Die Berliner Familie, geführt vom Gepäckträger, schreitet eifrig auf der Hauptstraße dem Stadtsee zu.
Ich folge langsam. Das Straßenpflaster ist ganz so holprig geblieben wie es von jeher war. Große und kleine Feldsteine, rundliche, eckige, spitzige nebeneinander in den Boden gedrückt. Die kleinen einstöckigen Häuschen erkenne ich wieder, an den Haustüren hochstämmige Rosen, deren Zweige sich jetzt mit jungen braunen Blättchen bedeckt haben. Eines der ersten Häuser trägt noch immer das Aushängeschild, auf das ein Sarg gemalt ist, und daneben steht noch die kleine Gastwirtschaft, über deren Tor zu lesen ist: »Der alte Brauch wird nicht gebrochen, hier können Familien Kaffee kochen.« Aber neben dem Altbekannten wieviel Fremdes! Eine ganze Reihe neuer Häuser, echte Vorortsvillen, anspruchsvoll und geschmacklos. Und wahrhaftig, ein richtiges Hotel, durch Gitter von der Straße getrennt, inmitten eines Gartens voll junger kümmerlicher Pflanzen. Dahinter erblicke ich den blauen Stadtsee. Ich erinnere mich seiner als einer stillen Fläche, schilfumwachsen, eine Heimat wilder Enten und Taucher. Jetzt fahren ein paar bunte Gondeln darauf, und am jenseitigen Ufer steht ein großes kastenartiges Gebäude, auf dem in goldenen Lettern die Aufschrift funkelt »Sanatorium«.
Erschrocken bin ich weiter geeilt und zum Marktplatz gekommen. Da ist alles noch ziemlich unverändert. Das Geschäft der Witwe Wronkow, deren bunte Kattune, Knöpfe, Parfümfläschchen uns als Kinder manchen Groschen entlockt haben; der Eckladen von Rückheim, wo die Honoratioren des Städtchens sich abends zu einem Glase Bier zusammenfanden; das Pastorhaus mit seinen zwei alten Linden zu beiden Seiten der Türe. Damals spielten immer Pastorkinder von allen Altersstufen unter diesen Linden, und hierin wenigstens ist es heute ganz wie einst: eine ganze Reihe kleiner Pastorkinder buddeln im Sande unter den Linden, und vom Fenster aus beaufsichtigt sie die heutige Frau Pastorin und hält das allerjüngste im Arm.
Auf dem Marktplatz steht das kleine Siegesmonument vom Kriege 70, ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen, auf einem Steinsockel sitzend. Dahinter führen Stufen zur Kirche hinauf.
Ich habe da plötzlich eine große Sehnsucht empfunden, in diese Kirche einzutreten, wo ich oft so viel schöne Vorsätze gefaßt und zum lieben Gott gebetet habe, er möge mir große heroische Aufgaben stellen, was dann doch nicht hinderte, daß ich gleich nachher über die kleinen täglichen Pflichten stolperte. Ich wollte so gern den Altar wiedersehen, mit seinen gewundenen Säulen und den dicken, geschnitzten, zopfigen Engeln, die Erntekränze und die schwarzen Gedächtsnistafeln, auf denen die Namen der Gefallenen von 64, 66 und 70 stehen.
Aber die Kirche war geschlossen, wie das von einer protestantischen Kirche recht und vorschriftsmäßig ist, denn der Protestantismus erzieht ruhige, pünktliche Menschen; plötzliche Sehnsuchten und Gefühlsaufwallungen liebt er nicht. Zum lieben Gott soll man wie zum Rechtsanwalt und Doktor gehen, in der ordnungsmäßigen Sprechstunde, die im Kreisblättchen angezeigt wird.
Die Garziner Kirche hat einen neuen Turm bekommen, und die alten Birken scheinen mir noch gewachsen zu sein; ihre dünnen, fadenartigen Zweige klopfen ganz leise im Winde gegen die hohen Kirchenfenster, die in der Sonne glänzen. Der kleine Gottesacker, in dessen Mitte die Kirche steht, und der längst nicht mehr benutzt wird, sieht genau wie früher aus, eine Wildnis von altem Efeu und Gräsern, die die grauen, verwitterten Grabsteine überwuchern. Ich suchte nach einer alten Gedenktafel, über die ich schon als junges Mädchen oft nachgesonnen habe, und richtig, sie ist noch da, mit ihrem seltsamen, eingemeißelten Spruch, den Schnee und Regen und flechtenartiges silbriges Moos noch mehr verwischt haben:
»Hier ruht der Wüsterdorf Johann.
Er war ein müder Wandersmann,
Gekettet schwer in Sündenbann,
Oh Herrgott, richt mit Mild den Mann,
Denn niemals er den Wunsch ersann,
Des Lebens Fahrt zu treten an.«
Damals kamen mir diese Worte so geheimnisvoll vor, daß ich lange Romane über die Missetaten des Wüsterdorf Johann ersann; jetzt dünkt mich, sie passen als Grabschrift für jeden unter uns.
Ich habe lange da oben zwischen den alten Gräbern gestanden. Schaute den Vögeln zu, wie sie so eifrig Halme und Moos in den Schnäbeln anschleppen, da sie durch Generationen lange Erfahrung gelernt haben, daß sich im Schutz der Kirche gut Nester bauen läßt.
Dann ging ich dem Garziner Schloß zu.
Da lag es nun vor mir.
Ganz unverändert, wie damals vor all den Jahren. Nur noch etwas verlassener; ungehegt und ungepflegt aussehend. Ich blieb stehen. Tränen traten mir in die Augen. Aus meiner tiefen Einsamkeit heraus möchte ich dem alten Haus, wie einem Menschen, sagen: »Hab' mich lieb! Hab' mich lieb!« Und ich meine, es müsse mir antworten: »Endlich, endlich, bist du heimgekehrt.«
Der große grüne Rasenplatz mit den vier runden Fliederbüschen, die voll lila Blütendolden sitzen – die alte Sonnenuhr – die Rampe, die zum Schlosse führt – und das Schloß selbst, ein großes, zweistöckiges Haus, dessen ganz einfach glatte Fassade zu Schinkels Zeiten mit griechischen Ornamenten verziert worden ist, die in der märkischen Umgebung noch immer etwas über sich selbst Erstauntes haben – alles ganz wie damals! Zu beiden Seiten des Hauses stehen noch die alten Linden, deren Zweige auf dem Boden schleifen, und die eine Wand ist noch mit dem uralten Efeu bedeckt, in dem zahllose Spatzen zwitschern.
Ja, das war einst Heimat!
Ich stehe und schaue. Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen zu einem einzigen, unendlichen Wehmutsgefühl, das die ganze Welt zu erfüllen scheint.
»Wollen Sie nicht auch das Schloß besehen?« fragt mich da plötzlich der junge Mann im Radelkostüm, und ich gewahre die ganze Berliner Familie, die von einem jungen Bauernmädchen geführt wird, das Schlüssel trägt.
»Wird es denn gezeigt?« frage ich.
»Na und ob,« antwortete der Sportjüngling. »Für'n Trinkgeld an das Inspektormädchen können wir uns auch mal so'n Heim von die notleidenden Ajrarier besehen.«
Ich bin so erstaunt, Garzin als eine Sehenswürdigkeit für Touristen wiederzufinden, daß ich folge, ohne nachzudenken. Aber wie ich nun in den alten Räumen stehe, inmitten der fremden Menschen und selbst ganz so fremd bin wie sie, da fühle ich, daß ich nicht hätte kommen sollen. Als würden liebe Tote unsanft berührt, so ist mir bei den schnoddrigen Bemerkungen der Berliner. Ich möchte um keinen Preis erkannt werden und begreife doch gar nicht, wie es denn möglich ist, daß ich so unbeachtet dastehe, daß nicht sogar die leblosen Dinge mir zunicken und zuflüstern: »Sei gegrüßt, sei uns gegrüßt!«
Aus der leeren, weiten Halle treten wir in das Wohnzimmer. Wie unbewohnt, kalt und kahl nach dem Sonnenschein draußen. Ein paar der alten, recht schäbig gewordenen Möbel stehen da und sehen aus, als schämten sie sich, wie arme Kranke, deren Gebrechen von neugierigen Medizinstudenten betrachtet werden. Den abgenutzten, gestreiften Teppich erkenne ich, sogar ein gestopftes Loch, dessen ich mich entsinne, finde ich wieder.
»Du Karl,« sagt die dicke Berlinerin zu ihrem Mann und befühlt einen Sesselbezug, »da is et ja nobler bei uns in die Köpenicker Straße.«
Und der dicke Karl antwortet: »Ja, wahrhaftig, in diese feudale Jejend könnte man noch Mitleid mit die Ostelbier bekommen.«
Nur der große gelbe Saal imponiert der Berlinerin. Sie deutet auf die vielen weißen Gipsköpfe aus der Schinkelschen Epoche: »Du Karl, das sind wohl die Ahnen von die Besitzer?«
»Jotte doch, Mama,« antwortet die höhere Tochter zurechtweisend, »das sind doch allens jriechische Jötter und Jöttinnen.«
Wir treten in ein anderes, ganz leeres Zimmer.
»Det war det Schlafzimmer von die jnädigen Komtessen«, sagt das führende Bauernmädchen.
Ja, man hat es ihr richtig erzählt, det war det Schlafzimmer von die jnädigen Komtessen. Ich sehe noch die kleinen weißen Bettchen – jetzt ist es ganz ausgeräumt. Auf der verschossenen roten Tapete bezeichnen kräftiger gefärbte Stellen die Plätze, an denen einst Bilder hingen. An der einen Wand hängt noch ein vereinzeltes altes Gemälde. Es stellt einen Heiligen dar; ganz unbekleidet, wie durch langes Fasten abgemagert und verhärmt, sitzt er inmitten einer Felsenlandschaft und hält einen Bogen Papier, auf den er eifrig schreibt.
»Der olle Herr dort oben schreibt wohl an Wertheim um ein Hemd«, sagt der Sportjüngling. Und zwischen Tränen muß ich doch lachen, denn genau dieselbe Bemerkung haben wir damals gemacht, als der Heilige die Zielscheibe unseres jugendlichen Witzes war, nur daß es zu jenen Zeiten noch keinen Wertheim gab und wir Hertzog sagten.
Beim Fortgehen bin ich einen Augenblick an der einen Tür stehengeblieben. Ja, wahrhaftig, da waren sie noch, ganz verblaßt, die Striche, die der Onkel machte, wenn er unser Maß nahm und unser jährliches Wachstum an dieser Tür verzeichnete. – Wo sind die kleinen Mädchen hin, die da vor dem Onkel standen und denen er zurief: »Kinder, nicht auf den Zehen stehen! nicht mogeln!« – Sie hatten es so eilig mit dem Wachsen – nun sind sie längst aus der alten Heimat hinausgewachsen.
Vergangenheit, Vergangenheit!
Ich bin dann noch lange im Park gewesen, wo jetzt Butterbrotpapiere und leere Flaschen von Berliner Touristen unter die Büsche geworfen werden, wo das Unkraut in den Wegen und Beeten wächst, wo das Schilf immer mehr den Schloßteich überwuchert und wo es trotz aller Verwahrlosung doch noch immer so frühlingsschön ist – wie einst im Mai!
Mit dem letzten Zuge bin ich erst zurückgefahren. Ich blieb so lange als möglich, denn ich fühlte, daß ich das alles nie wiedersehen werde. Es war schon spät, als ich auf dem Bahnhof Friedrichstraße ausstieg. Ich ging zu Fuß bis zum Buckingham-Hotel. Viel Häßliches, viel Elend streift man auf solch kurzem Abendweg. Ich drückte das Gesicht in den großen Strauß Garziner Flieder, den ich mir mitgenommen, und es war mir, als hörte ich leise, durch all den rasselnden, rollenden Straßenlärm hindurch, die alten Worte, die unser aller Grabspruch sein könnten:
O Herrgott, richt mit Mild den Mann,
Denn niemals er den Wunsch ersann,
Des Lebens Fahrt zu treten an!