Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XXIII

Auf herrlicher Fahrt glitt der »Washington«, so hieß der Dampfer, der uns von Neuyork über Havanna nach Veracruz führte, drei Tage durch die Bläue des Golfstroms. In Sicht der Halbinsel Florida wandelte ich mit Big, die sich ermuntert hatte, auf dem Verdeck, und bis in die tiefe Nacht verspürten wir keine Müdigkeit. So über alle Beschreibung schön waren die Bilder des südlichen Meeres. Wie ein schwarzes Bahrtuch lagen die Wasser. Der Mond stieg und goß sein sanftes Licht wie aus einer Schale über die See. Unter dem Himmelsdom, der mit einer glänzenderen und reicheren Sternenwelt als in der Heimat besteckt war, erfunkelten phosphoreszierend die Wellen; zauberisches Meerleuchten ging über die Fluten, und um ihren Kreis wob sich der wundervolle Orangestreif, der See und Himmel schied. Ein Schiff mit vollen weißen Segeln zog heran – vorbei. Weich und warm wehte die Luft. Ich flüsterte Big zu: »Es gibt noch andere schöne Dinge als bloß die Luftschifferei!« Ein Seufzer glitt über ihre Lippen: »Vergessen wollen wir die Abrede mit Sommerfeld doch nicht!«

Einen Tag später erblickten wir die Bergspitzen Kubas; in Havanna trennte sich Fritzchen, der kleine schwärmerische Freund, von Big. Endlich lag das ersehnte Ziel der Meerfahrt, der Hafen von Veracruz, vor uns. Die aufgehende Sonne überströmte den Schneegipfel des Pik von Orizaba und den Krater des Cofre de Perote mit ihrer Purpurglut, und im fernen Horizont blauten traumhaft die Kordilleren.

Eine angenehme Überraschung! Don Garcia Leo Quifort hatte uns einen jungen Mann aus der Verwandtschaft Bigs, Don Joaquin Ribeira, mit einem Diener entgegengesandt, damit diese uns nach der Hauptstadt des Landes geleiteten. Wozu die unvergeßlichen Eindrücke der tropischen Landschaften, die wir durchreisten, die Ankunft im Hochland und die Stadt Mexiko schildern?

Der Notar und Advokat Don Garcia Leo Quifort, der an dem Zocalo, dem Hauptplatz der Stadt, wohnte, empfing uns mit der liebenswürdigen Ritterlichkeit der Vornehmen seines Volkes. Der alte, doch rüstige Herr, kam Big mit offenen Armen entgegen, umschlang sie, neigte sein malerisches Zeushaupt auf ihre Stirn, küßte sie und umarmte sie wieder. »Mein Sonnenkind,« sprach er, »Sie haben sich so herrlich ausgewachsen, wie ich es damals dachte, als ich die Neunjährige auf den Armen tragen durfte! Es ist mir die größte Freude, daß ich Sie noch einmal sehen darf, das Glück meines Alters!« Wieder eine Umarmung! Da Big sah, daß mich der zärtliche Empfang, den ihr der alte Herr mit theatralischem Überschwang bereitete, nicht kränkte, fügte sie sich mit anmutiger Schelmerei in seine Freudenbezeigungen. Als sich Don Quifort zu mir wandte, lobte er die Wahl, die Abigail getroffen hatte, und sprach mit mir wortreich und in den blumigen Bildern des Südländers von den hohen Vorzügen meines Weibes, das ihn schon als Kind entzückt hätte.

Die halb väterliche, halb galante Schwäche, die der edle Don Quifort mit dem Recht seines würdevollen Alters für Big an den Tag legte, gab uns oft heimlich zu lachen; im übrigen aber war der Notar ein ausgezeichneter Mann, der sein Bestes tat, uns den Aufenthalt angenehm zu bereiten. Wochen vergingen uns wie ein andauernder Sonntag. Das eine Mal galt es, ein Stiergefecht oder ein Theaterstück anzusehen, das andere Mal, die Einladungen zu den Verwandten Bigs zu erledigen, welche uns nach Landessitte vornehme Gastfreundschaft erwiesen, uns mit Pferden beschenkten, aus denen wir reiten lernten, die aber von dem nicht sprachen, was uns eigentlich ins Land geführt hatte. Das hatte wohl seinen Grund darin, daß alle wegen der alten Erbschaft miteinander in stillem Hader lagen. Endlich erfuhr ich so viel, daß sich die Silbermine, um die sich der Streit drehte, zu Marfil in der Nähe der Bergwerksstadt Guanajuato am Abhang der Kordilleren befand. Auf die Grube, die zu einem Sechzehntel Big gehörte, hatte eine kapitalkräftige Minengesellschaft ein großes Angebot gesetzt, und gerade die einsichtigsten unter den vielen mexikanischen Teilbesitzern waren der Ansicht, daß der Verkauf des von einem Pächter schlecht verwalteten Werkes das einzig Vorteilhafte sei. Das Mißtrauen der Verwandten untereinander aber lähmte ein entschiedenes Vorgehen. Des unfreiwilligen Müßiggangs wurde mir nach und nach zu viel; ich entschloß mich, das Besitztum aus eigener Anschauung kennen zu lernen, und ritt mit Big, die nicht allein bei Don Quifort zurückbleiben wollte, von zwei Dienern begleitet, in die Minengegend. In ein paar Tagen erreichten wir das malerisch über einer Schlucht aufgebaute Guanajuato und die in einer reizenden Berglandschaft gelegenen Gruben von Marfil, unter denen die unsere als eine der ergiebigsten galt.

Empfehlungen von Don Quifort gestatteten uns den Zutritt zu der Mine, die mir die Erinnerung an das Bergwerk von Selmatt erweckte. An einem Bilde der heiligen Jungfrau vorbei geleitete uns der braune, mit einer Fackel ausgerüstete Führer auf großen, breiten Steinplatten in die weit gesprengten Gänge, deren Stille manchmal von huschendem Leben, dem schlürfenden Schritt gnomenhafter Gestalten unterbrochen wurde. Tiefer, immer tiefer führte uns die Wanderung in das wohl seit vielen hundert Jahren im Betrieb stehende Werk hinab; beklemmend feucht und warm umgab uns die mit schlechten Gasen gesättigte Luft. »Steigen wir eigentlich zur Hölle?« fragte Big mehr angstvoll als scherzhaft. Da, nachdem wir über eine Stunde gegangen waren, erreichten wir die Arbeitsstätte im grauenvollen Schlund. Vom schwachen, unheimlichen Licht einiger Fackeln überleuchtet, trieben zahlreiche völlig nackte Gestalten, an die hundert indianische Bergleute, ihre spitzigen Eisen in das Muttergestein. Ein Leben wie in der Gehenna! Als wir das Bild erst recht zu betrachten begonnen hatten, erscholl das Zeichen zum Rückzug. Eine Sprengung kam. Ein Lichtblitz, ein betäubender Schlag! Die Arbeitsstelle lag mit schimmernden Erzstücken wie übersät. Ein Aufseher leitete die Wägung und Schätzung des Gesteins und die Lastträger traten herzu, welche das Erz durch die schauerlichen Gänge, die wir niedergeschritten waren, nach den Amalgamwäschen vor dem Eingang des Bergwerkes zu tragen hatten. Die Lastträger aber, deren schlürfenden Schritt wir auf unserem Weg gehört hatten, waren Kinder – indianische Knaben und Mädchen von sieben Jahren an, die einen mit verkrümmtem, die anderen mit verschwärtem Rücken. Unter der Aufsicht einiger Greise beluden sie sich mit dem in Säcke gefüllten Gestein, setzten sich, ein Zug stummen hohläugigen Elends, in Bewegung und verschwanden im Dunkel der Gänge.

Big stöhnte vor dem herzzerreißenden Bild der jugendlichen Märtyrer weh auf. Ich mußte die Halbohnmächtige stützen. »Auf diesem Weg kommt das Vermögen zu stande, aus dem ich bis dahin so leichtsinnig gelebt habe,« schrie sie leise. »Das Blut mißhandelter, unbeschreiblich unglücklicher Kinder klebt daran!«

»Das war aber immer so,« erklärte uns der Führer, der die schmerzvolle Entrüstung meiner Frau nicht begriff.

»Es wird aber anders werden, sobald die Mine unter die Leitung einer Gesellschaft gelangt, die über die gegenwärtigen Hilfsmittel des Bergwerksbetriebes verfügt,« versetzte ich, selber erschüttert. »Maschinen werden die Kraft der mißbrauchten Kinder ersetzen!« Da trafen mich die Augen Bigs, als seien ihr die Worte schon Erlösung, mit wahrhaft bewunderndem Blick. »Jost,« bat sie mit bebender Stimme, »dann biete deine ganze Kraft auf, daß die Mine verkauft wird. Ich will auch Don Quifort bereden. Die traurigen Kindergestalten verfolgen mich, bis es geschehen ist, Tag und Nacht!«

Unser Leben hatte plötzlich einen hohen Zweck. Ich schrieb Kapitän Sommerfeld, daß meine Heimkehr zum Frühling nicht wahrscheinlich sei, und erhielt von ihm eine bedauernde, aber verständnisvolle Antwort. Als sie kam, war ich schon mitten in rastloser Tätigkeit, den Verkaufsvertrag zwischen den hadernden Mexikanern und der »Valencia«, wie die Bergwerkskompanie hieß, zu regeln. Die Mexikaner, die mich nur den »Kaufmann aus Hamburg« nannten, setzten unter der Führung Don Quiforts ein größeres Vertrauen in mich als in die nächsten einheimischen Vettern und Verwandten, die Gesellschaft aber war glücklich, den Mann gefunden zu haben, an dessen Wort sie sich halten konnte, und im Mai lag der Vertrag da. Big jubelte: »Und die Maschinen, die an die Stelle der armen Kinder treten sollen, stehen auch darin?« »Nein, Big,« mußte ich ihre Freude dämpfen, »das habe ich nicht durchsetzen können! Aber ich hoffe, daß es mir später gelinge, dem Mißbrauch der indianischen Jugend ein Ende zu setzen. Wir lassen unsere Luftschifferpläne fahren, es ist mir die Vertretung deiner Verwandtschaft und eine schöne kaufmännische Stellung in der Grubengesellschaft angeboten.«

Die Tränen traten Big in die Augen: »O, ich liebe Mexiko nicht! Ich weiß jetzt, was Heimweh ist und sehne mich nach Europa. Ich habe mich schon so sehr auf die Rückkehr gefreut!« Sie rang einige Tage stumm nach einem Entschluß. Dann sagte sie mit einer stillen Freudigkeit: »Doch, Jost! Wir bleiben da. Ich weiß, daß dich eine angesehene Stellung gerade wie die angebotene am meisten beglückt. Wahrscheinlich kannst du darin das Los der mißhandelten Indianerkinder mildern, und dann, Jost – schenkt uns das Schicksal wohl selber ein Kind!« Ich blickte in unendlich gläubig emporleuchtende Augen und dankte Big für das feine Verständnis, das sie meinen tiefsten Wünschen entgegenbrachte.

Es wurde mir Herzenssache, die Stellung zu erhalten. Sie wetzte die Scharte aus, die ich meinem Leben durch den Bruch mit Hans Konrad Balmer geschlagen hatte; sie gab mir wieder einen sicheren Boden und befreite mich von der schamvollen Notwendigkeit, vom Vermögen meines Weibes zu zehren, das mir allerdings seinen ganzen schönen Besitz mit der Freudigkeit eines Kindes geschenkt hätte. Ehrgeizige Träume verbanden mich mit der Minengesellschaft, die mir ihr Vertrauen zu erkennen gab. Da, auf der Höhe des Erfolges, trat mir ein junger, anspruchsvoller Mexikaner, jener Don Ribeira, der uns in Veracruz abgeholt hatte, feindlich entgegen und bewarb sich selber um die Stellung. Unter dem größeren Teil der Verwandtschaft Bigs erhob sich die Losung: »Warum der Fremde? Warum nicht das Blut von unserem Blut?« Ich erhitzte mich über dem stets schärfer werdenden Wettbewerb, und der freie, schöne Posten in Marfil erschien mir noch begehrenswerter.

»Es gibt eine einfache Lösung in diesem Zwist mit Don Ribeira,« erklärte mir Don Garcia Leo Quifort, der mir schon wegen seiner väterlich zärtlichen Verehrung für Big mit dem Rat seiner großen Erfahrung zur Seite stand. »Werden Sie mexikanischer Staatsbürger! Legen Sie den Namen Wildi ab, der nicht gut in mexikanische Ohren klingt und Sie immer als Fremden verraten würde. Ich biete Ihnen den meinen an, der, wenn er auch französischen Ursprungs sein mag, doch einem der angesehensten Geschlechter des Landes gehört.« Er wandte sich auch an Big: »Eine Freude vor meinem Tod, Sonnenkind, wenn Sie meinen edeln Namen führen wollten.« Sie versetzte raschhin: »Wildi und Quifort sind in der tieferen Bedeutung fast dasselbe, und,« lachte sie mir fröhlich zu, »unter vier Augen bleibst du stets mein lieber Jost – mein Jost Wildi! Nenne dich also Quifort und du hast die Stelle.«

Die Angelegenheit, die Big, das Weltkind, leicht nahm, legte mich schlaflos und drückte mich beinahe zu Boden. Ich lechzte nach der Stellung, aber die Heimat aufgeben, Mexikaner werden! Nun ja, was war mir das arme Bergtal drüben über dem Meer, das erschlagene Dach, das meinen Jugendtag behütet hatte? Um Duglores willen, die des Friedens bedurfte, mußte ich es ja bis ans Ende meiner Tage meiden. Und mein Bergland? Ich grub die Reste jenes harten, unglückseligen Briefes, den Befehl der Heimkehr, wieder hervor, den mir Landammann und Rat nach Hamburg geschickt hatten, und erstickte die weichen Stimmen, mit denen die alte Heimat in meiner Brust flehte: »Verrate mich nicht!« Ich steigerte mich künstlich in einen abgründigen Groll und Trotz und dachte mit böser Genugtuung daran, wie Landammann und Rat in Gauenburg sich kränken würden, wenn nun derjenige, dem sie unrecht getan hatten, das Heimatrecht von sich schleuderte. Das Gewissen aber schlug mich bei diesem Gedanken wie mit Ruten.

Den ehrlichen, angestammten Vaternamen verlieren! Das war das Schwerste! Zu schwer für mich. Ich hatte den Namen »Jost Wildi«, der mich an das sagenhafte Volk meiner Vorfahren erinnerte, stets mit Liebe und Stolz getragen. Wie bewegt mein Leben gewesen sein mochte, es klebte kein Ehrenmakel an ihm. Ich spürte, wie der Name ein Teil meiner selber war, wie ich nicht mehr der gleiche Mensch wäre, wenn ich ihm entsagte. Und kein Besserer! Ewig müßte ich mich vor dem Andenken meines Vaters und meiner Vorfahren schämen. Mir war, der Vater müßte sich im fernen Grab regen, und am Feuerstein führen die Geister der Wildleute empor: »Unsegen und Schmach auf den Entarteten!« –

Da besuchte mich der Vorsitzende der Minengesellschaft, Don Moreno, ein mexikanisierter Belgier. »Sie sind unser Mann,« ließ er seine Überredungskünste gegen meine freimütigen Bedenken spielen. »Es liegt uns daran, Ihre hervorragende Kraft zu gewinnen; vornehmlich aber wollen wir durch die prächtige Stellung, die wir Ihnen anbieten, verhüten, daß ein Stück altes, faules Mexiko in unsere Gesellschaft eindringt. Wir kennen die Sippe! Gewähren Sie ihr die Einräumungen, die ihrem übertriebenen Nationalstolz schmeicheln. Sie sind hier in der Neuen Welt! Da geht vieles leicht, was in der Alten schwer geht. Was ist eine Staatsangehörigkeit, ein Name? Sie kennen wohl das Sprichwort der praktischen Römer: ›Wo es dir gut geht, ist dein Vaterland!‹ Dafür, daß es Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin in unserer schönen Minenlandschaft gefällt, wollen wir sorgen. Es gibt ein Einleben und Wurzelschlagen, Herr Wildi! Ich stelle mich Ihnen als Zeuge vor. Ich tat, was Sie jetzt tun sollten. Sehe ich aus wie einer, der bereut? Der Name? Er ist Schale, der Mann ist Kern! Bedecken Sie den Namen Quifort mit einer glücklichen Tätigkeit, mit einem raschen Vorwärtskommen, und er wird Ihnen bald lieb sein!«

»Gedenken Sie, die Kinderarbeit in der Grube, die ehemals uns gehörte, abzuschaffen?« fragte Big, die unserer Verhandlung beiwohnte.

Don Moreno verneigte sich. »Gnädige Frau,« lächelte er, »es wird eine der ersten schönen Pflichten Ihres Herrn Gemahls sein, mit uns die Mittel zu beraten, durch die der ebenso altväterische wie grausame Kinderbetrieb in technisch geeigneter Weise zu ersetzen ist.«

Big sah mich mit einer großen, stummen Bitte an.

Das war der Augenblick, in dem ich schwankte, in dem ich fiel. In tiefer Beschämung gestehe ich es: Ich willigte ein, für die Stellung Heimat und Name zu lassen. Verwirrt durch das süße Flehen der blauen Augen, beging ich die große Torheit. Wie Don Moreno gegangen war, kam die Reue. Es war zu spät! Dem starken Jost Wildi aber, der im Begriffe stand, seinen Namen zu verlieren, drängten sich die Tränen in die Augen, und gegen den abgrundtiefen Schmerz, den ich empfand, waren die liebkosenden Worte Bigs und der Gedanke, ich könne vielleicht etwas Menschenfreundliches für die armen Indianerkinder tun, ein kleiner Trost. Ich wußte nur, daß ich mit meiner Zusage gehandelt hatte wie Esau, da er Jakob sein Erstgeburtsrecht um ein Linsengericht dahingegeben hatte, daß ich etwas verlor, was für den Menschen so köstlich wie der Boden ist, auf dem er geht, und das Licht, in dem er atmet.

Ehe ich recht zur Besinnung kam, erhielt ich auf mein Versprechen hin den Posten in Marfil, und Don Garcia Leo Quifort, der sich mit der Eitelkeit des verliebten Alters freute, daß nun Big seinen Namen tragen würde, besorgte ohne mein Dazutun die mexikanischen Papiere.

Es war aber einer der schrecklichsten Tage meines Lebens, als mich nach einiger Zeit ein amtliches Schreiben aus Gauenburg erreichte, ich sei nach Form und Rechten aus dem Verband des Volkes meiner Heimat entlassen. Da stand noch einmal der Name »Jost Wildi«. In den Ungewittern, die durch meine Seele gingen, erschien ich mir wie der Verworfene, der die Hand ins Mutterangesicht geschlagen hat, und in wallenden Stößen spürte ich, daß, wer der Heimat weh tun will, am stärksten das eigene Herz züchtigt. Nun war ich der Fremde in der Welt; ich wußte aber schon, daß einmal der Tag kommen würde, wo ich am Saum der Heimaterde knieen und beten würde: »Vergib dem ungetreuen Sohn!« –

Tag und Jahr, Jahr und Tag, die Stunde kam.

Als uns eine Woge des Schicksals wieder in die Alte Welt warf und scheinbar begrabene Pläne zur Frucht reiften, behielt ich aus guten Gründen den mexikanischen Namen bei. Ich würde aber niemand raten, meinem Beispiel zu folgen. Es ist eine stete Lebenszerrissenheit, wenn man Jost Wildi ist und Leo Quifort heißt.


Silvesternacht – neues Jahr! Als die Glocken, die ich nicht hören konnte, durch die Mitternacht der Tiefe gingen, beleuchtete ich das Observatorium mit bengalischen Flammen und ließ vom Gipfel Raketen in das Schweigen der Sterne steigen, drei zum Abschied dem alten, drei zum Gruß dem neuen Jahr. Die Zeichen sind bemerkt worden. Da und dort hob sich aus den Dörfern unter dem Feuerstein zur Erwiderung ein Licht in die Nacht und brachte mir, dem einsamen Wetterwart, die guten Wünsche der Menschen. Am stärksten habe ich mich an den Feuern in der Talspalte von Selmatt gefreut. Meine Gedanken waren ganz bei euch, mein Hans und meine Gottlobe. Möge das Jahr euch an das Ziel eurer Liebe führen! Mit pochendem Herzen erwäge ich die Frage, lieber Hans, ob wir uns morgen die Hände drücken dürfen? – –


Abgeschlagen! – Kurz nach neun Uhr schon sah ich Hans mit mehreren Männern gegen den Bösen Tritt heransteigen und vor den jäheren Felsen des Gipfels rasten. Ein gegenseitiges Winken, der Versuch aber, uns durch Rufe verständlich zu machen, scheiterte an der großen Entfernung. Ich sah noch, wie die Männer Seile, Stangen und Leitern für den Kampf mit den Wächten, den überhängenden Schneeflügeln, rüsteten. Zeuge jedoch ihres heldenmütigen Ringens konnte ich nicht sein, da die Felsen unter dem Gipfel zu abschüssig sind. Unter Martern der Spannung verbrachte ich die Stunden. Kein Lebenszeichen! Da hielt es mich nicht mehr. Ich versuchte den Männern mit meinem Hinkebein talwärts entgegenzusteigen. – –

Nein, ich mag den Tag mit seinem Hangen und Bangen gar nicht schildern. Um drei Uhr kamen die Männer wieder am Bösen Tritt zum Vorschein; in ihrem Gang lag die Entmutigung. Sie winkten, sie rasteten und traten den Heimweg an. Hans, der am Morgen der Truppe vorangestiegen war, schritt nun hinter den anderen her. Von Zeit zu Zeit stand er still und schaute nach dem Feuerstein. Ich beobachtete den müden Zug bis in die Dämmerung. Als ich ihn nicht mehr sah, war mir furchtbar traurig und öde zu Mut.

Ja, Hans, wir hätten miteinander sprechen sollen, du mit mir und ich mit dir, und ein Wort von Gottlobe hätte mir das Gemüt erhoben.

Was nun? Dich trotz der großen Enttäuschung in Geduld fassen, Wetterwart, den traurigen Neujahrstag verwinden und schreiben – schreiben!


Meine Heimatuntreue brachte mir und Big kein Glück. Der mexikanische Traum dauerte nur so lange, als ich brauchte, um mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, ich sei nun Leo Quifort, der jüngere. Wenn ich mich jemand unter diesem Namen vorstellte, würgte es mich im Halse und bei mir selber dachte ich schamvoll: Wie lügst du, Jost Wildi! Allmählich aber gewöhnte sich das Ohr an den neuen Ruf, und als ich mich mit der Veränderung meiner Heimatangehörigkeit und meines Namens an der Oberfläche der schmerzlich bewegten Seele etwas abgefunden hatte, gewann ich den Aufenthalt in Marfil sehr lieb. Mein Posten bot mir eine angenehme kaufmännische Betätigung, und wir wohnten sehr hübsch. Unsere kleine Villa blickte zwischen den schmucken Landhäusern anderer Bergwerkbeamten hervor von schwellender Anhöhe in das malerische, von einem hellen Fluß durchströmte Tal. Um uns lagen trotz des frischen Bergklimas schöne Gärten, und die Tage und Nächte wanderten wie einst in Selmatt über hohe, schroffe Gipfel, die sich am Morgen und Abend mit Alpenrosenglut umkränzten und Schneeleuchten ins blühende Tal ergossen.

Es kamen Augenblicke, Stunden, Tage, an denen ich mir sagte, daß ich meine Stellung nicht zu teuer bezahlt hätte, befreit aufatmete und mit dem Herzen glaubte, daß uns ein ruhiges Einleben in die Verhältnisse der Bergwerkgegend beschieden sei. In einer dieser Glücksaufwallungen widerstand ich der Lust nicht, Hans Konrad Balmer durch einen Brief vom Umschwung der Dinge Kenntnis zu geben und ihm zu erzählen, wie sich der ehemalige Jost Wildi nach den Wirren von Hamburg nun doch, wenn auch mit dem schweren Opfer innerer Güter, auf einen schönen Lebensposten emporgerungen habe. Eine überraschend liebenswürdige Antwort kam. Er sei gewiß, schrieb Balmer, daß ich mir in den neuen Umständen eine reiche, schöne Welt zu schaffen vermöge; über die Opfer sollte ich mich trösten, denn jeder, der vorwärts kommen wolle, zahle den Erfolg mit Herzblut. Der Brief, in dem eine »höfliche Empfehlung an die Frau Gemahlin« nicht fehlte, schloß eine heimliche Wunde und war mir etwas wie eine Bürgschaft, daß unser Leben in Marfil Wurzeln schlage.

Warum nicht? Selbst Big versöhnte sich mit dem Gedanken, daß ihr Stammland nun unsere Heimat sei. Sie versenkte sich in die merkwürdige Geschichte der Entdeckung und Eroberung Mexikos, in die bis zur Gegenwart bewegten Schicksale des Landes und gewann umsomehr Teilnahme dafür, als wir auf ein paar gelegentlichen Reisen manches von den überraschenden Denkmälern und Ruinenstädten sahen, die von der hohen Kultur der erschlagenen Urvölker Kunde geben. »Mein Vater ließ mich darüber ganz in Unwissenheit; nun aber glaube ich selber, daß ich unser Land liebenlerne!« versetzte sie. »Ein Hauch der Poesie und Kunst weht ja doch darüber hin.«

Leider waren die guten Stunden, in denen Big ein wärmeres Gefallen an Mexiko fand, nicht häufig. Obgleich sie wegen ihres Geistes, ihrer Bildung und ihrer Weltkenntnis der Liebling der vornehmen Gesellschaft von Marfil war, verletzte sie manchmal den empfindlichen Stolz der mexikanischen Herren und Damen durch Vergleiche des Landes mit Italien, die stets zu Ungunsten der neuen Heimat ausfielen. Daraus spürte ich, wie ihr geheimes Sehnen doch nach Europa stand. Und manchmal war sie eine ernste, sehr ernste Big. »Sei doch wieder das übermütige, frische, freifrohe Weltkind, mit dem ich von Hamburg in die Vierlande hinausgeschwärmt bin,« bat ich. Sie erwiderte mit einem süßen »Jost«, und wenn ich müde von den Geschäften unser reizendes Heim betrat, eilte sie mir mit dem jubelnden Ruf »Jost Wildi! – Jost Wildi!« entgegen, damit ich mich am alten, trauten Namen erfreue. Auf ihren Wangen aber lagen die Spuren heimlicher Tränen.

Meinem Weib fehlte ein Kind! Ich selber hatte den Herzenswunsch, daß das Spiel eines Knaben oder Mädchens uns enger mit der mexikanischen Erde verbinde, aber so traurig wie Big konnte ich über die unerfüllte Hoffnung nicht sein. Ihr Schmerz war tief und stumm; nur einmal bebte es in zitternder Begierde von ihren Lippen: »Wie beneide ich jenes Bettelweib – es hat ein Kind!«

Wenige Wochen später, nahe der zweiten Weihnacht, die wir in Mexiko verlebten, ereignete sich in einer der Minen unserer Gesellschaft ein schwerer Unglücksfall. Ein Irländer, der eine untergeordnete Ingenieurstelle bekleidete, wurde das Opfer eines zu früh losgegangenen Schusses. »Er hinterläßt niemand als ein zweijähriges Kind,« hörte ich die Arbeitsleute sagen. »Die arme Kleine! Sie hat kürzlich auch ihre Mutter verloren!« Ich suchte das Kind mit der Absicht auf, es in die Fürsorge Bigs zu bringen, getraute mich aber kaum. Das arme Wurm war häßlich, fast nur Haut und Gebein und nicht sehr gesund. Mit den Worten: »Da ist ein Weihnachtsgeschenk für dich!« überreichte ich Big zaghaft das gebrechliche Geschöpf. Sie verzog bei seinem Anblick den Mund; bald siegte aber das weibliche Erbarmen, und als die blöden Augen des Kindes sich vor einem kleinen Weihnachtsbaum doch mit schimmernder Freude füllten, da hatte es die Liebe Bigs gewonnen. Maud, so hieß das Geschöpfchen, erfuhr die Pflege eines eigenen Kindes, aber gedeihen und aufblühen wollte sie nicht, und ihre einzige Hübschheit war ein stummer, dankbarer Blick für erwiesene Güte. Im folgenden Herbst begann sie zu kränkeln. »Lebensschwäche!« versetzte der Arzt schulterzuckend. Nun sammelten sich alle Gedanken Bigs darin, die Kleine, die sich nicht entwickeln konnte, dem Tode zu entreißen. Ihre Hingabe war zäh und rührend; als es aber wieder Weihnacht wurde, lag Maud neben dem Weihnachtsbäumchen in einem kleinen Sarg.

Der an sich unbedeutende Sterbefall, der sich hatte voraussehen lassen, erschütterte Big mit einer unheimlichen und mir unverständlichen Wucht. »Ich hoffe doch, Maud findet bald eine Nachfolgerin in einem uns eigenen und lieblicheren Kind,« ermunterte ich das blaß vor sich hinstarrende Weib. Da fuhr sie mit schmerzverzerrtem Antlitz empor: »Wo denkst du hin, Jost?« stöhnte sie. »Ich ein eigenes Kind, wenn selbst die fremden, die ich berühre, verderben! Ich weiß es, jedes Kind, das mir lieb wird, muß sterben!« Die krampfhaft emporgerichtete Gestalt war das Bild trostlosen Entsetzens.

»Du bist selber krank, Ärmste, wie kämst du sonst auf so schreckliche Gedanken,« versetzte ich. Unter meinen Liebkosungen löste sich ihr starrer Schmerz in weiche Tränen auf. »Ja, Jost, ich bin sehr krank,« schluchzte sie und hielt meine Hand in der zuckenden ihrigen. Ins Herz erschreckt, berief ich einen hervorragenden Arzt. Nachdem er Big einige Wochen beobachtet hatte, war sein einziger Schluß: »Wenn Ihnen Ihr Weib lieb ist, kehren Sie mit ihr nach Europa zurück. Ihre Gemütserschütterung wird hier nicht besser!«

Ein Blitzschlag aus heiterem Himmel, eine Zertrümmerung meiner weit ausgreifenden Pläne! Ich rang. Hatte ich mein Heimatbürgerrecht, meinen Namen bloß darum an die mexikanischen Ansprüche dahingegeben, daß ich das Land, in dem ich mir eine eigene Welt schaffen wollte, so bald wieder an das weite Ungewiß tauschte? Hatte ich das kleine Wurm zu Big gebracht, damit es mir das mühsam erkämpfte bißchen Frieden entreiße? Zwei Umstände zwar versöhnten mich ein wenig mit der Heimtücke des Schicksals: halbseitig gelähmt lag der Mann, der mir um Bigs willen großmütig seinen Namen geliehen und meine Bestrebungen stets geschützt hatte, in der Auflösung begriffen, und manche Verwandten Bigs, die vorher mit mir gute Freundschaft gehalten hatten, zogen sich unter der Anschuldigung von mir zurück, ich hätte ihre Vorteile bei der Betreibung des Minenverkaufs nicht genug gewahrt und mir nur die schöne Stellung erobern wollen.

Schon nach wenigen Tagen war kein Zögern mehr. Ich traf Big, vor der Goethes Gedichte lagen, in einer grenzenlosen Erregung; den Finger auf ein Blatt gelegt, starrte sie und erschrak mit einem Schrei, als sie sich von mir überrascht sah. »Was grübelst du denn, arme Big?« forschte ich. Sie blickte unendlich verwirrt und hilflos; sie bat: »Jost, laß mich ein wenig allein!« Als sie aber meinen Blick auf sich ruhen fühlte, hauchte sie stammelnd, doch verständlich: »Alle Schuld rächt sich auf Erden!«

Ich blickte sie nur in banger Frage an; ein alter schwerer Verdacht aus dem Krankenhaus in Hamburg stieg in mir empor. Da geriet sie über meine forschenden Augen vollends aus der Fassung. Jäh stöhnte sie empor: »Jost, denke an die armen gemarterten Kinder im Bergwerk! Warum hat mein Vater sein Land lassen und wie Ahasver durch die Länder irren müssen? Warum bin ich ein unfruchtbares Weib? Ist das nicht der Fluch der mißhandelten indianischen Jugend, aus deren Qual wir lebten. Ergründen lassen sich ja die Zusammenhänge des Schicksals nicht. Mir aber dämmert doch die Erkenntnis! Die Direktoren sagen, die Not der Kinder sei gelindert worden. Wer weiß, ob es wahr ist? Eure Maschinen sollen in drei Jahren kommen. Wahrscheinlich sind sie in fünf noch nicht da!«

Ihre Sprache hatte einen leidenschaftlichen und hinreißenden Klang; ihre Gestalt erbebte in zuckenden Wallungen, und in ihren Augen sprühte das Blitzfeuer.

Im stillen bat ich mein edles Weib um Verzeihung wegen meines häßlichen Verdachtes.

»Big, wünschest du mit mir nach Europa zurückzukehren?« fragte ich ergriffen.

Sie horchte überrascht empor, über ihr bleiches, vergeistigtes Antlitz begann ein traumsüßes Lächeln zu spielen. »Ja, Jost!« hauchte sie herztief und neigte ihr Haupt auf meine Schulter. »Sommerfeld hat mir geschrieben«, fuhr ich fort, »daß er die letzte Tournee als Luftschiffer antritt. Wollen wir seine Schüler werden?« »Ja, Jost!« stammelte sie, von meinen Worten wie von Märchentönen berauscht. »Ich war nie so selig wie mit dir im Luftschiff!« »Und bist du dann wieder meine fröhliche Big wie in den Hamburger Tagen?« »Ich will vergessen, daß es auf Erden so Schweres wie die indianischen kleinen Minensklaven gibt,« flüsterte sie, »und nur daran denken, wie unendlich gütig du zu mir bist, mein Jost! Ich weiß es wohl, du wärest lieber in Marfil geblieben – doch will ich in Europa wieder dein fröhliches Weib sein! Ich schulde es dir!« Ihre Augen strahlten mir wie zwei Sonnen entgegen.

Ein herzaufwühlender Entschluß! Ich besaß aber auf der Welt niemand als Big und hatte mein Weib über alles lieb.

Es war Anfang April, als wir die Minenlandschaft von Guanajuato verließen und uns nach Europa einschifften, ich in heißerem Weh, als Big ahnen durfte. Die Aufgabe der Stellung in Marfil war der endgültige Bruch mit dem bürgerlichen Leben, das ich im Grunde am liebsten geführt hätte. Aus zornigem Humor über den Zusammenbruch der Lebenspläne, die ich in Marfil gefaßt hatte, aus etwas Neigung und aus innigster Liebe zu meinem Weibe wandte ich mich der Luftschifferei zu.

Mein lieber Hans! Es hat nie einen Luftschiffer Jost Wildi gegeben, aber einen Luftschiffer Leo Quifort. Horche hinaus in die Welt! Obgleich sie schnell vergißt, leben in weiten Ländern und vielen Städten der Leute noch genug, die sich an den klangvollen Namen erinnern. Sie werden dir sagen: »Er war der vorsichtigsten und kühnsten Fahrer einer. Er besaß ein wunderschönes Weib. Die beiden waren ein vornehmes Artistenpaar, auf das nicht der Schatten eines Makels fiel. Es fehlte nicht an Frauen, die den stolzen Kapitän Leo Quifort heimlich mit verführerisch heißen Blicken umwarben, und nicht an Männern, die für ein kleines vertrauliches Lächeln Big Quiforts ihre Ehre hingegeben hätten. Der Kapitän übersah die heißen Blicke der Frauen mit einem weltgewandten Scherzwort, und ein einziger hochmütiger Blitz aus den Augen Big Quiforts ließ die Männer in einer Niederschmetterung davongehen, daß sie sich ihr nicht wieder zu nahen getrauten. Nie hat sich ein Mann oder ein Weib zwischen das Paar zu drängen vermocht, das in enger Treue zusammenhielt. Eines Sommers aber zog der mexikanische Luftschiffer doch allein durch die Welt. Es liefen darüber allerlei Gerüchte. Der Kapitän selber widerlegte keins der vielen Märchen, die das Verschwinden Big Quiforts und sein weiteres Leben begleiteten, und wurde immer mehr Philosoph.«

So, mein Hans, wirst du ungefähr hören, wenn du in den großen Städten nach Leo Quifort fragst. Warum ich als Aeronaut nicht auf meinen lieben, alten Namen Jost Wildi zurückgriff, warum ich bei Leo Quifort, dem unterlegten Namen, blieb, den ich nie recht habe leiden mögen? Ich schämte mich vor dem Gedanken, die alte Heimat könnte je erfahren, daß ich, der Sohn des ehrbaren Bauers und Tafelhändlers Klaus Wildi von Selmatt, in den Stand der Abenteurer und des zigeunernden Künstlervolkes eingetreten sei. Meiner Big aber habe ich damit eine Lebenswohltat erwiesen.

Im Luftschiff läßt sich vieles vergessen, und das freie Leben eines Wandervogelpaares löste den dunkeln Bann, der ihre Seele in Marfil umkrallt hatte. Sie hielt ihr Versprechen; sie wurde wieder mein fröhliches Weib, ein heiteres Kind der Welt, das nie unter den Menschen erschien, ohne ihr Wohlgefallen, ihre Bewunderung, ihre Teilnahme zu erregen. Ein fröhliches Weib? Ich überlege träumerisch, ob ich die Wahrheit niederschreibe. –

Leis rauschen die Zypressen am Meer.


Ich weiß nun sicher, daß der Fremde, den ich ein paarmal ins Tal von Selmatt schreiten und in das Haus Hangsteiners treten sah, der Arzt aus Zweibrücken war, und ahnte es schon vorgestern morgen, daß Hangsteiner, der seit einiger Zeit kränkelte, gestorben ist. Dunkle Gestalten machten Besuch im Haus. Gestern abend war jeder Zweifel gehoben. Neben dem schlichten Kirchlein, das sich an der Stelle des ehemaligen stattlichen Gotteshauses von Selmatt erhebt, schaufelten und sprengten zwei Männer ein Grab in den Schnee und in den Grund der Erde.

Der Gefühlssturm, der sich meiner bei dem winterlichen Bilde bemächtigte, war so groß, daß ich meine Lebensblätter ruhen ließ. In Schauern überfiel mich der Gedanke an die Hinfälligkeit der menschlichen Natur; eilends ordnete ich manches, was nach meinem eigenen Tod nicht im unklaren liegen darf, siegelte die Briefe, die über mein Vermögen Auskunft geben, und vernichtete, was nur Zeugnis der menschlichen Schwächen und Leidenschaften ablegt, eine Reihe Bilder und Briefe von Frauen, die weder Duglore noch Abigail hießen.

Obwohl wir keine Freunde waren, hätte ich Hangsteiner ein längeres Leben gegönnt. Das Grab versöhnt den Groll, der uns trennte. Ich habe heute seiner Bestattung beigewohnt. Als die Stunde da war, schritt ich im dunkeln Feiergewand auf den Gipfel, und als im Tal das Häuflein schwarz gekleideter Menschen, die Selmatter und etwas Zuzug von Zweibrücken, den Verstorbenen begleiteten, zog ich den Hut und ließ mir die Wintersonne aufs Haupt scheinen. Im Geiste folgte ich der Abdankungsrede des Zweibrückner Geistlichen, der den gelegentlichen Dienst im kleinen Gotteshaus versieht und hielt dem toten Widersacher stummen Nachruf. Er hatte vor demjenigen des Pfarrers den Vorzug, daß darin der einzigen sonnenhaften Tat, die den verknorrten und verzwängten Lebenslauf des Selmatter Hofbauern schmückte, herzlich gedacht worden ist. Die Tat der Rettung Duglores aus höchster Not wurde in der Heimat nie bekannt. Das Paar warf einen Schleier über die schweren Tage von Hamburg, und als das Kind zur Welt kam, lebte das junge Ehepaar mutterseelenallein in der großen Abgeschiedenheit der Bergsturzstätte von Selmatt. Wer kümmerte sich um seine Liebesgeheimnisse? Hangsteiner ließ das Weib, das er sich so schwer erkämpft hatte, vor dem Volk der Heimat nicht in Schande kommen. Nachdem Duglore ihre Mutterstunde überstanden hatte, ging er nach Zweibrücken auf die Kanzlei der Gemeinde und sprach: »Ich hätte ein Kind in das Geburts- und Bürgerbuch zu melden. Sein Vater bin ich, Melchi Hangsteiner von Selmatt, seine Mutter ist Duglore Hangsteiner, geborene Imobersteg!«

»Sein Vater bin ich, Melchi Hangsteiner!« Das war eine grobe Täuschung an Recht und Gesetz. Die jeder Verstellung unfähige Duglore hat ihren Mann nicht dazu angestiftet; in ihrer großen Not und Sorge hat sie aber stillschweigend geschehen lassen, daß er sein in Hamburg begonnenes Liebeswerk in Zweibrücken vollendete. Das Wort »Sein Vater bin ich« umgab ihr Leben wieder mit der Luft der Ehrbarkeit, ohne die sie erstickt wäre; es schenkte ihr den Frieden und die Ruhe des Gemüts. Die Todwunde genas, und dem Himmel für die Erlösung aus dem Abgrund, in den ich sie gestürzt hatte, dankbar, nannte sie das Kind Gottlobe.

Ich kann mit Duglore und Hangsteiner nicht rechten. Ohne den aufopfernden Entschluß des Bäuerleins im Selmatter Tal hätte sie wohl den Tod in der Elbe gesucht, ehe ich, von meinem Schiffsdienst zurückgekehrt, das verderbliche Netz eines Weibes hätte zerreißen können, das im Liebeswahnsinn wie eine Verbrecherin handelte. Darum erscheint mir die Tat Hangsteiners wie eine Schicksalsbarmherzigkeit nicht nur an Duglore, sondern an mir selbst, und größer als die Liebe, die ich Big erwies, indem ich sie aus Mexiko in die Alte Welt zurückführte.

Hangsteiner erzog Gottlobe in allem und jedem wie sein eigenes Kind, und niemand hat je daran gezweifelt, daß sie seine Älteste sei. Wenn man ihr nur amtliche Papiere unter die Augen halten kann, ist die Welt blind, läßt sie sich das Stärkste gefallen. Sie nahm es als selbstverständlich, daß ich, Leo Quifort, Mexikaner sei. Nun, als Abkömmling der Wildleute, konnte ich wohl für einen Südländer gehalten werden. Wie aber konnten die Menschen Gottlobe für das Kind Hangsteiners nehmen? Ist denn je eine Rosenknospe aus hagebuchenem Stamme aufgegangen? Ein Blick auf die nachgeborenen Kinder Duglores, und die Besucher des Selmatter Tals hätten vor dem heißen Augenpaar Gottlobes stutzen müssen. Keiner stutzte, nur Hans, als er mich im letzten Herbst auf dem Feuerstein besuchte. Das hat mir den jungen Mann noch besonders lieb werden lassen.

Melchi Hangsteiner! Ich werfe dir keinen Stein ins Grab nach. Daß du mich haßtest, begriff ich stets. Du hast aber bis zur Unbegreiflichkeit edelmütig an Duglore gehandelt; du warst Gottlobe ein getreuer Vater, und weil du doch nur ein im Tal von Selmatt verknorrtes Bäuerlein gewesen bist, will ich es dir verzeihen, daß du, vielleicht bestochen von etwas Vermögen, mein Kind in die Arme des Viehhändlers von Zweibrücken hast drängen wollen. Die Scholle an der Seite deines Weibes Duglore sei dir leicht, und das ewige Licht leuchte dir!

So hielt ich auf dem Gipfel in starker Bewegung Gespräch mit mir selbst und die Grabrede auf den Verstorbenen. Als ich sah, daß sich das Häuslein Leidtragender von dem schneebedeckten Gottesackerchen im tiefen Grund verlor, stieg ich ins Observatorium zurück, und erst jetzt wagte ich zu überlegen, welche Folgen der Tod Hangsteiners für Gottlobe, für Hans und für mich haben wird.

Ich kann mir nicht helfen, mit dem Tod Hangsteiners ist doch ein Sonnenstrahl reiner Freude in meine große Wintereinsamkeit gefallen. Mein Paar darf seine junge Liebe hinaus in den Lenz tragen, und ich bin von dem schweren Versprechen, das ich in die Hand Duglores gelegt habe, entbunden. Ich darf reden, ich darf schreiben, das Geheimnis, das über dem Haus Hangsteiners schwebte, lösen und einmal die Blätter meines Lebens, meine Beichte, unbedenklich in deine Hände legen, Hans! So will ich mit starkem, friedlichem Herzen dunkeln Stunden, erschütternden Tagen in meiner Rückschau entgegengehen.


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