Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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VIII

Dank-, Buß- und Bettag also in Selmatt! Dunkelgekleidetes Volk hatte in erschütterndem Ernst das Gotteshaus bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf dem Taufstein standen zu sechs die blank erschimmernden, zinnernen Abendmahlkrüge und die alten, silbereingelegten Holzkelche, davor lag auf Zinntellern das heilige Brot, neben dem Taufstein aber, halb in den Kirchenboden eingegraben, ragte wie eine unheimliche Drohung fremd und sonderbar der vom Tafelberg gestürzte Block, der wegen seiner Größe nicht hatte fortgeschafft werden können, und eine notdürftig geflickte Stelle der Decke verriet, wo er durchgebrochen war. Der bäuerliche Pfarrer hatte seine wuchtige Predigt bereits vollendet, die Gemeinde sich schon zum heiligen Abendmahl erhoben, und durch die Kirche scholl, vom Orgelspiel Kaspars, des Schulmeisters, getragen, das inbrünstige, trostvolle Gemeindelied:

»Befiehl du deine Wege,
Und was dein Herze kränkt.
Der allertreusten Wege
Des, der den Himmel lenkt.«

Während des Gesanges kreisten die Abendmahlkelche, die von den Kirchenvorstehern herumgeboten wurden. Den Gesang unterbrechend, nahm, wer just an der Reihe war, dreimal einen ehrbaren Schluck. Ich glaube, daß ich gerade einen der Becher hielt, als durch die Kirchentür ein Weib stürzte, das ein Kindlein erwartete und deswegen den Gottesdienst nicht hatte besuchen können. Überlaut schrie sie: »Ihr Männer und Frauen, es raucht und stäubt hoch hinter dem Tafelberg. Steine und Blöcke fallen!« Der Gesang brach ab; mit zerstörten Gesichtern, doch in feierlicher Ordnung drängte die Gemeinde unter den segnenden Worten des Pfarrers ins Freie, die Frauen, von denen viele nach ihren Kindern riefen, schluchzten und schrieen. Aber heller, klarer Sonnenschein lag über den Gräbern des Kirchhofs und auf den schon herbstlich erfalbenden Blättern des alten Ahorns auf dem Dorfplatz. Unter dem blauen Himmel stand das Gebirge bis zum rötlichen Gipfel des Feuersteins rein und scharf. Keine sichtbare Gefahr!

Doch! Die Wände des Tafelbergs hinunter rollte Geschiebe, stürzten größere Blöcke, ein paarmal erhob sich ein Geräusch wie Gewehrgeknatter, dumpfes Dröhnen mengte sich darein, und wenn es am Tafelberg still wurde, rauschte der Nachhall an der Halde hinter der Kirche, als ginge das Sausen eines Sturms durch den Bergforst. Eine Gruppe von Männern stand auf dem Dorfplatz. »In den Wald hinter der Kirche,« rief eine Stimme, und schon sah man einzelne die steile Wiese hinaufrennen, die zum Rand der Tannen führte. Da wieder ein größerer Gesteinssturz und ein Donnerschlag, doch war noch kein einziger Stein über die Selach ins Dorf geflogen.

Aus dem Bergwald aber hoben sich schreiend die Krähen; eine dunkle Vogelwolke wälzte sich, als wäre Sturm in den Lüften, über dem Dorf, bald hoch im Blauen, bald tief über den Dächern, schwirrte von Talwand zu Talwand und wagte es nicht, sich irgendwo niederzusetzen. Urplötzlich war die gesamte Kreatur in Aufruhr; die Hunde heulten zum Himmel, das wenige im Dorf zurückgebliebene Vieh plärrte in langgezogenen Klagetönen, eine Ziege, die irgendwo hatte loskommen können, drängte zitternd zwischen uns Männer. »Seht, seht,« rief mein Vater, »die Kühe rennen von der Alpe Boden ins Dorf herunter, sie purzeln vor Schrecken übereinander!« Und die Angst der Tierwelt schlich sich den Männern rieselnd in Mark und Bein.

»Duglore – Duglore!« kam es in herzzerreißendem Schreien vom schmerzverzerrten Munde Schulmeister Kaspars. »Ich gehe zu Duglore,« rief ich jäh entschlossen; der Vater aber herrschte mich an: »Jost, du bleibst bei mir, nein, springe in den Wald hinauf, Jost!« Er selber lief, wohl um noch Geldeswert zu holen, ins Haus; händeringend taumelte auch Schulmeister Kaspar davon. »Duglore – Duglore,« hörte ich noch seine Stimme. Mir war, ich sollte zu ihr auf die Alpe Boden eilen, zugleich aber, ich sollte auf den Vater warten, und ich sollte den Flüchtlingen folgen, die über die Grashalde gegen den Wald emporrannten, alle noch in dunkler Kirchentracht. Da sich aber die drei verschiedenen Regungen kreuzten, blieb ich unbewußt und mutterseelenallein auf dem Platze zwischen Vaterhaus und Ahornbaum stehen. Ich merkte, wie das Getöse vom Tafelberg her wuchs; noch bei klarer Luft sah ich, wie er wankte. Wie eine mächtige, in sich zusammenbrechende Wand kam er, erst langsam, dann schneller gegen das Dorf. »Der Berg – der Berg!« scholl der Entsetzensruf der Flüchtlinge von der Grashalde, ein einziger mächtiger Schrei. Auf der Kirche von Selmatt schlug es elf Uhr, doch hörte ich nur noch sechs Schläge. Unter der Türe rief der Vater: »Jost – Jost,« dann war mir, es wolle mich irgend etwas zerreißen. Ich fiel; im Fallen aber sah ich noch, wie graue Rauch- oder Staubwolken hinter dem stürzenden Berg emporwallten, wie ein wilder Luftwirbel den mächtigen Stamm des Ahorns brach und drehte. Der Baum fiel mit der mächtigen Krone auf mich. Ich spürte, daß mich Äste und Zweige wie Ruten schlugen, wie ein erstickender Staub durch sie dahersprühte, wie irgend etwas, wohl zunächst unser Hausdach auf die Krone des Baumes prasselte und nun kam Schlag auf Schlag, Stoß auf Stoß.

So viele Wahrnehmungen – und alles war das Werk eines einzigen Augenblicks!

Ich glaube nicht, daß ich bei Bewußtsein geblieben war; ich erinnere mich nur, daß ich auf einmal den Gedanken hatte, es sei sehr still um mich her, daß mich das Gesicht von den Zweigen schmerzte, die mich beim Fallen des Baums gestreift hatten, daß ich mit der Hand vor mich hintastete und in weiche Blätter griff. Dann unterbrach ein Seufzen und Stöhnen die Stille. »Vater – Vater!« schrie ich. »Jost, armer Bub, hast du Schmerzen?« fragte er keuchend. Aus dem Klang der Stimme merkte ich, daß er nicht fern war. »Nein,« erwiderte ich, »aber du?« »Ein Ast oder Balken drückt mir das Herz ab, ich kann nichts regen als die Beine. Ich glaube, wir sind alle im Unglück, das Dorf mit Menschen und Vieh. Und wenn du auch mit dem Leben davonkommen solltest, Jost, so kann ich dir nicht mehr helfen. Geh am Ende doch zu Hans Konrad Balmer. Ich muß sterben. Ach, mein Gott, ach, mein Gott!« Das stoßweise, keuchende Sprechen des Vaters ging allmählich in ein röchelndes Beten über. Ich suchte tastend und einige Schritte kriechend durch den Raum, den die Baumkrone offen gelassen hatte, zu ihm zu gelangen; durch Äste und Laub erreichte ich wenigstens seine Hand. Er hielt die meine, er sprach aber nicht mehr; nach einer Weile ließ der zum letztenmal Aufseufzende die Hand los. Es wurde gräßlich still um mich. »Vater – Vater!« schrie ich. Kein Zeichen mehr. Er war gestorben!

Ein merkwürdiger Laut, den ich zuerst gar nicht zu deuten wußte, drang in die Stille, Ein Gurgeln! Das kam entsetzlich näher. Ich erriet, der gestürzte Berg schwellte die Wasser der Selach. Ertrinken! ertrinken! Ich ließ den Toten, tastete, bald die Hände, bald den Kopf anstoßend, in den Ästen des Baumes umher und entdeckte eine Stelle, an der ich mich aufrichten konnte. Ich griff weiter in die Höhe, ich stieg und kletterte einen Ast empor, stieß aber bald an etwas Festes, an den Balken und an die Schindeln eines Daches, und fand mich endlich in einer von dicken Ästen des Baums gebildeten Gabel wie in einer Höhle nicht übel zurecht. Die Arme um die Äste geschlungen, saß ich; dann und wann erschreckte mich der geheimnisvolle Laut der steigenden Wasser, die meine Schuhspitzen erreichten, Todesfurcht rieselte mir ins Herz; über mir regte sich das Erdreich seufzend, als ob es dem Druck nachgeben und den engen Raum, das Grab ausfüllen sollte, in dem ich lebte. Allmählich verlor sich dieses Geräusch, das Wasser stieg nicht mehr; es war so still, daß ich das Ticken meiner Uhr in der Tasche hörte. Ich suchte ein Zündhölzchen, um nach der Stunde zu sehen, ich fand keins; ich wußte nicht, war seit dem Sturz viel Zeit vergangen oder wenig, schien auf der oberirdischen Welt noch die Sonne, oder war schon die Nacht mit ihren Sternen eingebrochen.

Bei dieser Vorstellung bäumte sich der jugendliche Lebenswille krampfhaft auf. »Licht! – Licht! – Licht!« Ich schrie es in die dumpfe, von kaltem Wasserduft geschwängerte Grube, aber es gab kein Licht als die roten, die blauen, die grünen und gelben Ringe, mit der meine Phantasie die Finsternis erfüllte. Ich verfiel in einen Weinkrampf und wußte nicht, galten die Tränen meiner eigenen Hoffnungslosigkeit, dem Tod meines Vaters oder Duglore, die wohl auch irgendwo unter den Felsen erschlagen lag, dem schrecklichen Untergang der Heimat! Hätte ich nur wie der Vater nach kurzem Leidenskampf auch hingehen können! Was stand mir bevor? Ich begann alle Gebete und Kirchenlieder herzusagen, die ich auswendig wußte; ich dachte an alle, die mir in meiner Jugend lieb gewesen waren, innig und herzlich an Duglore. Als aber die Kette dieser Gedanken abgewandelt war, tastete ich nach den Blättern des Ahornbaums, der mich so verhängnisvoll geschirmt hatte, zerknüllte sie zwischen den Fingern, zerkaute sie, und die Bitterkeit auf der Zunge erfrischte mich. Nach einiger Zeit fiel ich in ein Träumen und Brüten; an den einen der beiden Äste geschmiegt, schlummerte ich eine Weile dahin. So glaube ich wenigstens; denn vieles, was ich in den qualvollen Stunden erlebte, ist mir nur stückweise im Gedächtnis geblieben, zittert nur noch wie ein Traum und nur, wenn die Stunde der Erinnerung günstig ist, in meiner Seele nach.

Als ich erwachte, hielt ich die Uhr ans Ohr. Sie ging nicht mehr! Es war also der andere Tag. Ich zog sie wieder auf, damit mich ihr Ticken dann und wann ans Leben erinnere, und da mich mein unbequemer Sitz unerträglich zu schmerzen begann, forschte ich, den Fuß ausstreckend, nach dem Stand des Wassers. Die Selach mußte wieder einen Abzug gefunden haben, es war fort. Ich hatte Hunger und brennenden Durst, ich letzte die Zunge an den feuchten Blättern, und als ich die Taschen nach ein paar Brosamen durchwühlte, fiel mir mein Messer in die Hände. Ohne bestimmte Ursache war mir der Fund eine Freude. Um die steifen Glieder zu recken, um gegen ein fröstelndes Gefühl und den Schwarm dunkler Verzweiflungsgedanken anzukämpfen, schnitt ich mit dem Messer Zweige von den Ästen und zerschnitzelte sie im Finstern in kleine Stücke. So wohl viele Stunden. Auch die Knöpfe meines Kirchenfracks wurden das Opfer dieses Spiels, ohne das ich vielleicht wahnsinnig geworden wäre. Endlich begann ich mit der Messerklinge die feuchte Erde aufzugraben, denn ungefähr an der Stelle, wo ich war, kreuzte ein mit Steinplatten eingedeckter Wasserabzug die Straße. Der wahnwitzige Gedanke erfüllte mich, dieser Abzug könnte meine Rettung sein. Aber an einem Stein, der sich mir in den Weg stellte, brach die Klinge.

In dumpfem Elend ließ ich den Tränen freien Lauf. Da – ein Geräusch, wie wenn etwas von oben käme, wie von Holz, das durchbrochen wird. Ich hörte das helle Klingen metallener Schläge im Dreiviertelstakt, den ich vom Dreschen her wohl kannte. Das kam doch von Menschen! Ein heißer Schauer der Hoffnung überwallte mich, ich kroch dem bald schweigenden, bald wieder ansetzenden Ton nach, die tastende Hand ergriff etwas Rundes, Eisernes, ein Rohr, dessen Öffnung seitlich über einem spitzen massiven Fuß mündete. Mit zitternden Fingern klopfte ich mit dem Stumpf des Messers heftig auf das Rohr. Da horch! Wieder ein paar metallene Schläge als Antwort. Wie aus Weltferne drang der Ton einer menschlichen Stimme in mein Grab: »Ja – wer seid Ihr!« – »Jost Wildi!« Eine Zwiesprache begann. – »Wer?« – »Jost Wildi!« – »Seid Ihr in der Kirche?« – »Nein, unter dem Ahorn.« – »Seid Ihr allein?« – »Mein Vater liegt tot in der Nähe.« – »Sind in der Kirche wohl noch Leute?« – »Niemand!« – Menschenstimmen! – Wunderbare Musik! »Etliche Stunden Geduld,« flüsterte es. »Wir graben Euch aus. Haltet die Hände unter das Rohr. Wir träufeln Euch Gebranntes zu.« – »Noch einmal!« – Eine Weile lief die Unterhaltung. In meinem Verließ noch erfuhr ich, daß im ganzen nur dreiundzwanzig Selmatter gerettet waren, darunter Duglore, die anderen waren tot oder vermißt, so auch Kaspars übrige Familie. »Nun also Geduld,« rief einer, »wir ziehen das Rohr zurück. Wir wollen es noch an anderen Stellen in den Boden treiben.«

Sie graben mich aus, sie graben mich aus! Das brauste wie ein Lied durch meine Seele; eine Weile waren meine Lebensgeister in frischer Spannung. Mit inniger Dankbarkeit dachte ich an jenen Schmied von Zweibrücken, der das Rohr vor wohl einem halben Jahrhundert geschmiedet und der Gemeinde geschenkt hatte, als sein Bruder in einer Lawine umgekommen war. Vielleicht hatte es nie seinem Zweck gedient, die Nachforschungen nach Verschütteten zu erleichtern, aber jetzt rettete es mich – mich! Und auch Duglore lebt.

O die langsamen, schleppenden Stunden! Furchtbar begann mich der Aufenthalt in meinem Kerker wieder zu beklemmen; ich geriet in Fieberträume, ich sah die Goldkugel des Luftschiffs am Himmel über dem Lichtmeßloch schweben – es flog an eine Felsenwand – daraus stürzte Duglore und blutete wimmernd im Abgrund. – Ich fuhr auf: »Du bist wahnsinnig, Jost; es ist ein Betrug deiner Einbildungskraft, daß Leute von oben mit dir gesprochen haben. Sie graben dich nicht aus. Du bist vergessen – vergessen!« Bedrückend wirbelten Erinnerungen und Einfälle um mich. Da vernahm ich deutlich Pickelschlag und Zischen von Schaufeln über mir. Das Hausdach, das über die Krone des Ahorns gefallen war, fuhr unter den Schlägen der Männer auseinander. Licht! Mehr tot als lebendig kam ich zur Welt und bemerkte erst nach einer Weile, daß es nicht die Sonne, sondern milder Mondschein war, der auf die graublaue Trümmerstätte des Dorfes Selmatt floß. Ich sah selbst die Hände nicht recht, die sich mir entgegenstreckten, die glücklichen Gesichter der Männer nicht, die mich gerettet hatten. Es war mir gleichgültig, daß man die ausgegrabene Leiche meines Vaters vorübertrug. Auf Fragen gab ich keine Antwort; ich kam mir vor wie ein Tor, der nicht wußte, sollte er lachen oder weinen, die anderen Menschen erschienen mir auch wie Toren, und ich begriff ihre Hantierungen nicht.

So groß war die seelische Erschütterung! Ich glaube, unbewußt habe ich Duglore gesucht. Ich fand sie in Zweibrücken, aber ob ich noch in der Nacht oder am hellen dritten Morgen nach dem Bergsturz in dieses Dorf gelangt bin, ob allein oder mit anderen, ist aus meiner Erinnerung getilgt. Erst nach einigen Tagen spürte ich wieder Leid und Freude, doch war mir, als würde ich in meinem Leben nie wieder lachen und in einem steten Erbeben der Schicksalsfurcht durch die Welt gehen.

Neben mir stand im dunkeln Gewand, von Leid und Schmerz blaß und schattenhaft wie eine Halbgestorbene, Duglore. Ihre schmalen Finger hielten meine Hand umklammert, sie hob die trüben Augen, aus denen die Tränen hervorbrachen, zu mir; gebrochen von Trauer, bebte ihre Stimme: »Jost, es sind alle tot, Vater, Mutter, Geschwister. Ich habe in der Welt jetzt niemand mehr als dich, Jost!« –

Zum erstenmal war ich wieder bei gesammelter Besinnung. Die Schluchzende weich umschlingend, sprach ich: »Ja, Glörli, in Liebe und Treue wollen wir jetzt zusammenhalten.«


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