Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XX

Ich habe heute den ganzen Tag an Hans, Gottlobe und Melchi Hangsteiner denken müssen. An diesen besonders! Wir waren von Jugend auf Leute, die sich nicht riechen konnten. Aber, wenn wir uns auch hassen, verachten können wir uns innerlich nicht. Wie stark er im Kreis der Seinen die Schultern über mich zucken mag, er weiß, daß ich nicht aus dem Dutzendholz der Menschen geschnitten bin. Ich meinerseits aber kann Melchi Hangsteiner, wenn er auch von einer Eiche nur ein Zerrbild, nur ein Knorren ist, nicht klein nehmen, weil es mir eine der wunderbarsten Offenbarungen der menschlichen Natur bleibt, wie das filzige Bäuerlein im Selmatter Tal, in raschem Entschluß ein paar Rinder, vielleicht seine halbe Habe opferte, keck in die Welt ging, die er nicht kannte, und ein armes Mädchen erlöste, das sich vom Jugendgeliebten verraten glaubte. Ja, es übersteigt meine Fassungskraft, daß ein Mann liebend das Weib, das die Liebesfrucht eines anderen unter dem Herzen trägt, zum Altar führt. Ich hätte dazu den Mut nicht!

Wenn nun einmal aus einem so harten und verzwängten Herzen wie dem Melchi Hangsteiners diese Wunderblume hat sprießen können, warum nicht die andere, daß er sich jetzt der Liebe Gottlobens erbarmt, den Haß gegen mich und Hans Stünzi bändigt und nach ruhiger Überlegung zu Gottlobe sagt: »Nimm ihn!« –


Als ich das Krankenhaus in Hamburg verließ, neigte sich der Sommer, der so schicksalsschwer über mein Leben gegangen war, in einen milden, sonnigen Herbst. Selbst über der See lag die Luft lau und lind. Es war der Wunsch Bigs, daß ich auf Helgoland, in den spielenden Meerwinden, auf den Wegen und Pfaden, wo wir uns zum ersten Male begegnet waren, ganz genesen und gesund werden sollte.

Wir verlebten die Tage wie Kinder und bewegten uns um so freier, als nur noch wenige Fremde auf der Insel zugegen waren. Wie wenn nie heiße Tränen aus dem reinen Blau ihrer Augen gerollt wären, gab sich Big, die ein entzückend schlichtes Matrosenwollkleid und eine weiße gestrickte Mütze trug, wieder als das liebe, heiter und sorglos lächelnde Weltkind. Wir sonnten uns in dem kurzen, borstigen Gras, das auf dem Oberland um die Hügel alter Heidengräber wächst, schauten in das Spiel der Wellen, die wie emportauchende Pferde mit weißen Mähnen gegen die Klippen stürmten, und der Möwen, die wie blitzende Ampeln im goldenen Sonnenschein an den Felsen auf und nieder schwebten. Genesungsstimmung umfing mich wie Traum. Es war eine stille Kraft in mir, die alles weit von meiner Seele wies, was sie hätte mit schweren Gedanken beladen oder betrüben können, eine Stimme, die mir zuflüsterte: »Du hast genug gelitten. Wirf das Alte hinter dich! Gib dich der schönen Gegenwart hin!« Gläubig lauschte ich ihr, vergaß und vergaß, und wenn doch eine Erinnerung an Duglore in meiner Brust aufseufzen wollte, schaute ich Big in die glückseligen Augen.

Im Grase liegend, tippte sie mit ihren rosigen Fingern schelmisch nach meiner Fingerspitze. »Du – du – du! Jetzt bist du mein!« Eine verwirrende Zärtlichkeit bebte im Klang ihrer Worte. Sie duldete, daß ich ihr die aufgesteckten Flechten löste. »Nun bist du wieder, Big, wie ich dich zuerst sah. Big, mein Märchenkind,« flüsterte ich; sie aber ließ ein bittendes Lächeln um den kleinen, kirschroten Mund spielen. »Ich gehe am liebsten mit dir!« lachte ich herzlich. Ich wußte, daß ich Big keine innigere Freude bereiten konnte, als wenn ich sie damit an unseren Spaziergang durch die Vierlande erinnerte. Was ich damals im Gefühlssturm hingeworfen hatte, war das Paßwort unserer Liebe geworden. Freudig erglühend, erwiderte sie es mit einem weichen Kuß.

Hand in Hand und Wang' an Wange saßen wir stumm und selig auf der Höhe des Eilandes. In der Ferne, hinter der das Festland liegen mußte, schwebte eine Rauchwolke auf dem lichtbeglänzten Meer, wanderte zwischen den erblinkenden Segeln und verlor sich sacht in der Endlosigkeit des westlichen Horizonts.

»Ein Auswandererschiff!« bemerkte ich. Da hingen auch die Augen Bigs an der in der Nachmittagshelle ziehenden schwarzen Wolke. »Unser Weg!« versetzte sie nach einer Weile mit einem ernsten Lächeln. »Ich habe dir schon früher erzählt, Jost, daß mich mein Vermögensverwalter Don Garcia Leo Quifort in Mexiko erwartet. Seither hat er mir wieder eindringlich geschrieben, ich möchte doch kommen, da ihn die Verantwortung und das Alter zu bedrücken beginnen. Du kommst doch mit, um die Last für mich auf dich zu nehmen?« Sie klatschte fröhlich in die Hände.

»Gewiß, Big, wir werden über unsere Zukunft sprechen müssen,« erwiderte ich nachdenklich, »nur eins, ich bin der Mann nicht, der sein Leben aus den Mitteln seines Weibes fristen möchte!«

»O – o – o,« schmollte Big.

»Mein ganzer Lebensgedanke war bis jetzt, aus eigenem etwas zu werden und zu sein,« fuhr ich, unbeirrt von ihrem enttäuschten Blick, fort. »Ob du arm wärst, oder ob du nun reich bist, Big, ich will arbeiten. Es gehört zu meinem Glück!«

Einen Augenblick zürnte sie; dann jauchzte sie: »O du prächtiger Mann!« Sie fiel mir um den Hals und schmollte wieder: »Aber weißt du, daß du mir mit deinen Arbeitsvorsätzen die schönsten Pläne zerstörst?«

»Pläne? Laß hören, Big!« erwiderte ich überrascht. Sie schwieg etwas versonnen, dann begann sie wie in schelmischer Schüchternheit: »Du kennst meine Jugend, Jost, das vornehme Zigeunerleben, das ich geführt und unter dem ich als Kind oft gelitten habe. Nun, seit ich dich liebe, spüre ich doch ein Heimweh nach den früheren Wanderfahrten. Gerade deinetwegen! Mit dir, Lieber, möchte ich, wenn die Fahrt nach Mexiko hinter uns liegt, noch einmal alle die Wege ziehen, die mich mit meinen Eltern von Stadt zu Stadt, von Land zu Land geführt haben. Was mir gleichgültig wäre, ja, was mich abstoßen würde, wenn ich es allein wiedersehen müßte, lockt mich bei dem Gedanken, daß ich es mit dir genießen darf: Neapel, Rom, Venedig und manche schöne, stille Winkel in Italien. Bitte, lieber Jost, versprich mir, daß du mit mir reist. Du kannst ja später arbeiten!«

Ein sehnsüchtiger Glanz lag in ihren Augen; ihr durstig geöffneter Mund begann Gedichte zu sprechen. »Es sind die Lieder Mignons,« sagte sie. »Du errötest, Jost, daß du sie nicht kennst? Wozu? Das ist's ja, was mich von Anfang an so sehr an dich gefesselt hat, daß an dir, dem hochgescheiten Menschen, keine Spur überlieferter Bildung ist und du alles so frisch und echt nimmst. Darum möchte ich mit dir reisen, dich zu allem, was groß, schön und erhaben in der Welt ist, führen, in die Museen, in denen die Kunst der Jahrhunderte steht, und durch die geweihten Landschaften, über welche die Schöpfungen der Dichter ihren Schimmer ausgegossen haben.«

Begeisterung wob um die Gestalt Bigs; die Kraft der Überredung strömte aus ihren Worten.

»Du sprichst vom Reisen,« lenkte ich halb scherz-, halb ernsthaft das Gespräch ab, »doch vom Nächstliegenden nicht. Big. Wann soll denn unsere Hochzeit sein?«

Sie schwieg eine Weile in heiterer Träumerei. »Die Hochzeit?« versetzte sie lächelnd und errötend. »Ich habe dir gesagt, daß ich wie eine Heidin emporgewachsen bin. Am heidnischesten denke ich über die Hochzeitsgebräuche. Warum vor einen Priester, der uns nichts angeht, warum auf den Markt vor die Menschen tragen, was nach dem innersten, von der Natur geheiligten Empfinden eine Stunde und ein Augenblick sein soll, um die nur die Liebenden wissen dürfen? Wollte ich es, nun, da ist die Kirche von Helgoland, in der es am einfachsten geht. Ich möchte dir aber ohne Priester und Gesetz als dein in Freiheit treues Weib folgen. Ich habe ja auf der Welt niemand als dich.« In ihren Zügen lag die Innigkeit und Glut des liebenden Weibes.

»Zigeunerin!« warf ich ein. »Deine Gefühle in Ehren; aber vielleicht gibt es praktische Lebensgründe, die uns veranlassen sollten, uns nach Recht und Gesetz trauen zu lassen.«

Sie horchte etwas überrascht auf. »Wohl,« erwiderte sie, »dann trete ich mit dir vor den Altar. Drüben vielleicht in Mexiko! Aber nun rate, wie ich mir unsere Hochzeit hier gedacht habe?«

Ein süßes Lachen spielte um ihren Mund. »Wie?« fragte ich spannungsvoll.

»Wie keine Königin je Hochzeit gehalten hat,« versetzte sie und hob ihre Augen freudig in die meinen. »Jost, ich möchte meine Mädchenzeit mit der großen Ballonfahrt schließen, die wir in Hamburg planten, deren Ausführung aber durchkreuzt worden ist. Ja, Jost?«

»Du hast mein Wort von Hamburg her,« erwiderte ich, »wenn du mir aber in deine Angelegenheiten zu sprechen gestattest – bist du nicht eine Verschwenderin, Big?«

»Laß mich's einen Tag sein!« lachte sie. »Freust du dich nicht auf die Fahrt?«

»Doch,« versetzte ich. »Nichts Schöneres als eine Fahrt mit dir. Big, im blauen Meer der Luft.«

»Fühlst du dich stark genug dazu?« fragte sie unendlich lieb. »Gesund und stark!« antwortete ich aus vollem Herzen.

In der Abendsonne, die in den westlichen Meerfernen versprühte und ihre lodernden Feuer über die Wogen warf, schritten wir, eins den Arm über den Nacken des anderen verschränkt, die Insel dahin und vom Oberland über den Falm gegen das Unterland hinab. An der Wegestelle, wo sich unsere Augen zum ersten Male in warmer Frage begegnet waren, hemmte Big den Schritt. Ein stummer Gruß ging von Auge zu Auge. Einige Schritte tiefer am Uferweg kam uns eine Kette von Kindern entgegen, die das niederdeutsche Liedchen sangen: »Slimm, min Moderken, slimm!« Wie sie Big erblickten, schlossen sie den Ringelreihen um sie und tanzten. Als sie das flachshaarige, liebliche Ännchen, das Töchterlein unseres Gastwirts »Zu den blauen Meereswogen«, emporhob und küßte, da jubelte die gesamte Gesellschaft: »Mich auch – mich auch!« Immer war es dasselbe Glück, wenn Big unter Kinder trat! Innig freute ich mich an dem Bilde. Mag sie Zigeunerin, selbst Heidin sein, der Mensch, den die Kinder liebhaben, besitzt den Adel des Gemüts.

In die wonnevollen Tage ragte aber doch eine dunkle Stunde.

Auf eine Anfrage Bigs schrieb uns Kapitän Sommerfeld, mit einem herzlichen Glückwunsch zu unserer Verlobung, daß er uns in einer kleinen nordischen Stadt mit dem Frühzug erwarte und den Ballon für unsere Ankunft bereit halten werde. Das Boot trug uns von Helgoland die Elbe empor. Da lag am Süllberg die Villa Balmer in der Herbstsonnenstille. Der Anblick und die auftauchenden Erinnerungen stimmten mich trüb. In Hamburg fühlte ich mich vollends unglücklich. Mir war, die Seele meiner armen Duglore irre weinend durch die Lichterfluten und das Menschentreiben der Stadt und suche ihre tote Liebe. Es drängte mich, meinen treuen Rungholt zu grüßen; als ich aber Big mit einem Wort davon sprach, zuckte sie schreckhaft zusammen, und tonlos bat sie: »Nur jetzt verlaß mich nicht, Jost!«

Ohne daß wir wußten warum, waren wir beide aus der hohen Glücksstimmung der letzten Tage in eine stumme Traurigkeit verfallen. Wir besorgten einige Geschäfte und verbrachten die schleichenden Stunden bis zum Abgang des Spätzuges, der uns zu Sommerfeld führen sollte, dicht aneinandergedrängt in der dunkelsten Ecke des Bahnhofsaals, als ob wir etwas Fremdes zu fürchten hätten, das zwischen uns trennen wollte. Erinnerung! Nur dann und wann unterbrach ein erzwungenes gleichgültiges Wort das Schweigen. Ein Zittern ging durch die Gestalt Bigs. »Was fehlt dir, Liebling?« fragte ich. »Jost,« entfuhr es ihr in gärender Angst und Erregung, »ich muß plötzlich so stark an deine frühere Verlobte aus den Bergen denken!«

Wir dachten also beide an das gleiche. »Jost,« fragte sie, »hast du das Mädchen sehr lieb gehabt?« Ich zuckte zusammen. »Sind wir nicht übereingekommen,« antwortete ich fast heftig, »daß wir nie mehr von Duglore Imobersteg sprechen wollen? Hast du Lust, mich zu quälen, Big?« Ihr Wort hatte mich in die übelste Laune gebracht. »Nun, wenn unsere Vereinbarung nicht gilt, dann möchte ich eins wissen. Big: wie hast du den Weg in die Gärtnerei gewagt? Du mußtest doch fürchten, mit Duglore Imobersteg zusammenzutreffen. Das habe ich mir oft schon neugierig überlegt.«

Sie starrte mir schreckensbleich ins Gesicht; sie blieb die Antwort schuldig und nahm eine marmorne Ruhe und Kälte an. Zwischen den schön gewölbten Brauen stand die Falte, die ihrem Gesicht etwas so Schmerzliches und so Bedeutendes gab, und in ihren Augen glomm der weiße Funke, der an ihr fremdes Blut erinnerte. Mir war, eine schwarze Spinne krieche über meine Seele. »Bist du beleidigt, Big?« fragte ich.

»Ja,« erwiderte sie heiß und mit einem schleudernden Blick, »ein Mann, der etwas von Weibesseele versteht, demütigt sie nicht, indem er sie in Dingen der Liebe zu Rechtfertigungen zwingen will. Ich habe in jenen Tagen gelebt und gehandelt nicht wie ein vernünftiges Wesen, sondern wie eine Törin. Wenn du mich lieb hast, erinnerst du mich nicht daran.« Unwillkürlich blickte ich mich um, ob wir wenigstens ohne Zeugen seien. Ein seelentiefes Weh lag in dem Wort, und Big tat mir plötzlich furchtbar leid. Dumpf versetzte ich: »Ich frage nie wieder nach unserer Hamburger Trennungszeit!«

»Nie wieder, Jost!« sagte sie trostlos.

Da fuhr unser Zug in die Halle, der Schaffner rief zum Einsteigen. Auf langer Nachtfahrt gab sich eine linde Versöhnung; stärker als je spürten wir, daß wir doch zwei in hoher Liebe verbundene Herzen seien. Im Frühmorgen, noch unter scheinenden Sternen, erreichten wir die Stadt, in der uns der Kapitän erwartete. Sein Gehilfe empfing uns am Bahnhof und führte uns nach einer der Gasfabrik benachbarten Wiese. Da waren von Sommerfeld, wie es Big gewünscht hatte, die Vorkehrungen für eine rasche Abfahrt ohne neugierige Zeugen getroffen.

»Ich habe es mir in Hamburg allerdings nicht träumen lassen, Fräulein Dare, daß ich Sie beide noch einmal als Gäste durch die Lüfte führen dürfte,« grüßte er ehrerbietig, »es ist aber eine alte Erfahrung, daß diejenigen, die einmal ins Blau gestiegen sind, stets auf eine Wiederholung des Fluges sinnen.« »Nur jetzt keine Spazierfahrt,« bat Big, »weit und hoch möchten wir wandern, Herr Kapitän, denn« – ihr Gesicht strahlte in einem halb mutwilligen, halb ernsten Lächeln auf – »es ist meine Brautfahrt!«

Kurz darauf versetzte der Kapitän: »Fräulein Dare, Herr Wildi! In Gottes Namen steigen Sie ein!«

Der vom Tau der Nacht beschwerte »Saturn« stieg langsam, doch stetig gegen den wie ein Karfunkel leuchtenden Morgenstern empor. Der schmerzliche Abend von Hamburg war vergessen; um die Gestalt Bigs schwebte ein verhaltener Jubel, ein wonniges Glück.

Ihr und mir ist die wundervolle Fahrt Schicksal geworden!


Die Weihnachtsglocken gehen tief im Land. Es ist heiliger Abend! Obgleich ich wußte, daß mich die Stimmen der Glocken nicht erreichen würden, habe ich mit Flock den Abend im Freien verbracht. Auf dem hartgefrorenen Schnee, der bis an das Hüttendach reicht, habe ich Hinkebein mich getummelt. Nach den Stürmen der Sonnenwende herrscht über dem Feuerstein blauer Himmel und scharfe Kälte. Der Berg war in der Nachmittagsonne ein Wintertraum ohnegleichen, ein Bild von unberührter Reinheit. Nicht einmal ein Vogel hat die Spur seiner Schwinge in den Schnee gezeichnet.

Die Sonne sank früh und blutig unter dem blauschwarzen Abendhimmel. In Sterbensblässe und eherner Unbarmherzigkeit standen, von grünlichen Dämmerlichtern umspielt, von der Mondsichel, der hellstrahlenden Venus und dem Jupiter überkrönt, die Berge. Schon waren sie nur gespenstische Schemen, da brach goldiges, rötliches Licht aus ihren Schneegehängen, Feuer, als ströme es aus dem Inneren der Gipfel, als seien sie nicht kalt, sondern erfüllt von Glut. Dreimal kam und erlosch das Winteralpenglühen und züngelte in die dunkeln Täler.

Ich aber hätte die Mondsichel, die Venus, den Jupiter und das Alpenglühen gern dahingegeben, wenn ich durch mein Rohr den Strahl eines Weihnachtslichterbaums in der Tiefe, ja nur ein Lichtlein von Selmatt hätte erspähen können. Die gesamte lebendige Welt ist aber überdeckt vom Winterbrodem, leer und ausgestorben liegt die Erde unter dem Flutlicht der Höhe, und es klingt mir beinahe wie ein Traum, daß unter dem Nebelmeer warme Herzen schlagen.

O, ich möchte jetzt durch eine große Stadt wandeln, wie ich es mit Big ein paarmal am Weihnachtsabend getan habe, die Glocken und Posaunen von den Türmen ertönen hören, die freudigen Mütter und Väter mit ihrem Weihnachtskauf heimhasten sehen und die Armut belauschen, die keinen Baum zu kaufen vermag, die nur den grünen Zweig von der Marktstätte liest und in der Dachkammer das einzige Lichtlein, das sie darauf zu stecken hat, erfunkeln läßt.

Big! Noch einmal möchte ich mit dir an diesem Abend wandern, du Heidin – du Engel der Weihnacht! Ich gedenke jenes heiligen Abends auf dem Meer. Die Musik spielte die frommen Psalmen, hoch am Mast brannte der Lichterbaum. Da wandtest du dich an den Kapitän: »Liegt nicht ein Mann, der wegen Mordes den Behörden überbracht werden soll, gefesselt in den Tiefen des Schiffes? Friede auf Erden! Lassen Sie ihn eine Stunde auf Deck, er soll den heiligen Abend mit mir und meinem Mann begehen!« So sprachst du. Der Mörder weinte vor Freude, daß ein Mensch am Weihnachtsabend liebevoll seiner gedacht hatte, verzehrte mit uns das Abendbrot und erzählte uns von seiner Mutter.

Auf dem Observatorium ist es ein einsames, aber kein trauriges Feiern! Schmeichelnd zieht mir ein Gedanke durchs Herz! Wenn nun Gottlobe und Hans, wie Gott es trotz Hangsteiner fügen möge, zusammenkommen, sollte ich da nicht vom Berg steigen, mit ihnen als friedlicher Alter in den Tälern leben und fröhlichen Enkeln die Weihnachtstanne anzünden?

Ich will den Gedanken der Zukunft überlassen; stärker bewegt mich im Augenblick der Weihnachtswunsch, die Luft möchte morgen in alle Tiefen klar sein. In den ersten Nachmittagstunden kommen die Kirchgänger von Selmatt, die schon im Morgendunkel nach Zweibrücken aufbrechen, den Talweg zurück. Da bin ich neugierig, wer unter ihnen ist. Ich kann daraus manches schließen, wie es bei Hangsteiner steht, überhaupt durch mein Glas Menschen sehen, sie mit meiner Seele begleiten! Das ist mein einziger Wunsch.

Ich feiere das heilige Fest! Keine grüne Tanne, keine Lichter, keine Kinderaugen leuchten mir, aber ich entkorke eine Flasche edeln Griechenweins und danke den liebenswürdigen Gebern. Es ist eine Familie in St. Jakob, die mir je am ersten August einen Korb Wein auf den Berg bestellen läßt. Sie weilte vor etlichen Jahren in einer der großen Bergsommerfrischen. Ihr Sohn beabsichtigte mit ein paar anderen jungen Leuten die sehr schwierige Besteigung eines der höchsten Alpengipfel. Der Vater, der einmal auf dem Feuerstein gewesen war, telegraphierte mir: »Was halten Sie vom Wetter?« Nach dem schwachen Spiel der Instrumente hätte ich leicht antworten können: »Das Wetter ist beständig!« Ich spähte aber in den Luftkreis und sah darin ein Flirren, ein Wandern unbestimmter Lichter. Von meinen Luftfahrten her kannte ich die Erscheinung. Ich telegraphierte: »Bis in vierundzwanzig Stunden schwere Gewitter!« Drei Jünglinge, darunter der Sohn der Familie, ließen sich durch meine Vorhersage von der kühnen Bergunternehmung zurückhalten; drei andere schlugen meine Warnung in den Wind und stiegen zu Berg. Am nächstfolgenden Tag fielen diese auf dem Gipfel dem Unwetter zum Opfer. Seither schickt mir die Familie jedesmal am Jahrestag, am ersten August, den Wein mit ein paar dankbaren Zeilen dafür, daß ihr Sohn auf meinen Bericht von der Bergbesteigung ließ und dem Leben gerettet worden ist.

Ich darf mich also bei der Flasche Griechenweins getrösten, daß ich als Wetterwart auf dem Feuerstein nicht bloß im Joch eines großen meteorologischen Tabellenwerkes stehe. Das wäre so problematisch wie vieles in der Welt! Nein, ich darf annehmen, daß meine Wetterstandsberichte der blühenden Lebenswirklichkeit wie in dem einen Fall noch hier und da einen Dienst haben erweisen können. Der Gedanke verleiht mir die Freudigkeit des Berufs, und ermuntert mich zum Ausharren auf dem entsagungsreichen Posten.

Ich erhebe mein Glas und spreche: »Ehre sei Gott in der Höhe! Erde und Sternenzelt loben seine Werke. Die Liebe, die den Menschen zu Menschen drängt, und der große Zug des Schicksals, der sich im Leben des einzelnen offenbart, sind sein unergründlichstes Wunder. Ehre sei Jesus Christus! Ich danke dir, daß du uns armen Menschen das große Atemholen vergönnst, Weihnacht, Deingedenken. Erfülle die Sehnsucht der Herzen, Gib, daß wir nicht weiterhin mehr wie die Wilden leben. Friede auf Erden! Friede! Friede! Die Völker bedürfen seiner wie des täglichen Brotes. Ein Verbrecher, der sie in den Krieg hetzt! An den Menschen ein Wohlgefallen! Ich grüße euch, ihr Pfadsucher der Vorzeit, deren Namen verklungen sind. Ihr Menschen der Gegenwart aber! Spinnt an dem lichten Faden der Verschollenen fort, entdeckt, erfindet! Betrügt euch indessen nicht! Wohl lauscht ihr der Gehirnzelle ihr feinstes Leben ab, wohl zerlegt ihr die fernsten Sonnen in ihre Elemente und seid Gefäße, die von Wissen überfließen. Wie steht es aber um die Vermehrung des edleren Lebensgehaltes, um das innere, zartere Glück der Seelen? Fast wie Diogenes muß man es mit der Laterne suchen. Und was findet man? In Hütten und Palästen die große Lebensangst. In euren stolzen Städten stets noch mißhandelte, um ihre Jugend betrogene Kinder, verkaufte Mädchen und Frauen, die Feilheit der Seelen, den Sieg des Geldes, der Gewalt und der Gewissenlosigkeit. Wider euch zeugt die Magd, die Erbarmen mit dem Wurm hat und ihr Neugeborenes erwürgt. Wider euch zeugen die Frauen, die mit faulenden Brüsten in den Spitälern siechen. Wider euch zeugen die Irrenhäuser und Gefängnisse, die ihr stets größer bauen müßt. Der Verbrecher klagt in seiner Zelle: ›Warum ist mir in der bösen Stunde kein Bruder genaht?‹ Der Wahnsinnige knirscht: ›Ein Weib, zwei blühende Kinder, ein Freund! Der Freund ruinierte mein Vermögen und verführte mein Weib!‹ Es schreit der Mensch wider den Menschen, und die Kreatur klagt zu Gott. Ich habe es starrenden Blutes gesehen, wie das jammernde Zicklein von der Mutterbrust gerissen und lebendigen Leibes geschunden wurde, damit die Damen aus der Haut des gemarterten Tieres umso feinere Handschuhe trügen. Ich fragte damals bang: ›Gibt es einen Gott?‹ und lag in Zweifeln. Aus meinem Leben erst wieder habe ich die Kraft des Schicksalmächtigen erkannt. Hinab in die wehen Bilder aber gelüstet mich nicht mehr; stiege ich nieder, müßte ich herzensgewaltig in die Menschheit rufen: ›Etwas mehr Verständnis für das Bedürfen des Nächsten, für seinen Drang nach Sonne, für sein verschwiegenes Leid! Unter den Menschen mehr herzliches Gönnen! Selbst gegen die Tiere!‹ Das wäre eine lichtere Krone der Kultur, als wenn ihr euch den Nordpol und den Südpol zu Trophäen eures Geistes erobert. Heilig sei euch, was atmet und lebt! Eine andere Ehre gibt es nicht für ein künftiges Geschlecht.« –

Nein, ich möchte nicht vom Feuerstein steigen und Apostel werden. Auch ich habe den Leidenschaften meine Opfer gebracht, und jeder dürfte mich auslachen: »Was willst du predigen, du alter Sünder, der seine Jugendliebe ins Unglück geführt und nicht einmal sein Weib Abigail hat aus ihrer großen Not erlösen können?« –

Ich erhebe mein Glas und spreche: »Im Namen der Weihnacht, die wie eine Ahnung des Künftigen die Menschheit eine Stunde lang mit Frieden beglänzt, will ich an die ethische Entwicklung, an die Zukunft, an die Ehre unseres Geschlechts glauben! Ich schaue, wie Moses vom Berg ins Gelobte Land, nein, aus der Tiefe strecke ich die Hände, aufwallenden Herzens grüße ich die Nachfahren der menschlichen Völker, einen Zug blühender Gestalten. Auf ihren reinen Stirnen wohnt die menschliche Gottähnlichkeit. Sie sind so schön, sie blicken so frei! Ihre Schönheit, ihre Freiheit ist die Güte!« –


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