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Ich träumte am Weihnachtsvorabend, wie wohl nur ein Einsamer sich das Bild der Welt zusammenträumen mag. Die Festtage gingen still dahin. Prächtiges Wetter, kein Vogel aber regte sich, und von Selmatt sah ich keine Spur. Da habe ich mich wieder über meine Lebensblätter geneigt.
Der »Saturn« schwebte. Die schlanke Gestalt in einen schweren Mantel eingeschlagen, stand Big neben mir. Wir schauten auf die dunkeln Türme und die massige Breite der Stadt, von der wir aufgestiegen waren. Es gab wohl kein Auge, das unser einsames Planen erspähte. Einige frühe Lichter, die in der Stadt zu erglimmen begannen, schienen sich rasch von uns zu entfernen. »Ein guter Nordost,« unterbrach Sommerfeld die Stille. »Wir gehen mit der Schnelligkeit eines gemäßigten Zuges landein. Höher wird der ›Saturn‹ noch rascher wandern.«
Aus der dunkeln Wölbung des Himmels traten die Sterne glänzender hervor; nun aber erreichte das steigende Schiff den Morgenstrahl des Lichts! Im Osten erglühte in rosigen Wolken die Sonne. Ihre Flammen flogen auf die Rundung des Ballons; durch den Tragring strömte aus dem Inneren das Licht, als ob die Seide brenne; um jede Linie spielte die Glut. Nun umflutete sie die herrliche Gestalt Bigs.
Sie blickte ruhig und feierlich; über ihre Lippen kam ein Ruf des Entzückens: »Ja, das wird nun die Fahrt großen Stils, von der ich in einem fort geträumt habe, daß ich sie mit dir, Lieber, erleben soll!« Als sie wieder in die Tiefe schaute, schreckte sie zurück. »Fahren wir über das Meer?« fragte sie hastig. »Herbstmorgennebel,« flüsterte ich ihr zu, und sie lächelte über ihren Kleinmut. Die kräftiger erstrahlende Sonne sog den Tau, der sich auf die Hülle gesetzt hatte, auf, spannte die goldene Kugel; fauchend entströmte ihr überschüssiges Gas, und mit der Stärke eines Kondors bäumte sich der »Saturn« in die reineren Lüfte empor.
»Montblanchöhe!« versetzte Sommerfeld, der das Aneroid beobachtete, und ein forschender, bewundernder Blick seiner stahlgrauen Augen streifte Big. Sie erwiderte gelassen: »Höher, Herr Kapitän, so hoch, bis Ihnen Herr Wildi Halt gebietet!« Stumm genossen wir den Eindruck des Raums, des Unermeßlichen und Unendlichen, des Lichts und des unsäglichen Schweigens, das in den Hochlüften tiefer ist als in den tausendjährigen Ruinen einer Stadt. Die Hand Bigs wies in den ehern gewölbten, schwarzblauen Himmel, den unsere Seidenkugel streifte. Trotz des Sonnenlichts traten die kleinen, feinen Sterne wieder aus ihrem Haus hervor und schauten neugierig nach dem Menschenpaar, das vor ihren Fenstern vorüberzupilgern wagte.
»Ist es nicht ein wunderbarer Gedanke, Jost, daß wir zwei Menschen, die einander so lieb sind, mit dem Dasein nur noch durch die Stricke zusammenhängen, die uns an die ziehende Kugel fesseln? Empfindet sich die Zusammengehörigkeit nicht reiner und stärker als in den Tiefen?«
Ich antwortete. Da erschrak sie über den Klang meiner Stimme. »So dumpf und so weither, wie aus einem Grab!« versetzte sie. Sie warf einen schaudernden Blick in die Leere, die uns ohne Tönung mit den Gegensätzen von Licht und Dunkel umgab. Ihre Lippen erblaßten, sie schwankte. Ich gab Sommerfeld ein Zeichen, daß er die Höhe mäßige; ich hielt eine Halbohnmächtige im Arm. Als sie die Augen aufschlug, flüsterte sie: »Ich war an der Grenze meiner Kraft. Du aber bist mein starker Jost!« Der Stolz des Weibes neigte sich demütig der überlegenen Manneskraft.
In geringerer Höhe glitt der »Saturn« über das Silberfeld der irdischen Nebel. Nur das Schiefhängen des Gondelkorbes, das Knistern, das leise Sausen und Pfeifen der Seidenhülle verrieten, daß wir mit rasender Schnelligkeit wanderten. »Gut nach Süd!« versetzte der Kapitän, die Bussole prüfend. »Da wir um diese Jahreszeit große Temperaturschwankungen kaum zu befürchten haben, ist es wohl möglich, daß der Ballon bis zum Abend trägt!«
»Wunderbar!« rief Big, »über das weite, deutsche Land dahin! So hab' ich's mir geträumt!«
Sommerfeld strich sich vergnügt den langen, schmalen grauen Bart. »Es wäre mir so angenehm wie Ihnen, Fräulein,« lächelte er, »ich gelangte so ohne die Umständlichkeiten einer langen Eisenbahnfahrt in mein Winterquartier im bayrischen Oberland. Die heutige Fahrt ist die letzte dieses Jahres. Ich freue mich auf das Wiedersehen mit den Meinen!«
»Ja, sind Sie denn verheiratet, Herr Kapitän?« fragte Big neugierig. »Ich habe Frau und zwei Töchter,« erwiderte er. »Sie wohnen in einer kleinen Villa in einem bayrischen Städtchen.« »Sonderbar!« lachte Big hellauf, »wie kam ich nur auf die Einbildung, ein Luftschiffer müsse unbedingt ein lediger Herr sein? Ist denn Ihre Frau sommersüber nicht in beständiger Sorge um Sie?«
»Nein, Fräulein,« versetzte Sommerfeld, der während des Sprechens die Bewegung des Ballons stets im Auge hielt, »meine Frau kennt mich als vorsichtigen Fahrer. Gegen dreißig Jahre treibe ich nun meinen Beruf und habe darin nie einen wesentlichen Unfall erlebt. Doch, bei Wien einmal den Beinbruch einer Dame, die gegen meine Warnung bei der Landung zu früh aus dem Korbe sprang!«
»Bitte, Herr Kapitän, erzählen Sie von Ihren Fahrten und Reisen,« bat Big. »Sie müssen doch unendlich viel Schönes gesehen und erlebt haben!« Immer sein Fahrzeug beobachtend, geriet Sommerfeld, soweit es mit seiner militärischen kurzgebundenen Art zusammenging, in ein fesselndes Plaudern. In knappen Zügen berichtete er uns von einer Menge merkwürdiger Reisen in weiten Ländern, von ihren Passagieren und Bildern. Wir aber genossen selber eine wunderbare Fahrt.
Unter dem Silberfeld der Tiefe, auf dem das Spiegelbild und der Schatten des »Saturns« wanderten, begannen wir wie durch eine Scheibe die Dörfer und Gehöfte, die geschlängelten Stromläufe, die spinnwebfeinen Straßen und Bahnen zu erkennen. Blauumflossen lagen sie wie auf Meeresgrund versunken. Da zerschellte die Silberplatte, wie sich im weichen Frühlingswind das Eis über einem See spaltet. Leben und Bewegung kam in den vom Dasein halbausgelöschten, irdischen Traum; durch die Risse des Silbers quollen, schwebten und flatterten warmfarbige Streifen des Landes empor. Die Erde enthüllte ihr liebes, mütterliches Antlitz!
»Ja, ihre Kinder bleiben wir doch,« jubelte Big dem sonnigen Bilde zu. »Jost! War die Fahrt nicht ein vortrefflicher Gedanke?«
Die Wandelstücke der Tiefe genießend, lauschte ich dem Gespräch Sommerfelds. Er erzählte von seiner bescheidenen Jugend, davon, wie er in München der Gehilfe einer französischen Luftschifferin wurde, wie ihn die Wahrnehmung, daß die Dame bei ihrem Beruf ein sorgenfreies, schönes Leben führte, auf den Gedanken brachte, selber Luftschiffer zu werden, und wie er dieses Ziel unter mancherlei Kämpfen erreichte.
»Und haben Sie dabei Ihre Genugtuung gefunden?« fragte ich.
»Gewiß,« erwiderte er ruhig, »ich liebe den Beruf, der mir und meiner Familie ein freundliches Dasein und die Aussicht auf ein nicht zu herbes Alter gestattet; ich beklage darin nur, daß unser Stand durch die leichtsinnige Lebensführung einiger Kollegen vor der großen Öffentlichkeit in ein falsches Licht gerückt ist. Luftschiffer, Abenteurer, Windbeutel sind für viele Menschen dasselbe. Die Luftschifferei läßt sich aber mit den Grundsätzen bürgerlicher Ehrbarkeit wohl vereinigen. Das lag mir von jeher im Wesen. Ich habe namentlich nie zu viel gewagt und mich durch den Spott der berühmtesten Standesgenossen, ich sei ein bloßer Spaziergänger der Lüfte, nie in Abenteuer treiben lassen. Daran habe ich wohlgetan! Wo sind sie hin, die internationalen Koryphäen? Einer nach dem anderen ist auf tollen Hoch- und Meerfahrten verunglückt. Sie maßten sich, weiß Gott, welche wissenschaftlichen Verdienste an; das wirkliche Ergebnis der unglücklich verlaufenen Abenteuerflüge aber war das wachsende Mißtrauen gegen die Aeronautik, die übertriebene Furcht der Menschen vor der Teilnahme an einer Fahrt. Ich habe mit der Wissenschaftlichkeit meiner Aufstiege nie geflunkert, dafür in den fast dreißig Sommern ohne Unfall bewiesen, daß Ballonfahrten unter gewissenhafter Führung eine fast gefahrlose Gelegenheit bieten, die Welt von einer ihrer wunderbarsten Seiten zu genießen. In weiten, gebildeten Kreisen habe ich der Luftschiffahrt als Sport wieder einen Kern von treuen, gebildeten Freunden gewonnen. Das ist mein Stolz!«
Die verständige Art, mit der Sommerfeld von sich selber und seinem Berufe sprach, machte einen sehr lebhaften Eindruck auf mich. Ich war ganz Ohr.
»Jost,« lachte Big hellauf, »du solltest selbst Luftschiffer werden!«
Bei dem Scherze Bigs streifte mich ein prüfender Blick Sommerfelds. Beiden erwiderte ich lachend: »Die letzte Wahl unter den mannigfaltigen Berufsarten wäre es mir nicht.« »Ja, blick nur hin!« rief Big. Sie wies in die Schauspiele der Luft, die sich stets herrlicher entfalteten. Wie leichtbeschwingte Riesenvögel, wie weiße Schiffe und Inseln, die den Seen der Erde entschwebten, stiegen die Reste der Silberplatte, welche die Erde bedeckt hatte, in die blauen Bäche des Himmels, und der »Saturn« wiegte sich im Fabelreich der Wolken. Sie umringten uns wie ein Reigen tanzender Engel, die Gold an den Rändern ihrer schleppenden Gewänder tragen; zwischen den fließenden Gebilden gähnten Schluchten wie im Gebirge, worin das Licht wie in Wasserfällen, Schneebrüchen und Eisstürzen rieselte, und ein Stück warmer Erdwirklichkeit grüßte in die zauberischen Klüfte. In den dunkleren Kernen der Wolken aber spiegelte sich die Sonne; leuchtende Sonnen strahlten überall, und eine Wolke warf der anderen die Regenbogen zu.
Da, das Ballongespenst! Auf den schweren Rissen einer Nebelwand haftete der Schatten des »Saturns«, ein jagendes Geisterschiff. Von Gloriolen umspielt, glitten die Schatten unserer Häupter und Gestalten die Wolken dahin. Wir gingen furchtbar schnell! »Jost!« rief Big entzückt. Da horch! Nah und fern antwortete eine Schar feiner Stimmen: »Jost!« »Big!« erwiderte ich, und »Big!« rief es aus den Höhen und Gründen der Wolken. Ich wußte selber nicht, woher mir der Einfall kam; ich sang die Jodler, die ich mit Duglore so oft den Felsen des Feuersteins entgegengejauchzt hatte. Antwortende Jodeljungen in den Wolken ringsum! In meiner Seele aber regte sich jäh ein schmerzliches Gedenken.
»Noch einmal, Jost!« jubelte Big. Eine freudige Flamme war in ihr Gesicht gestiegen. Sie lächelte mir bestrickend zu; sie neigte den Mund an mein Ohr und flüsterte heiß: »Jost, wenn du dich entschließen könntest! Ich würde gern das Weib eines Luftschiffers. Du, mein kühner Jost!« Das war kein Scherz mehr, das war Bigs glühender Ernst. Berauschend strahlte in ihren Augen der Ballonzauber.
Hatte Sommerfeld das leise Wort gehört? Er blickte mich schweigend und durchdringend an; darauf versetzte er: »Ich würde nicht leicht jemand zu meinem Beruf raten. Ihnen aber, Herr Wildi! Sie besitzen das Geheimnis des Erfolgs, die zwingende Kraft des Auges und des Geistes. Ich wäre stolz. Sie meinem Beruf zuführen zu dürfen!« Ich gab ihm eine abweisende Antwort; doch wob der Ballonzauber auch um mich seine Kreise. Ich blickte schweigsam. Die Wolken blieben wie zerfließende, weiße Inseln hinter uns zurück; in langgestreckter Bahn neigte sich der »Saturn« einem seiner Tiefstände zu, und heimatlich genähert, leuchtete uns die Erde in lebhafteren Farben. Schlösser und Dörfer erglänzten; wir flogen über den Silberfaden eines von Schiffen befahrenen Stroms. In der Ferne dämmerten Waldlandschaften wie in die hellen Gründe eingestreute Schatten. Das irdische Leben erhob seine Stimmen zu uns. Ein Lokomotivenpfiff, das Glockengeläute eines Städtchens. Die aus der Schule strömende Jugend entdeckte uns über ihren Köpfen. Sie schwenkten die Mützen; wir hörten ihren Jubel, ihre Rufe: »Bitte, bitte, steigen Sie bei uns zur Erde!« In den Gassen wurde es wie in einem Ameisennest, in das man einen Stock gestoßen hat, lebendig. Schon lag aber das Städtchen hinter uns. Ein Bauer, der mit den Seinen auf dem Felde beschäftigt war, bemerkte unser Fahrzeug. Jählings trieb er die Leute, die Pferde, die Wagen zur Eile gegen den Hof, als fahre der Teufel am Himmelszelt dahin.
Soll ich Luftschiffer werden oder nicht? Ich sah und träumte. Da hatte Sommerfeld auf ungelöschtem Kalk, den er mit Wasser übergossen, einen Tee gerüstet, ein köstliches Labsal in den Lüften. »Wie Sie es geschrieben haben, Fräulein!« wandte er sich ehrerbietig an meine Verlobte. Leckerbissen und eine Flasche prickelnden französischen Schaumweins entstiegen dem Eßkorb. »Habe ich nicht wie eine Hausfrau vorgesorgt?« scherzte Big mit weiblichem Stolz. Als sie aber ihren Kelch an den meinen stieß, lachte sie aufstachelnden Blickes: »Jost, auf einen guten Entschluß!«
Luftschiffer werden! Ein absonderlicher Gedanke, ein Plan würdig ihrer freien Adlerseele.
Nein, der Mut für den kühnen Beruf fehlte mir nicht. Ich war ja ein Kind der Sonne, des Lichtes, der Luft, das schon in Jugendtagen die Höhe, die Weite der Welt, den Himmel hatte suchen müssen. Besaß ich nicht das scharfe Auge des Raubvogels, das sich bei der Viehhut auf der Bodenalpe geübt hatte, die kleinsten Vorgänge an den Felsen des Feuersteins zu erspähen? Gärte in mir nicht das jähe Blut meiner Vorfahren, der Wildleute am Feuerstein, das Blut, das mich aus der Heimat in die Abenteuer von Hamburg und an die Grenzen des guten bürgerlichen Rufs getrieben hatte? Ich war der Mann, der Gefahren nicht fürchtete, der aber eine Wunde in der Seele trug und des Vergessens bedurfte.
In meine Gedanken loderten aufreizend die begeisterten Augen Bigs. Meine Zigeunerin wollte ein Wanderleben führen. Ich selber sehnte mich nach den Bildern der Welt; nur ein Tagedieb, der das Vermögen seines Weibes verzehrte, wollte ich nicht werden. In der Luftschifferei aber lag die Versöhnung ihrer und meiner Lebensabsichten, Reise und Arbeit.
Der »Saturn« wanderte durch den sonnenreichen Nachmittag. Luft und Erde entfalteten die Fülle ihrer Bilder; liebliche Hügel- und Berglandschaften wurden licht, ruhten unter uns und verblauten. Sommerfeld, der sich mit den Karten beriet, warf dann und wann einen Namen hin: »Thüringerwald« – »Kronach« und plötzlich »Der junge Main!« Als ich den Blick auf den Strom warf, da fiel es mir erst auf die Seele, daß uns ja der »Saturn« meiner alten Heimat entgegentrug. O, nur einmal einen Blick ins Tal von Selmatt werfen, sehen, wie es Duglore geht!
Nein, ich konnte doch nicht Luftschiffer werden. In meiner Brust regten sich mächtig die Stimmen der Überlieferung, meiner kleinbürgerlichen Jugend. »Tu's nicht, tu's nicht!« bat aus seinem Grab der Vater. »Jost, Jost! Habe ich nicht mit Schlägen dein wildes Blut gedämpft?« Das ehrliche Gesicht des Schulmeisters Kaspar jammerte: »Jost, abgründiger Jost, den ich geliebt habe wie einen Sohn, ist's nicht an Vermessenheit und Gottlosigkeit genug, daß du Duglörli um sein Lebensglück betrogen hast? Nun willst du gar den französischen Teufelssack, die Montgolfiere, durch die Lüfte steuern!« Die erschlagenen Selmatter alle knirschten in ihren Gruben: »Jost Wildi, wir sollen so elend unter den Felsen liegen, und du willst den Himmel stürmen!«
Wunderlich wogten die Gedanken in meinem Gemüt.
Unser Gespann aber glitt durch Glanz und Gloria des schönen Herbsttages. Dörfer, Städte wuchsen heran, lagen im Vogelblick unter uns, schrumpften und blieben zurück; Berge mit sonnenhellen Kuppen hoben sich und vergingen. Von der Feuchtigkeit weiter, dichter Wälder in die Tiefe gezogen, wiegte sich der »Saturn« über den Wipfeln, einem grüngoldigen Meer, ja streifte die Gipfel der wachstumfreudigen Tannen, die uns zu Füßen wie im Sturm errauschten. Aufgeschrecktes Wild, das friedlich in den Lichtungen geäst hatte, brach durch die Stämme. Am Horizont vor uns aber reckten grüne Berge ihre höheren Gipfel; der »Saturn« entfaltete noch einmal die Schwingen und strebte mächtig in die warme Helle des Abends empor.
Da, o Wunder! Licht und schemenhaft tauchte es hinter den letzten Höhen auf. Traumbild oder Fata Morgana? Hineingewoben in Gold und Duft der entlegensten Ferne, erstrahlten die Alpen! Die ewigen Häupter ins Sonnenrot erhoben, wandelten sie uns über die Erdenlandschaften wie greise Väter und Mütter entgegen, die einen verlorenen Sohn der Bergheimat mit offenen Armen empfangen wollen.
Es waren wohl nicht die Berge von Selmatt, aber doch schneelichte Zinnen und Gipfel. Gebannt und schmerzhaft starrten meine Augen nach den verklärten Gestalten in ferner Himmelstiefe. »Heimat, Bergheimat!« jubelte das Herz in fassungsloser Freude. Mir war, als liebkosten mich linde Hände mit Mutterliebe. Alllebendig und urgewaltig strömte das Heimweh durch mein Dasein dahin, schmeichelte mir wie ein Jugendlied und klagte wie in Orgeltönen: »Jost – Jost – Jost!«
Ich stand, die Hände in die Stricke des Korbes verkrampft, die Zähne zusammengebissen, und zitterte.
Du darfst nicht heim! Das Herz zuckte mir wie unter einem Rutenstreich zusammen. Du darfst nicht heim, um deinetwillen nicht, weil du der Heimat den Absagebrief geschrieben hast, weil sie dich verachtet. Du darfst nicht heim, weil du Duglore das bißchen Frieden schuldig bist, das sie vielleicht an der Seite Hangsteiners gefunden hat. Du darfst nicht heim wegen Big, die nun dein Weib werden soll. Sie ist kein Kind stiller Berglande, sie ist ein Kind der Welt. Und du, Jost Wildi, bist ein heimatloser Mann! Was verschlägt's, wenn du nun ein Abenteurer wirst, ein Luftschiffer? Im Reich der Lüfte, der Sonne, der Wolken, in Fahrten durch die Zaubergärten der Welt findest du Vergessen!«
Die Wange Bigs streifte in einer feinen Bewegung die meine; ihr sorgender Blick suchte meine Augen. »Lieber,« versetzte sie erschreckt, »wir haben die Fahrt zu früh nach deiner Krankheit gewagt. Du bist ja totenblaß!«
»Ich habe eine Schlacht geschlagen,« erwiderte ich schwer. »Big – Sturmvögel wollen wir werden!«
Die fernen, in Sonnengluten verklärten Berge versanken hinter den grünen Höhen. Keine der seligen Flammen erfunkelte mehr. Was sollten sie einem Sohne leuchten, der nicht heimkehren durfte!
In den Augen Bigs strahlte die Begeisterung. »Jost, mein herrlicher Jost,« flüsterte sie, »ich habe stets gewußt, daß du keiner von den Kleinen bist. Wie Adler und Adlerin ziehen wir über die Welt!«
»Achtung! Wir landen!« unterbrach Sommerfeld ihre Liebesworte.
»Herr Kapitän! Darf ich im Frühling, wenn wir von einer Fahrt nach Mexiko zurückkehren, Ihr Schüler werden?« fragte ich Sommerfeld. Er suchte ein stolzes, glückliches Lächeln im Bart zu verbergen; seine stahlgrauen Augen aber glänzten auf. Heftig drückte er mir die Hand: »Willkommen, Herr Wildi! Ich grüße wohl einen künftigen Meister der Kunst!«
In blauer Abenddämmerung landeten wir in der Nähe eines freundlichen Dorfes der bayrisch-österreichischen Grenzlandschaft.
Einen Tag blieb Sommerfeld, mit uns rastend, in dem lieblichen Winkel, den schon die Berge säumten. Freundschaftliche Beziehungen knüpften sich. Ohne strenge Verbindlichkeit verabredete ich mit ihm, daß ich im Frühling nach unserer Wiederkehr von Mexiko sein Schüler im Luftschiffahrtswesen würde und ihn einen Sommer lang auf seinen Fahrten begleite.
Jost Wildi, der kein Älpler mehr war und kein Kaufmann hatte werden können, hatte mit der begeisterten Zustimmung seines künftigen Weibes seinen Lebensberuf gefunden, einen Beruf weit außerhalb der bürgerlichen Reihe. In jenem stillen Erdenwinkel wurde Big, wie sich Adlerin zu Adler traut, mein liebes, süßes Weib. Wie Kinder schwärmten wir für unser kommendes Wanderleben. »Und wenn ich doch fiele, Big?« scherzte ich. »O, dann wollte ich mit dir stürzen! Vielleicht wäre es das schönste Los, das ich mir denken könnte,« versetzte sie in tiefer Träumerei. Auf ihrer Stirn stand die Falte des Ernstes.
Ich verstand das dunkle Wort des glückseligen Weibes nicht. Erst später, viel später stieg es wieder schicksalslebendig aus den Schachten der Erinnerung. Mit ihm die siedende Träne am Tage meines Abschieds aus dem Krankenhaus und die schwere Stunde im Bahnhof von Hamburg. Wir suchten in der Luftschifferei scheinbar die Freuden der Welt, in Tat und Wahrheit aber Vergessen und Betäubung – Big wie ich.
Rasch gingen die Flittertage dahin. Dann trat die Reise nach Mexiko gebieterisch in unseren Gedankenkreis. Das Land aber jenseit der Meere erschütterte die auf der wundervollen Fahrt gereiften Entschlüsse und trägt die Schuld, daß man nie von einem Luftschiffer Jost Wildi gehört hat.