Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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XI

Scheu und fremd tat ich an der Seite des Herrn Sekretär Andreesen die ersten Schritte und den ersten Gang durch das lärmende Leben der Stadt. Als wir auf einem Fleet, einem braunen, schmutzigen Wasserkanal, zwischen alten Häusern ein paar warenbeladene Schiffe erblickten, fügte er: »Das sind nun von den Leichtern und Schuten des Herrn Balmer!« Groß wie eine Fabrik, aus alten und neuen Gebäuden zusammengebaut, stand das Geschäftshaus. Darin arbeiteten eine Menge Menschen fleißig wie die Ameisen. Wir kamen durch Fluren und Gänge; Männer begegneten uns, die mit beschriebenen Zetteln von Tür zu Tür eilten, und keiner sah nach dem anderen, und keiner sah nach uns, aber jeder hatte es wichtig. Wir schritten durch einen Saal, in dem wohl dreißig oder fünfzig Schreiber standen, schrieben oder rechneten und kaum einen schnellen Blick von ihren Pulten nach uns warfen; dahinter lag das kleinere Zimmer, in dem Herr Andreesen, wie er sagte, allein arbeitete, und an einer folgenden Türe stand: »H. K. Balmer.« –

Herr Andreesen schaute auf die Uhr. »Noch zwei Minuten, Herr Wildi!« Da geht's aber genau, dachte ich. Schritte regten sich drüben, er pochte, die Tür ging auf, ich schaute in eine große, einfach gehaltene Stube, in der ein Schreibtisch, Schränke und viele Bücher standen. Der Großkaufmann, der in diesem Augenblick gekommen war, tat mir einen Schritt entgegen. »Ah, Herr Wildi, glücklich gereist?« versetzte er leichthin, bot mir kurz die halbe Hand und bedeutete mir, ohne meine Antwort abzuwarten, ich möchte mich auf einen niedrigen Lehnstuhl setzen, während er seinen Platz auf einem erhöhten Stuhl einnahm. Der Sekretär aber war verschwunden. Mir klopfte das Herz: in der kalten, fremden, knarrenden Sprache des Herrn Balmer war nicht ein Ton selmatterisch. »Nur einen Augenblick,« sagte er, riß ein paar Umschläge auf, die Telegramme oder Briefe enthielten, und reichte sie mit ein paar Worten Herrn Andreesen hinaus. Unbequem auf dem niedrigen, weichen Stuhl sitzend, hatte ich unterdes Zeit, dem schwärmerisch geliebten Freunde meines seligen Schulmeisters Kaspar ins Gesicht zu blicken, in dem unendlich viele Falten und Fältchen kreuz und quer liefen und sich um die Augen und den eingezogenen Mund knäuelten. Ich hatte erwartet, Herr Hans Konrad Balmer würde ein schöner Mann sein, ähnlich dem Landammann; nun aber war er häßlich, doch von einer anziehenden Häßlichkeit. Unwillkürlich dachte man vor dem in Falten zermarterten Gesicht, was dieser Mann wohl schon alles zusammengeplant und zusammengearbeitet habe in seinem Leben, und fühlte sich im Banne einer unheimlichen Wucht, die ihn noch gewaltiger als selbst den Landammann erscheinen ließ.

Plötzlich ruhten seine Raubvogelaugen durchdringend auf mir. Da er doch nichts sagte und mich die stumme Prüfung quälte, hielt ich den Augenblick für gekommen, die Grüße des Landammanns zu bestellen. »Schon gut,« versetzte er kühl und abweisend, »das Wesentliche ist, daß Sie sich entschlossen haben, mein Lehrling zu werden. Sie müssen nun eben von der Pike auf dienen!« Das klang furchtbar nüchtern und kalt, und, da er nicht selmatterisch mit mir sprach, erachtete ich es als Pflicht, ihm schriftdeutsch zu antworten. Etwas wegwerfend aber bemerkte er: »Später, das können Sie doch noch nicht!« Ich errötete, saß wie auf Nadeln und wünschte mir Flügel, um mich von ihm hinwegzuheben. »Ich kann mir vorstellen, daß es Ihrer Bildung überhaupt an allen Ecken und Enden mangelt,« fuhr er fort. »Ich werde mit Herrn Andreesen wegen der Nachhilfestunden, die Ihnen gegeben werden sollen, sprechen. Man wird Sie jetzt an Ihre Arbeit führen; je nach Ihren Leistungen werde ich Sie fördern. Ich hoffe, es gibt ein Sichfinden, Herr Wildi – meine Frau wünscht unseren Landsmann gelegentlich auch einmal zu sehen!«

Nun war sein Ton doch merklich wärmer, und ein Strahl verhaltenen Wohlwollens glitt unter den buschigen, mächtigen Brauen hervor und streifte mich. Das war gut, ich wäre sonst über den kalten Empfang trostlos gewesen; auch so hatte ich noch das Gefühl, ich sei zwischen die Finger einer außerordentlich harten Faust geraten. Eine weite Kluft gähnte zwischen den begeisterten Schilderungen, die mir Schulmeister Kaspar von seinem Freunde entworfen hatte, und dem wirklichen Wesen des Herrn Balmer. Ich wurde von Sekretär Andreesen in einen Speicher geführt und erfuhr nun, was es hieß, von der Pike auf zu dienen.

Meine erste Arbeit in dem großen Kolonialwarenhaus war, mit ein paar anderen Lehrlingen und Arbeitern einen Berg von Zucker in Säcke zu füllen und die Säcke abzuwägen, und nachdem ich eine Woche lang Zucker geschöpft hatte, sackte ich Reis, Kakao, Kaffee, Kautschuk, Gummi und die widerwärtigen Farbhölzer, die ihr Gelb, Rot und Blau in die Haut ätzten, dann kam wieder Zucker an die Reihe.

Alle Wochen einmal ging Herr Balmer allein oder mit einem Beamten des Hauses durch die Schuppen, griff da und dort in einen Sack und musterte die Waren, indem er sie beroch oder tastend durch die Finger gleiten ließ. Als er einmal dicht in meiner Nähe vorbeikam, hielt ich es für meine Pflicht, höflich zu grüßen; er nickte flüchtig, ließ mir aber hinterher sagen, er setze keinen Wert darauf, von seinen Lehrlingen bemerkt zu werden, nur darauf, daß sie arbeiteten. Einmal hörte ich aus seinem Munde auch ein gewaltiges, mit norddeutschen Flüchen versetztes Donnerwetter, das ein paar Warenaufseher anging. »Solche Leute hol' der Teufel – da geht das beste Geschäft kaput!« Der wütende Zorn, in dem ich Herrn Balmer gesehen hatte, erklärte die schwüle Stille, die stets über den Leuten herrschte, wenn er an irgendeiner fernen Tür erschien. Jeder suchte ihm aus dem Weg zu gehen, und wer zu ihm gerufen wurde, zitterte um sein Brot. War er wieder gegangen, so erhob sich da und dort in den Ecken ein Flüstern, doch niemand sprach vom Herrn Balmer, sondern nur vom »Gewaltigen« und jeder so vorsichtig, als hätten die Wände Ohren; am furchtsamsten redete von ihm Herr Andreesen, sein Privatsekretär, der höflichste Mann auf Gottes Welt. Er vermied es überhaupt, den Namen Balmers auszusprechen, als läge in seiner bloßen Nennung eine Gefahr, und geschah es doch, so gewiß in einer Art, als verbeuge er sich innerlich noch schnell vor seinem Herrn. Dadurch wurde Herr Balmer mir selber geheimnisvoll.

Ein- oder zweimal, als er durch die Magazine schritt, sah er meinen Hantierungen mit undurchdringlicher Miene zu, ging aber ohne Lob und Tadel weiter. Wie sehr er indes seine Anteilnahme für mich verbarg, hatte ich doch die innere Gewißheit, daß er sich beständig über mich und meine Arbeit unterrichten ließ. Scheu empfund ich davor nicht, ich hatte im Gegenteil das befreiende Gefühl raschen Einlebens in meine Pflicht, war meiner scharfen Augen, die jeden Arbeitsvorteil erspähten, sicher und besaß zu feine Ohren, um mir von meinen Vorgesetzten etwas zweimal sagen zu lassen. Und dankbar mußte ich Herrn Balmer in anderer Hinsicht sein. Durch den Privatsekretär Andreesen hatte er mir verschiedene Lehrer angestellt. Um vier Uhr Abends schlüpfte ich, wie der Schmetterling aus der Puppe, aus meinem Arbeitskleid und eilte erhobenen Kopfes, ein junger Herr, in meine Privatstunden. Wohl hatte Balmer recht: es fehlte meinen Kenntnissen an allen Ecken und Enden; aber Duglores Vater hatte die Fundamente so gut gelegt, daß darauf leicht weiterbauen war. Mit der ausgeruhten Kraft eines jungen, starken Menschen, dessen geistige Fassungskraft jugendlang nie überangestrengt, ja nie ganz gesättigt worden war, ging ich an meine Aufgaben und meisterte sie spielend.

Der ungezügelte Lerneifer half mir vortrefflich über das Heimweh hinweg, das manchmal wie eine Quelle aufspringen wollte, denn so schöne Abende wie bei Schulmeister Kaspar gab es in der nach Grundsätzen vornehmen Spießbürgertums geführten Sekretärsfamilie nicht; mir fehlten die dunkeln Augen Duglores, und für die Bilder, mit denen eine Weltstadt die Empfänglichkeit eines jungen Mannes reizen kann, waren meine Blicke noch zu scheu.

Ich stand aber doch in einer Zeit des Wachsens und Reifens, und hätte mich Duglore sehen können, wie ich nach Haltung und Lebensart gedieh, sie hätte gestaunt. Das war das Verdienst der Frau Sekretär Andreesen. Die blonde, blitzsaubere, für Äußerlichkeiten lebhaft empfindliche Hamburgerin verbarg ihren Stolz darüber nicht, daß die Familie Balmer mich gerade zu ihr ins Quartier gewiesen hatte, und setzte nun ihre Ehre darein, auf den Wildling der Berge das Edelreis städtischer Gesittung zu pfropfen. Selten ging oder kam ich, ohne daß sie aus dem Erker ihrer schönen, nur etwas hoch gelegenen Wohnung einen spähenden Blick nach mir geworfen hätte, wie sich denn ihr Pensionär im Straßenbild ihrer Vaterstadt ausnehme. Wenn ich in die Wohnung trat, lachte sie ihr kühles, fröhliches, gesundes Lachen, mit dem sie halb ernsthaft, halb scherzhaft die Dinge der Etikette zu erledigen pflegte, und versetzte lustig: »Wer würde Ihnen noch ansehen, daß Sie aus einem wilden Lande kommen, in dem die Menschen von den Bergen wie von einer Mückenklappe totgeschlagen werden?«

Weihnacht war nahe. Als ich an nichts dachte, überbrachte mir Herr Andreesen eine Einladung des Herrn Balmer und seiner Gemahlin zur sonntäglichen Mittagstafel. Ich war freudig überrascht; die Frau Sekretär schlug die Hände über dem Kopf zusammen: »Die Ehre, die Ehre, da doch gar niemand von den langjährigen ersten Beamten des Hauses eingeladen ist! Das kommt, weil Sie ein Landsmann des Herrn Balmer sind.« Eine reizende Eifersucht, daß die Einladung nicht ihrem Gatten galt, spiegelte sich in den Worten der anmutigen, kleinen Frau. Als aber der Sonntag da war, unterwarf sie den äußeren Jost Wildi einer so weiblich sorgfältigen Prüfung, daß er wie ein Hamburger Bürgerssohn vor der Familie des Großkaufmanns erscheinen konnte.

Halb Villa, halb Palast, schlanke Edeltannen vor dem Eingang, lag das Haus Balmer mit glänzenden Fenstern an der äußeren Alster, auf deren Eis sich eine Menge eleganter Schlittschuhläufer und -Läuferinnen tummelten. Am Tor stand ein Diener mit farbigen Aufschlägen, zwei andere standen wie Bildsäulen an der breiten Steintreppe, eine Flügeltür öffnete sich: eine nicht sehr große, aber vornehme Gesellschaft, ein verheirateter Sohn und eine verheiratete Tochter mit ihren Angehörigen und noch einige Eingeladene, sammelte sich. Bei der Begrüßung äußerte der »Gewaltige« mit einem dünnen Lächeln scheinbar oberflächlich: »Es freut mich, Herr Wildi, Sie hier zu sehen,« und wandte seine Aufmerksamkeit den übrigen Gästen zu. Umsomehr erfreute mich der herzliche Willkomm durch Frau Balmer: »Endlich sehe ich Sie, Herr Wildi! Ich war schon lange nach unserem jungen Landsmann neugierig!« Mit einer jugendlich raschen Bewegung bot sie mir die Hand, sprach zu meiner Ermunterung ein paar Worte Heimatdeutsch und lächelte: »Mein Mann hat Sie wohl beim ersten Empfang sehr erschreckt. Das ist nun seine Art, daß er jung ins Geschäft tretenden Leuten etwas abstoßend begegnet. Ihr Aufenthalt in Hamburg gestaltet sich aber gewiß viel schöner, als Sie denken. Sie haben wohl aus unserer Einladung gespürt, und ich darf es Ihnen verraten, daß mein Mann von Ihrer Tätigkeit durchaus befriedigt ist! Nun hoffen wir, Sie dann und wann als Gast in unserem Haus zu sehen!«

Mir war, eine Eisrinde, die mich bisher in Hamburg umgeben habe, springe unter den warmen, braunen Frauenaugen entzwei; ich konnte den Blick kaum von der stattlichen Gestalt wenden, die, trotz ergrautem Haar im Gegensatz zu Herrn Balmer fast jugendlich lebhaft und froh schaute. Das Altheimatliche, das sie durch Rede und Wesen strömen ließ, umfing mich wie warme, erlösende Frühlingsluft. Ich war der Frau, deren Liebesgeschichte ich von Kaspar selig kannte, vom ersten Augenblick an ergeben und hielt es Herrn Balmer groß zugute, daß er nach einer kurzen Abirrung zu seiner Jugendliebe zurückgekehrt war.

Obgleich in den gesellschaftlichen Formen noch etwas unsicher und auf die Nachahmung der anderen angewiesen, verlebte ich in dem Hause des Großkaufmanns einen überaus frohen und anregenden Tag. Herr Balmer war gegenüber dem Bilde, das ich bisher von ihm gewonnen hatte, ein ausgewechselter Mensch. Der strenge Geschäftsherr, der nach der Schilderung der Angestellten und Arbeiter am liebsten Donnerkeile schmetterte, war im Kreis seiner Familie und Gesellschaft der liebenswürdige, feine Wirt, der für jedermann ein verständnisvolles Nicken, ein bezauberndes Lächeln besaß. Ob er mit Erwachsenen oder mit Kindern sprach, entfaltete er stets ein Feuer des Wohlwollens und der Liebe, als hätte überhaupt noch nie ein Wölkchen des Unmuts seine Stirne getrübt, als gäbe es für ihn nichts als die Hingabe an die kleinen oder großen Anliegen derer, die um ihn weilten. Nachdem er mich langehin wie absichtlich etwas übersehen hatte, war er plötzlich mit einem väterlich gewinnenden Strahl seiner leuchtkräftigen Augen an meiner Seite: »Na, Herr Wildi!« Mit ein paar leichten Fragen zog er mich in ein offenstehendes Nebengemach, und in der halben Abgeschiedenheit begann er, sich mit mir von der Heimat zu unterhalten.

»Ja, nun ist Kaspar Imobersteg, mein lieber Jugendfreund, tot,« versetzte er nachdenklich und mit halb geschlossenen Augen: »Er war in all seiner großen Bescheidenheit eine Perle unter den Menschen, lieb und treu ohnegleichen. Wenn solche sterben, reizt es mich natürlich wenig mehr, das Land wieder zu besuchen. Ich trenne mich langsam von der Heimat ab.« Er sprach in einem wehmütigen Ton, wie wenn er zu sich selber redete und sich ganz vom Strom seiner Gefühle treiben ließe. »Seine Älteste lebt,« versetzte er nach einer Weile des Nachsinnens. »Erzählen Sie mir doch!« In weichster Stimmung schlürfte er, was ich von Kaspar und Duglore sprach. Dann unterbrach er mich. »So, Kaspar hat Ihnen zuerst von mir gesprochen, nicht Ihr Vater. Nun, ich versteh's! Klaus, Ihr Vater, wurde aus einem hellen, frohen Jugendkameraden später etwas Kauz. Glauben Sie, ich hätte ihn, wenn er in Hamburg war, ein einziges Mal in mein Haus führen können? Nie! Um die Zeit, in der er hierher zu kommen pflegte, mußte ich in dem kleinen Gasthaus ›Zum Grünen Glas‹ in der Altstadt Nachfrage halten lassen, ob er denn bereits eingerückt sei. Dann suchte ich ihn auf, um einen Abend mit ihm zu verplaudern.«

Herr Balmer wirkte durch die Gegensätze seines Wesens wahrhaft geheimnisvoll auf mich; die kleine Unterhaltung, von der er bald unter seine übrigen Gäste zurücktrat, legte mich vollkommen in seinen Bann.

Als man sich verabschiedete, überreichte mir Frau Balmer eigenhändig ein verschnürtes Paket. »Sie erraten nicht, was drin ist,« lachte sie. »Ein Wecken Gauenburger Birnbrot! Ich habe ihrer ein paar von meiner Freundin, der Frau Landammann, erhalten, die Sie grüßen läßt. Sie sollen also über Weihnachten auch etwas Heimatliches zu knuspern haben!«

Die feine, frauliche Aufmerksamkeit und Güte bewegte mich dankbar, aber das kurze Gespräch, dessen mich Herr Balmer gewürdigt hatte, galt mir unendlich mehr. Förmlich verwirrt kam ich von der Sonntagseinladung heim; auf die Frage der Sekretärsleute, wie sie denn verlaufen sei, antwortete ich mit einem jubelnden: »Entzückend schön!« Es litt mich nicht im Haus, es drängte mich zu einem weiten Gang im Freien; als wäre durch die Unterhaltung mit Balmer ein Fieberstoff in mein Blut gelangt, brannten mir die Wangen. Ich lief und lief mit glückseligem und unruhvollem Herzen. Er ist eben doch, wie ihn Schulmeister Kaspar geschildert hat. Wunderlich ergriff es mich, daß Herr Balmer, den die Menge nur als den rechnenden, rücksichtslosen Kaufmann kannte, meinen Vater, den schlichten Tafelhändler, in einem geringen, volkstümlichen Wirtshaus aufgesucht hatte, um mit ihm von fernen Knabentagen zu sprechen. Das bezeugte einen unendlich weichen und zarten Kern in seiner Seele! Alle meine Gedanken waren nur ein großes Lechzen danach, daß ich bald wieder seine starken unergründlichen Augen über mir spüren dürfe. Wie eine Offenbarung überströmte es mich, ich müsse diesem Manne einmal herzlich nahe kommen; in erhöhten Gefühlen eilte ich durch die verschneiten, nächtlichen Straßen Hamburgs und ließ mich in der Altstadt von den dunkeln Silhouetten der Türme und Häuser, von den Lichtern, die rot aus den Fenstern brachen und sich mit zitterndem Strahl in finsteren Wassern spiegelten, wie von einem wonnigen Lebensmärchen umspinnen.

In der Tat ging mir nun in Hamburg eine wundervolle Zeit auf. Die Einladungen in das schöne, von feiner Geselligkeit belebte Haus Balmer wiederholten sich; mit der Familie begannen die Gäste Anteil an mir zu nehmen; wohlwollend entschuldigten sie die bergursprünglichen Herbigkeiten, die noch an meinem Wesen, die Sprödigkeiten, die noch an meiner Sprache hafteten, und mit einer nicht geringen Anpassungsfähigkeit fand ich mich in die Formen des neuen feineren Lebens, die mir zuerst wie ein Leib und Seele verrenkender Eiertanz von Worten, Gebärden und Bewegungen erschienen waren. Frau Balmer, der gute Geist aus der Heimat, nickte mir mütterlich zu: »Ja, ja, Herr Wildi, Sie entwickeln sich prächtig. Sie machen uns mit Ihrem frischen, anstandsvollen Wesen wirklich Freude. Jedermann in unseren Kreisen mag Sie!« Ein leiser, glücklicher Stolz lag auf dem kräftigen pfirsichblütenen Frauenangesicht.

Herrn Balmer aber in das zerknitterte, rätselvolle Antlitz zu blicken, galt mir noch wichtiger. Ich sah die vielen Faltenwinkel und Haken darin nicht mehr, nur die Schönheit der geistigen Kraft und Wucht, den sonnigen Strahl der Güte in seinen Augen. Ich war vollständig im Zauber seines geheimnisvollen Wesens; tagelang konnte ich trauern und trübsinnig sein, wenn seine Unterhaltung mit mir etwas kühler und knapper ausgefallen war, als ich erwartet hatte, und heimlich jauchzen, wenn das hinreißende Lächeln für mich um seinen Mund gespielt oder mir eins seiner Worte den Herzensklang des Wohlwollens verraten hatte.

»Es war doch ein Glück im Unglück des Selmatter Bergsturzes, nicht wahr, Herr Wildi,« äußerte er eines Tages. »Es hat Sie zu mir geführt. Ich denke, Sie werden es nie bereuen. Seien Sie versichert, nach allem, was ich schon von Ihnen gesehen habe, nehme ich Sie nicht klein. Ich trage stets Bedacht darauf, wie ich Ihnen einmal die Stelle schaffe, die Ihrer Einsicht und Kraft angemessen sein wird.« Ich fühlte mich wie ein junges, feuriges Roß, das den Sporn in der Flanke hat und mit gestreckten Sehnen nach seinem Ziel fliegen muß!

In dieses Glück hinein fiel nur dann und wann ein Schatten. Das waren die sehnsüchtigen Briefe Duglores.

»Lieber Jost,« schrieb sie, »wenn es mir schon bei der Familie Z'binden gut geht und mich die Fabrikantenleute halten wie ihr einziges Kind, so denke ich doch Tag und Nacht an dich. Tag und Nacht! O, was für eine große Freude hat mir dein Bild gemacht! Du bist ein Stolzer darauf, für mich fast ein zu Stolzer. Das Bild steht in meiner Kammer in einem Glas. Wenn ich am Morgen erwache, so erhebe ich zuallererst das Lämpchen zu dir, desgleichen zuletzt am Abend und rede lieb mit dir. Nein, meine Tränen fließen, und ich sage: ,Jost, was bist du für ein Böser, daß es dir in Hamburg so wohl gefällt! Frau Z'binden macht mir mit ihrer Rede viel Schmerzen. Sie sagt, ich sei ein törichtes Kind, daß ich mein Herz an einen hänge, der in einer so großen Stadt in der Fremde sei. Dann ist's mir, man schlage meine Seele mit Brennesseln. Auch Herr Z'binden lächelt manchmal so mitleidig und heimlich über meine große Liebe zu dir. Darum spreche ich lieber nichts mehr davon; es wird mir doch angst und bang und traurig, wenn ich sehe, wie sie zweifelsüchtig sind. Ich muß viel leiden, weil ich an dir hänge, Jost. Und doch liebe ich dich seit meinen Kindertagen. Das weißt du. O schreibe mir aufrichtig, warum du so gern in Hamburg bist. Nein, schreibe mir wieder einmal, wie du mir zuerst geschrieben hast. Du hast geschrieben, du hättest das Heimweh wie ein Narr! Ach, so schön berichtest du mir nie mehr. Im Traum strecke ich die Hände nach dir. Du aber fährst auf einem Schiff, und fort und immer weiter fort, und meine Arme können dich nicht erlangen.«

Der wehmütige Klang der Briefe bebte mir bis in die Tiefen der Brust; ich fühlte, wie ein Zwiespalt zwischen meiner jungen Liebe und den ehrgeizigen Plänen zu klaffen begann, mit denen mich das väterliche Wohlwollen Balmers erfüllte.

Am Alsterbecken Hamburgs und in den Anlagen ergrünte und erblühte aber bereits der rasche nordische Lenz. Als mich eines Sonntagmorgens ein Spaziergang weit vor die Tore der Stadt führte, da zitterte schon die anbrütende Frühlingswärme über den grünen Feldern der Wintersaat. Mir selber war leichtsinnig wie der Lerche zu Mute, die in den klaren, glänzenden Lüften schmetterte. Ich hätte steigen, steigen mögen, um von irgend einer Warte aus in die Frühlingslandschaften zu blicken. Schwer mißte ich die Berge. Nur um mir das Gefühl des Emporwanderns zu bereiten, um wieder einmal wie von der Bodenalpe oder vom Feuerstein hinab in die Welt zu sehen, bestieg ich den Nikolaiturm, den höchsten der Stadt. Lebenerfüllt, ein wunderschönes Zusammenspiel von Giebeln und Türmen, von Häusern und Wassern und mit Inseln grüner Lenzüppigkeit zwischen den sich mengenden Dächern, lag sie mir zu Füßen. Umsonst aber suchten meine Augen das Meer!

Mit dem Frühling kam Abwechslung in die Einförmigkeit meiner Magazinsarbeit. Ich durfte dann und wann die Schuten, die den Warenverkehr zwischen den Speichern und dem Hafen vermittelten, durch das Gewirre der Stadt begleiten. Bald gelangte ich an die kleinen Häfen, in denen die Flußschiffe der Binnenstädte ankerten, bald an die großen Kaie der Meerdampfer. Die mannigfaltigen und beweglichen Bilder, das Rufen und Schreien der Arbeiter, das Ächzen der Krane, die aus den Tiefen der Schiffsräume die Warenballen hoben, und das Schwirren und Pfeifen der kleinen Boote, die sich zwischen den Riesenleibern der Ozeanschiffe hindurchwanden, wurden mir mitten in nützlicher Arbeit eine vertraute Welt. Selbst einen volkstümlichen Freund fand ich unter den Angestellten des Hafens, Jürg Rungholt, den Aufseher einer kleinen Reederei. Wenn ich nicht in der Familie Balmer eingeladen war, verbrachte ich den Sonntag mit dem treuherzigen, humorvollen Manne, der eine Menge Anekdoten von Schiff und See zu erzählen wußte. Ein Spaziergang führte uns nach Ottensen, wo sein Schwager und seine Schwester eine kleine Gärtnerei betrieben. Bei den harmlosen Menschen verging der Nachmittag mit einer Besichtigung der Gärtnerei, einem Geplauder über das Wachstum der Pflanzen und einem Trunk Bier im Grünen, und unwillkürlich erinnerte mich der Aufenthalt bei den Gärtnersleuten an die stillen Sonntage in der Heimat, wo ich mit dem Vater über die Äcker der Berghalde gewandelt war und wir uns am Emporschießen des Bergkorns gefreut hatten.

Die schönsten Stunden der Erholung und Anregung waren mir aber stets in der Familie Balmer beschieden.

Sie besaß am lieblichen Süllberg bei Blankenese, der allerdings nach den Maßstäben meiner Heimat nur ein sanfter Hügel im breiten Lande ist, ein aus Baumkronenüppigkeit ragendes Landhaus. Seit die Natur wieder grün geworden war, fuhr die Familie jeden Sonnabend dahin und verlebte den Sonntag auf dem reizvollen Fleck Erde. Dabei war ich meistens ihr Gast und wußte kaum, was mir besser gefiel, ob die Fahrt auf der Elbe im Sonnengold des Vorabends, ob der weite Blick von der Höhe des Landhauses auf den wie einen See verbreiterten Strom und die grüngoldige Linie der Marsch am jenseitigen Ufer oder die Schiffe, die meer- oder stadtwärts am Horizont auftauchten, wie schöne Ungeheuer vor dem Landhaus vorüberglitten und in der Ferne verschwanden, oder die zauberischen Hochsommernächte des Nordens, in denen sich Abend- und Morgenröte beinahe die Hände reichten.

Am meisten liebte ich den Aufenthalt, weil Herr Balmer die Unnahbarkeit seines Wesens nie so sehr ablegte, als wenn er sich, bevor noch weitere Gäste eintrafen, im Morgensonnenschein unter den Bäumen seiner Villa erging. Er wünschte mich bei diesen einsamen Spaziergängen, selbst wenn er, die hohe, hagere Gestalt vornübergebeugt, in tiefem, schweigendem Nachdenken wandelte, nahe zu wissen. Nach einer Weile begann er das Gespräch, bei dessen wichtigeren Stellen er stillzustehen liebte. Häufig kam er auf Schulmeister Kaspar und die Heimat zurück; der Höhepunkt guter Laune war, wenn er einen Brocken Selmatterisch in sein schnarrendes Norddeutsch warf, es entging mir aber nicht, daß sein Heimatgedenken nur ein nebensächliches Spiel gegen die großen Geschäftspläne war, die ihn bewegten, und alles, was er mit reicher Hand an der Heimat tat, nur einer Laune und der Befriedigung seines Ehrgeizes diente.

Seine Urteile über die Menschen und Dinge waren oft lieblos und verächtlich, und zuweilen erschrak ich über die Erbarmungslosigkeit, mit der er den Stab über die ihm ergebensten Angestellten seines Hauses brach.

Seine Frau versuchte ihn zu überreden, daß er die Sekretärsleute Andreesen für einen Sonntag auf den Süllberg einlade, da es ihnen doch peinlich sein müsse, wenn nur ich, ihr Pensionär, zu Gaste geladen sei. Ich selber ergriff die Gelegenheit zu einer bescheidenen Fürsprache.

Da fuhr aber Herr Balmer mit rotem Kopfe auf. »Andreesen – Andreesen!« hielt er seiner Frau entgegen. »Soll denn mein Landsitz eine Erholungsstätte für die Kreaturen meines Hauses sein? Leute vom Schlage Andreesens braucht man, aber man will sie nicht weiter sehen, als es notwendig ist. Im Grunde sind mir diese selbstlosen Knechtsseelen zuwider wie die Fliegen an der Wand!« Er wandte sich zu mir und sagte scharf: »Herr Wildi, wer ein Hammer werden will, muß auf die Ambosse schlagen können und sie verachten, weil sie sich schlagen lassen! Wenn Sie das nicht wissen, kommen Sie nicht vorwärts in der Welt!«

Er war ein Mann mit zwei Seelen, einer abgründigen, in der es von Menschenverachtung brodelte, und einer gütigen, und mir wandte er nur diese zu. Unter den Wipfeln des Süllberges steckte er mir die Lichter und Leitsterne einer schönen, freien Zukunft auf und ließ es nicht bei Worten bewenden. Nach einem der anregenden Sonntage empfing er mich mit dem gewinnendsten Lächeln im geheimnisvollen Gesicht im Kabinett des Geschäfts. »Herr Wildi,« versetzte er, »ich möchte Ihnen meine Zufriedenheit über Ihr bisheriges Verhalten damit bezeugen, daß ich Sie wesentlich besser als die übrigen jungen Leute stelle und Sie jetzt schon in eine gewisse ökonomische Unabhängigkeit und in die Lage versetze, auf eigene Faust mit Geld umgehen zu lernen. Das ist keine kleine Kunst, Hamburg aber dafür ein großes Versuchsfeld. Nun versuchen Sie! Fallen Sie einmal herein – jeder erlebt's! – dann erst recht Kopf hoch! Aus den Niederlagen, die uns die Welt bereitet, lernen wir sie beherrschen. Also, ich habe die Kasse beauftragt, Ihnen je auf den letzten des Monats hundert Mark Taschengeld zu verabfolgen. Wir stehen ja doch in einem Ausnahmeverhältnis zueinander!« Ich hatte irgend etwas überschwengliches auf der Zunge, aber mit einer abweisenden Handbewegung versetzte Balmer: »Ich habe jetzt keine Zeit mehr für Sie, nur noch eins: am nächsten Sonntag veranstalten wir einen Gesellschaftsausflug nach Helgoland, wir erwarten Sie bei der Fahrt!«

Ich war der glückseligste Mensch in Hamburg und freute mich wie ein Kind. Das Meer! Das Meer! Wer hätte gedacht, daß Jost Wildi von Selmatt je das Meer sehen würde!


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