Jakob Christoph Heer
Der Wetterwart
Jakob Christoph Heer

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V

Es war bei der sommerlichen Viehhut auf der Bodenalpe zwischen mir und Duglore des gegenseitigen Sichlockens kein Ende, in Schelmerei, Neckerei und Sichvertragen gingen die wonnesamen Tage. Manchmal aber war es ganz still zwischen uns; wenn ich Duglörli nur in meiner Nähe wußte, war ich es schon zufrieden, und stundenlang konnte ich, den Kopf auf die Ellbogen gestützt, in Gras und Blumen liegen und an ihr vorbei nach den Orgeln und Münstern der Feuersteingewände spähen. An den Grasbändern schwebte die Herde des Selmatter Schafhirten wie eine Schar weißer Wölkchen dahin, oder auf den Planken kletterten die ärmeren Leute von Selmatt als Wildheuer umher, warfen ihre Bündel von Felsenabsatz zu Felsenabsatz, und, wenn das Sommertreiben des Menschenvölkleins fehlte, so ästen doch die Rudel der Gemsen wie leicht hingeworfene braune Schatten am Gefelse, zogen die Raubvögel schreiend ihre Kreise. Meine Augen aber waren vom vielen Sehen und Spähen so scharf geworden, daß mir nicht das Kleinste, was sich am Feuerstein regte, nicht einmal das Murmeltier entging, das sich irgendwo am Berg auf die Hinterpfoten stellte und zum Männchen erhob.

»Was bist du für ein langweiliger Kamerad!« rief Duglörli, die neben mir in den blühenden Alpenrosenstauden saß und mit geschickten Fingern aus lichtgoldenen Alpenprimeln eben einen Kranz zu Ende gewunden hatte. »Gefällt er dir?«

Ich sah hin, aber ich regte mich nicht.

Sie warf den Kranz in einer leichten Aufwallung des Zornes weit von sich, über meine Ruhe verzweifelt rief sie: »Jost, was denkst du nur in deinem Kopf? Das ewige Hinsinnen ist schrecklich. So haben es, glaub' ich, die alten Heiden getan, die Wildleute, die Gott hat vergehen lassen.« über diesen Gedanken mußte ich lachen, wurde munter und schielte nach der lässig Sitzenden. »Jetzt schaust du grad wie ein Heide,« scherzte sie, und als müßte sie sich vor meinen Augen schützen, hob sie den braunen Arm vor das Gesicht, in dem feine, samtene Röte und gesundes Sonnenbraun lieblich ineinandergeschmolzen waren. »Doch sieh,« rief sie, »dort kommt Melchi den Bergweg herunter, jetzt ist's aus mit dem Necken und Spaßen, jetzt müssen wir recht tun, Jost.« Leicht und zierlich wie eine Gemse sprang sie empor und grüßte den mit einer Last Wildheu daherschreitenden Burschen mit einem Jodler, der aus ihrem Mund fast so sanft wie ein Kirchenlied klang.

Ich selber hielt damals von dem jungen Melchi Hangsteiner so wenig wie jetzt von dem alten; er war aber wie jetzt noch ein achtbarer Mensch, und Duglörli war ihm deswegen stets ein bißchen Freund. Der Sohn jenes armen Flößers im Selachgrund, der so unglücklich über einen Felsen in den Fluß hinuntergestürzt war, daß er nun schon seit vielen Jahren mit lahmem Rücken das Bett hüten mußte, rackerte sich Melchi wie kein Erwachsener in Selmatt, damit der kinderreiche Haushalt vor der Gemeinde in Ehren bestehe. Wegen seiner Arbeitstapferkeit war der Bursche von jedermann wohl angesehen, auch von mir, aber die von Kindheit an gehegte stille Abneigung zwischen uns war mit den Jahren nicht kleiner geworden, weil ich überzeugt war, daß Melchi im stillen Duglörli gerade so stark liebe wie ich. Nur verbarg er es unter einer Hülle von Anspruchslosigkeit und Scheu, weil er gegen den stolzen Jost Wildi doch nicht aufzukommen vermochte.

Durch die Sommerhitze keuchte der starke, plumpe Bursche, der ein Jahr älter als ich und zwei Jahre älter als Duglore war, den Bergweg daher und warf, als er bei uns angelangt war, die schwere Bürde Wildheus von sich, streifte die Leinwandkapuze, die seinen Flachskopf schützte, in den Nacken, wischte sich mit dem Ellbogen Schweiß und Heustaub aus dem Gesicht und setzte sich rastend, doch von seiner Mühsal noch schwer atmend, zu uns. »Ihr beiden habt's lange gut,« keuchte er, »nur den lieben langen Tag ein bißchen zum Vieh zu sehen. Ihr habt ja ein Leben wie die Ratsherren.«

»Und du Melchi, du übertust dich. Du machst ja Bündel, die gegen die zwei Zentner sind, närrisch große Bündel, Melchi.« Das war nun keine Schelmerei Duglörlis, wie einen Augenblick vorher ihr Singen und Jodeln, sondern ein Wort warmer Gemütsaufrichtigkeit. Bei dem Lob ging ein verständnisvolles Lächeln über das häßliche Gesicht des starken Jungen, auf dessen Wangen die Sommersprossen dick wie mit der Maurerkelle angeworfen saßen, und dieses Lachen um den breiten Mund war überhaupt der einzige Schönheitsstrahl, dessen das schon etwas ältliche Gesicht Melchis fähig war. Wir plauderten über die Wildheuernte, über das Vieh, von dem herüber der Anschlag einer Blechglocke oder zweier dann und wann friedlich durch die große Sonnenruhe der Bodenalpe klang, und mädchenklug suchte es Duglore, wie stets, wenn wir drei beisammen waren, Melchi durch ein eifriges Gespräch zu verbergen, daß sie für mich mehr übrig habe als für ihn.

»Seht,« rief sie, »ist dort nicht eine Wolke wie ein sich bäumender Schimmel, auf dem ein Reiter mit fliegendem schwarzem Mantel sitzt,« und deutete mit schlankem Arm in die weiß und schwarz geränderten Silberschiffe des Himmels, die lässig über die ragenden Felsengipfel zogen. Wir beiden Bursche schauten hin; ich vergaß aber die Wolke über einer viel merkwürdigeren Erscheinung, die still und groß durch die Bläue des Himmels strich. Auch Duglörli sah sie und schrie: »Ein Wunder – ein Wunder!«

Das Wunder war eine sanft leuchtende, goldene Kugel, die, so groß wie der Mond, über dem Lichtmeßloch am Himmel schwebte. In langsamem, feierlichem Sinken begriffen, verschwand sie hinter den von der Abendsonne bestrahlten Wolken, erschien aber wieder an ihrem unteren Rand, tauchte frei in den lichtvollen Himmel und sank tiefer – tiefer.

»Ich sehe nichts!« versetzte Melchi etwas trostlos und begriff unsere Gebärde der Überraschung und des Erstaunens nicht. Endlich hatte ich seinem Blick den Weg nach dem im Abendglanz leis errötenden Ball gewiesen. Als er das sanfte Lichtspiel im blauen Himmel entdeckt, sprang er auf, warf die Arme auseinander und rief: »Wollen wir nicht lieber beten. Der Mond fällt vom Himmel. Das ist der Anfang vom Untergang der Welt.«

Duglörle blickte bei diesem Wort beklommen nach mir: »Jost, Jost, mir wird auch unheimlich,« seufzte sie. »Gott, wenn in der Nacht kein Mond mehr auf die Welt schiene, ich möchte nur hören, was der Vater spricht.« Wie ein Wild, das Angst hat und flüchten möchte, kindlich hilflos schaute sie nach mir.

Ja, was würde Kaspar sprechen? Wie im Banne eines Märchens starrte auch ich nach der lichten, schwebenden Kugel im Abendblau. Ist es der Mond, oder ist er es nicht? An der goldenen Scheibe hing noch etwas wie die Mondsichel, aber deutlich unterscheiden konnten es meine scharfen Augen nicht; auch wurde der goldene Ball zusehends kleiner, war nicht mehr größer als ein Kopf, nein, schon so klein wie eine Faust, sank rascher, ruhte hinter dem Lichtmeßloch einen Augenblick auf einer fernen, sonnigen Felsenspitze und glitt wie ein untergehendes Gestirn hinter sie hinab. Ich mochte in die silbernen Wolken und in das Blaue spähen, so viel ich wollte, der Himmel war leer, wie er sonst immer gewesen war.

Duglörli und Melchi atmeten auf. »Der Mond ist nicht mit einem Mordsknall zersprungen, wie ich gefürchtet habe,« versetzte der Wildheuer erleichtert. »Das Leben haben wir noch, aber an die ausgestandene Angst werden wir denken!« Damit ergriff der Bursche sein Bündel und schwankte, unter der Last verborgen, talwärts.

Die Erscheinung der leuchtenden Himmelskugel, die auch auf anderen Alpen des Selmatter Tals beobachtet worden war, gab abergläubischen Leuten unendlich viel zu sprechen; Schulmeister Kaspar aber, der zu Besuch auf die Alpe gestiegen kam, hatte seine besondere Ansicht über den glänzenden, aus den Tiefen des Himmels erschienenen Ball. »Jost,« versetzte er, den Langfinger wichtig erhebend, »das ist wohl nur aus Frankreich herübergeflogenes Teufelszeug. Die Franzosen, die unruhigen Köpfe, wollen immer etwas Besonderes für sich haben. Deshalb haben sie auch die Montgolfieren oder Luftschiffe erfunden. Das, was ihr gesehen habt, war wohl ein Luftschiff, ein riesiger runder Sack von Seidentuch, unter dem in einem angehängten kleinen Kahn ein Feuer brennt. So fliegt das Satansschiff weit über die Welt, und wenn einer sich an Gott und an seinem Leben versündigen will, kann er sich neben dem Glutfeuer in den Kahn setzen und über die Länder fahren. Es sind aber nur die verworfensten Menschen, die es tun, und in der Luft werden sie leicht tollsüchtig, daß sie entweder die Montgolfiere selber anzünden oder, vom Schwindel ergriffen, aus dem Kahn springen und totstürzen.«

Ich erhob verschiedene Einwendungen: »Wir haben kein Feuer, keine Menschen gesehen, nur eine Sichel unter dem Ball, die ein Kahn sein könnte.« Da schaffte Kaspar bei seinem nächsten Besuch einen seiner Folianten auf die Bodenalpe empor und wies mir auf einer der letzten Seiten des Buches das Bild eines Ballons mit der Unterschrift: »Pilâtre de Rozier und Marquis d'Arlande steigen am 28. Oktober 1783 bei dem Schlosse Muette in der Nähe von Paris mit einer Montgolfiere in die Luft.« Ich verschlang das Bild und die dazu gegebene Beschreibung und antwortete dem Schulmeister mit herzlicher Zustimmung: »Nun glaube ich selber, daß die Kugel, die wir gesehen haben, ein Luftschiff war. Ich möchte nur gern wissen, ob in dem Ballonkahn Menschen gewesen, und wo sie zur Erde gekommen sind.« Kaspar aber erwiderte, die Freude in den ehrlichen Augen: »Gelt, wie ich damals wohl getan habe, statt eine beschwerliche und teuere Reise bis nach Basel an den Rhein zu machen, in Gauenburg die Bücher zu kaufen, die über so viel Nützliches und Belehrendes Auskunft geben.« Auch Duglörli mengte sich ins Gespräch.

»O Jost,« sagte sie sorgend und lieblich mahnend, »was kümmerst du dich um allen Handel und Wandel und Unfrieden der Welt? Was hülfe es uns, wenn wir wüßten, wohin die Montgolfiere gewandert ist? Sie wird ihr Ende und Ziel schon gefunden haben.«

Dazu nickte Schulmeister Kaspar; ich aber versetzte lachend: »Es kümmert mich halt! Es muß doch wie im Himmel schön sein, in einem Luftschiff über Dörfer, Seen und Berge zu fliegen. Das möchte ich einmal gerade so still und heimlich erleben wie den Sonnenaufgang auf dem Feuerstein an jenem Morgen, als du, Duglörli, meine Kühe ohne einen Hüter gefunden hast.«

Dem Schulmeister und Duglörli stand über dem raschen Wort der Verstand still. Wenn mir plötzlich Flügel aus den Schultern gewachsen und ich wie ein Adler über die Berge davongeflogen wäre, hätten Vater und Kind nicht erstaunter und erschrockener sein können.

»Jost – Jost,« rief Kaspar bestürzt, »so abgründige Gedanken hast du und dein Vater hat sie nicht abtöten können mit den vielen Schlägen, die er dir gegeben hat!« Duglörli aber begann heftig zu weinen. Ich spürte, wie ich den Menschen, die ich am meisten liebte, mit einem einzigen Wort unheimlich geworden war. Ich aber konnte mit ihnen nicht im Gefühl eines leisen Zerwürfnisses leben, und suchte durch ein stilles, sanftes Betragen nun sommerlang das Vertrauen Duglörlis und ihres Vaters wiederzugewinnen; doch wurde es Winter, jener letzte schöne, heimelige Winter, den wir in Selmatt verbrachten, bis über den kühnen Worten jugendlichen Drangs und wilden Blutes wieder die Eintracht zu stande kam, die sonst Kaspar, Duglore und mich mit der Wärme des Gemüts verband.

Als ich wieder einmal zum Tafelrahmen in die Wohnstube Kaspars trat, lachte Duglörli inniglich: »Nun wissen wir, wo das Luftschiff sein Ziel und Ende gefunden hat. Rat einmal!« – »Was soll ich wissen,« versetzte ich fast gleichgültig, aber doch in heimlicher Spannung nach dem Schicksal des Fahrzeuges. Da legte sie das »Gauenburger Männlein«, einen im Gebirgsland verbreiteten Volkskalender, vor mich hin. Und wir beide guckten darein. In dem Kalender war erzählt, daß der Ballon, der so viel Angst und Schrecken im Bergland verursacht habe, ohne daß er mit Menschen besetzt gewesen wäre, einer französischen Militärabteilung entflogen sei, und ein Bild schilderte, wie Jäger die zerrissenen Reste der gespenstischen Blase im Hintergrund eines Alpentals elendiglich an einer dürren Tanne hängend gefunden hätten.

Da war ich enttäuscht und mochte nicht mehr vom Luftschiff sprechen. Duglore und ihr Vater aber lächelten heimlich, daß meine Begeisterung für das fliegende Schiff einem kühlen Schweigen gewichen war.

In demselben Kalender stand unter den »hervorragenden Männern aus der Heimat« Hans Konrad Balmer, der große Freund Schulmeister Kaspars, abgebildet. Nun konnte sich Kaspar nicht genug an dem Bilde weiden und zeigte es mir mit freudestrahlenden Augen. Ich vermochte in dem Porträt die vielen menschenfreundlichen Züge, die Kaspar seinem Freunde nachrühmte, nicht zu entdecken; mir schien aus dem Gesicht des Handelsherrn, das mit scharfen Augen aus weißen Koteletten vorblickte, eher ein Mann zu sprechen, der der Welt die Worte entgegenhielt: »Ich bin's! Ich hab's! Ich vermag's! Wer will mir widerstehen?« Aber sonderbar! Der Ausdruck der siegreichen Wucht und Rücksichtslosigkeit in diesem Antlitz fesselte mich stärker, als wenn die Güte mit Engelsstimmen daraus geredet hätte. Oft dachte ich: »Das wär's! Das wär's! Ein Mann wie Hans Konrad Balmer werden!« Als der Schulmeister in diesen Tagen auch noch einen kurzen, aber liebevollen Brief von Balmer erhielt, da kannten das Glück und die Begeisterung der schlichten Seele keine Grenzen. Ein paar Abende ließ er den Hobel ruhen und schrieb dem gefeierten Jugendkameraden eine Antwort, die den Umfang des erhaltenen Briefes reichlich zehnmal übertraf. »Jost, es steht auch von dir drin,« lächelte er, als er das Schreiben unter großer Umständlichkeit vor einer Kerze siegelte, »Hans Konrad und du dürfen keine Unbekannten bleiben.« Aus zwei Kalendern schnitt er die Bilder seines Freundes, zog sie auf steifes, weißes Papier, setzte ein Schutzglas darüber und umgab sie mit einem Rahmen von gemalten Alpenblumen, wie er vorher keinen so kunstreich erdacht und erschaffen hatte. Mit dem einen Bild schmückte er seine Stube, das andere schenkte er mir, und freute sich, als ich ihm sagte, ich hätte es in meiner Kammer aufgehängt.

Mit gemütlichen Plauderabenden verging der Winter. Kaspars kluger Kopf strahlte, zuerst über den Brief Balmers, dann über einen größeren Auftrag von Rahmen für Luxustafeln. Darein setzte er nun seinen ganzen Eifer. Ein Kirchenlied pfeifend, legte er wie ein Künstler auf die grüngestrichenen Rahmen Häufchen von Farben: etwas steif zwar entstanden Blumen, wie sie auf unseren Alpen wachsen, Sonnensterne, aus deren goldenem Knopf die weißen, schmalen Blätterstrahlen nach allen Seiten liefen, Soldanellenglöcklein mit dem Gehänge zierlicher Fransen, das Alpenstiefmütterchen mit rundlichem Gesicht und rötlichgelben Tupfen, die Auge, Nase und Mund vorstellen konnten. Wenn es ein recht schöner Rahmen werden sollte, zog er eine Ranke durch die Blumen und setzte darauf noch Vögel wie die Bergammern, die, auf einem Ast sitzend, sich das Gefieder mit dem Schnabel ordnen, oder er war mit den Blumen sparsamer und malte Sprüche auf die Leisten:

»Halte Ordnung, liebe sie,
Ordnung spart dir Zeit und Müh!«

In seiner emsigen Arbeit war er überzeugt, daß die Strophen der Lebensweisheit beitragen würden, einem jungen Menschenkind die Pilgerschaft durchs Tal des Irdischen so weit zu erleichtern, als gute Lehren und gute Grundsätze uns Menschenkindern über die Steine manches Anstoßes hinweghelfen können.

Duglörli aber gefiel mir als das Kleinod der Schulmeistersfamilie je länger, desto herzlicher. Es war, als ginge von ihrem lieblichen schmalovalen Gesicht, von ihren dunkeln Augen und ihrem braungoldenen Haar ein lichter Schein, ein Sonnenstrahl der Sauberkeit und Freude durch das Haus. Obgleich zart wie ein Alpenglöckchen, stand sie der kleinen, stillen Mutter hilfreich zur Seite, schaute wie ein jüngeres Mütterchen lieb und geduldig zu den Bedürfnissen der um sie bettelnden kleinen Geschwister, und was sie begann, und was sie tat, das lief ihr leicht und schmiegsam von der Hand. Am reizvollsten aber fand ich sie stets beim Abendlobgesang, wenn der Jubel ihrer Stimme schön und andächtig durch das Kirchenlied drang, als hätte sie Gott eigens für ein großes Glück zu danken.

Ohne daß ich ihre Lernstunden besonders bemerkt hätte, ja als ob ihr die Kunst des Spiels anfliegen würde, entfaltete sie sich zur Dorfkünstlerin. Dann und wann begann sie an ihres Vaters Statt die Orgel zum Gottesdienst in der Kirche zu spielen und saß während der Predigt als liebliches Jugendbildnis schön und bescheiden in der Nähe ihres Instrumentes mitten unter den wie aus Fels gemeißelten Bauernköpfen der Emporkirche. Die Gemeinde aber sagte: »Sie spielt heiliger als der Schulmeister selbst. Man meint gar, unter ihren Händen würden die Orgelpfeifen lebendig und priesen aus eigener Seele den Herrn!« Über dieses Lob war niemand glücklicher als Kaspar. »Ja, wenn Duglore in einer Stadt lebte, so würde sie vielleicht gar eine berühmte Sängerin, an deren Spiel und Gesang sich eine Menge Menschen erheben könnte,« sagte er mit Feierlichkeit, »aber es ist auch schon ein Verdienst, daß sie den hartköpfigen Selmattern in die Herzen und in die Gewissen spielt. So spüren sie doch den ewigen Gott!« »Einverstanden,« dachte ich, kränkte mich aber an meinem Kirchennachbar Melchi Hangsteiner, der von unseren Chorstühlen her mit den wasserblauen Augen unter den hellgelben Brauen und Wimpern während des Gottesdienstes wie bezaubert und gebannt nach Duglore starrte, die auf der Emporkirche allen Blicken freigegeben war.

An einem Sonntag im ansprießenden Frühling ärgerte ich mich an Melchi und seiner offenkundigen Bewunderung für Duglore so stark, daß ich den Zorn darüber ein paar Tage mit mir trug. Der wird sich doch nicht einbilden, grollte ich, daß für ihn im Garten des Schulmeisters Kirschen reifen.

Da schimmerten in Frühlingswinden und Sonnenschein der rostbraune Kopf und die leicht gekleidete Gestalt des Mädchens von der Wiese beim Kirchhof. Sie steckte Wäsche an ein Seil, und wie sie mich auf der Dorfstraße erspähte, rief sie: »Jost, du könntest mir helfen, das Seil weiter an den Bäumen dahin zu spannen.« Ich lief zu ihr; ich wußte aber selber nicht, wie's mich überkam: als sich Duglore just auf die Zehen gestellt hatte und mit ausgestreckten Armen ein Stück blühweißer Wäsche in eine Klammer heftete, umschlang ich die schlanke Lenzgestalt mit meinen Armen. »Der Pfarrer sieht's ja,« bat sie erschrocken, »die Toten sind so nah!« »Und ob,« erwiderte ich mit jäh aufsteigender Lust, »dich will ich jetzt herzen und küssen!« Sie wehrte und sperrte sich; über den Widerstand ereiferte ich mich; mit einer Heftigkeit, die mir selber neu war, die ich aber wonnig und schreckhaft empfand, überwältigte ich die junge Kraft. »Duglörli, rühr' dich, wenn du kannst!« rief ich, ihre junge kindliche Fülle an meine Brust gedrückt. Sie antwortete nicht; sie knirschte nur zornig mit den Zähnen, eine unwirsche Bewegung ihres Kopfes, die dichte, rostbraune Haarflut löste sich, streifte mein vorn übergebeugtes Gesicht; ein feiner Duft strömte daraus, der mich berauschte. Zwischen Hals und Mieder drängte ich mein Gesicht in wilden Küssen. Endlich gab ich die Erschlaffte frei – und wunderte mich selber des tollen Überfalls.

Duglore sprach nicht, sie weinte nicht. Wie gebrochen und betäubt lehnte sie an dem Gartenzaun und nestelte mit krampfhaft erbebenden Fingern das Mieder zusammen. Ihr totenblasses Gesicht schaute wie zerstört durch die niedergeglittenen Haarsträhnen; ein brennendes Leid stand in den schreckhaft großen Augen, eine Trauer wie der Tod. Herzklopfende Reue, rieselnde Angst um das Mädchen mischte sich mir in das Wonnegefühl des jähen, jugendlichen Kraftausbruches, ich mußte etwas sprechen, tun. Mit einer Weichheit und Zartheit, die ich mir vorher selber nicht zugetraut hatte, hob ich mit der Hand das schlaff hängende Haupt des Mädchens; wie eine Träumende gab sie meiner sanften Bewegung nach, sich halb an mich lehnend, die Lider über den Augen geschlossen, ruhte sie. »Duglörli,« flüsterte ich und strich ihr die Haarsträhnen aus dem blassen Gesicht, »ich habe dich ja aus innigstem Herzen lieb, Duglörli – ich nehme einmal kein anderes Mädchen zur Frau als dich.« Da schlug sie wie aus wehem Traum die dunkeln Augen zu mir empor, lächelte mit zitterndem Mund und begann, vollends zum Bewußtsein gelangt und sich willenlos an meine Brust lehnend, zu weinen und zu schluchzen. »O Jost,« stotterte sie, »wie hast du gut geredet! Ich könnte ja sonst nicht leben in der Schande, die du mir angetan hast; in die Selach müßte ich springen. Was sind das für tolle Geschichten!« Und weinend und lachend fing sie an, viel Törichtes und Liebes zu stammeln. »O, du jähes Blut! Ich habe aber schon lange gewußt, daß du ein Wilder bist! Das habe ich gewußt, wie du von dem Luftschiff, dem Teufelszeug gesprochen hast. Und immer, immer! Nun du aber gesagt hast, du liebest mich, so liebe ich dich auch! Und habe dich stets geliebt und will dich noch mehr lieben. Ich liebe dich ewiglich.« Sie dachte nicht mehr daran, daß der Pfarrer es sehen könnte, und daß die Toten nahe seien; sie stand nur demütig wie eine Magd.

Von diesem blühenden Lenztag an waren wir Stillverlobte! Duglore ging in ihrer jungen Liebe, als trüge sie eine Krone von Gott; der Abendlobgesang strömte noch brünstiger von ihren Lippen, durch ihre Orgeltöne rauschte das Jauchzen ihrer Seele, und es war eine feine jugendliche Würde an ihr, die mein rasches, gärendes und brausendes Blut bezähmte und mich ihr nur noch anstandsvoll begegnen ließ. In meiner eigenen Liebe aber begrub ich alles quälende Sehnen nach den Bildern der Welt. Ich wollte, wie es der Wunsch meines Vaters war, ein stiller Bauer im Selmatter Tal werden und dachte nicht daran, daß ein im Blauen ziehendes Luftschiff ein Menschenschicksal umstürzen kann.


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