Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Dreißigstes Kapitel

Quint erreichte, nachdem er sich plötzlich und überraschend aus dem Kreise der Mendels losgemacht hatte, unerkannt von der das Gasthaus umlagernden Menschenmenge und mitten durch sie hindurchgehend, den Grünen Baum. Er wurde sogleich festgenommen und wiederum durch die Menschenmenge, die ihn bedrohte und mißhandelte, abgeführt. Sie drohten ihm mit den Fäusten, sie schlugen, ja sie spien nach ihm, weil sie ihn anders nicht erreichen konnten, denn sie meinten, daß er unter der Maske frommer Heuchelei zu den reißenden Wölfen im Schafspelz gehöre und der unnatürliche Mörder des fünfzehnjährigen Mädchens sei.

Auf dem Polizeikommissariat wurde der Gefangene den inzwischen herbeigerufenen Eltern der kleinen Ruth vorgestellt, die natürlich ihren ehemaligen Pflegling sogleich erkannten. Diese beiden, in ihrer Gebrochenheit, erschütterten Quint, freilich ohne daß man, bei der Totenblässe seines ruhigen Angesichts und da er auf alle Fragen schwieg, äußerlich etwas davon bemerken konnte. Selbstverständlich wurde das Schweigen durchaus nicht zu seinen Gunsten ausgelegt.

Man war im Miltzscher Kreise wie von einem Drucke befreit gewesen, als der Narr des Gurauer Fräuleins, unmittelbar nach seiner Feldpredigt, aus der Gegend verschwunden war. Einige sagten, seine Mutter habe ihn abgeholt, andere, ein Methodistenprediger habe ihn aufgegriffen und nach Amerika übergeführt, wo solche Bekenner wie er sehr geschätzt seien. Nach einigen Wochen redete man nur noch bei den Heidebrands und beim Lehrer Krause zuweilen von ihm.

Ruth war in das Haus ihrer Eltern zurückgekommen. Aber sie trug ein befangenes und verschleiertes Wesen zur Schau, das ihre Eltern in Sorgen hielt und alle Bemühungen des jungen Beleites, wieder auf den alten vertraulichen Fuß des Verkehrs mit ihr zu gelangen, vereitelte. Die Leidenschaft dieses armen Jungen wuchs, je träumerischer und mysteriöser das Kind ihm begegnete. Das Mädchen war aber undurchdringlich in seiner Verschlossenheit.

So geschah es, daß man von dem Verschwinden der kleinen Ruth eines Tages vollkommen überrascht werden konnte. Als man sie eines Morgens wecken wollte, fand man nämlich ihr Zimmerchen leer, ihr Bett unberührt und konnte, trotz allen verzweifelten Suchens, das man sogleich allgemein anstellte, nirgendwo, weder im Gutshof noch im Park, weder in Scheunen, Ställen noch Oberböden eine Spur von ihr auffinden.

Auf einem gewissen Balken, hoch oben in einer mit Weizen angefüllten Scheune, saß nämlich das Mädchen, das überhaupt gern versteckte Plätze aufsuchte, ein Bein übers andere geschlagen, Stunden, ja halbe Tage lang. Sie las dort, bei einem schmalen Strahl, der durch eine Luke des Daches drang, in einem mit Goldschnitt versehenen, durch viele fromme Buchzeichen geschmückten Testament, das Pastor Beleites ihr zum Feste der Konfirmation geschenkt hatte. Man kannte zum großen Teil die Lieblingsplätze, die sie in ihrer Neigung zur Einsamkeit und zu ungestörter Lektüre bevorzugte, hatte aber schließlich doch alle vergeblich nach einer Spur des Mädchens durchsucht.

Man sagte sich, da man von Anfang an mit der schlimmsten der Möglichkeiten, dem Tode des Mädchens, rechnete, sie möchte vielleicht auf dem Balken der Scheune eingeschlafen und in die wohl dreißig Meter tiefen Getreidelagen, in denen ja Höhlen vorhanden waren, hinabgerutscht und verschüttet sein. Man sandte Knechte und Mägde hinauf und ließ tausend Garben abtragen. Man durchsuchte den Schloßteich, weil man auch den Gedanken an einen Anfall schwerer Melancholie und Geistesumnachtung nicht gänzlich abweisen durfte. Auch konnte Ruth, die zuweilen im Nachen die Schwäne fütterte, an der sogenannten tiefen Stelle des Weihers verunglückt sein. Gärtner und Förster durchsuchten den Wald, weil es bekannt war, wie Ruth zuweilen lesend in irgendeinem alten Baumwipfel, ebenso wie in der Scheune, Stunden zubrachte.

Endlich verfielen alle auf Quint, und man hielt es für wahrscheinlich, Ruth könne in ihrer Schwärmerei aufs Geratewohl in die Fremde gezogen sein, um ihr Idol wieder aufzusuchen.

Leider fand man, wie es in ähnlichen Fällen zu gehen pflegt, den einzigen Anhalt nicht, der vielleicht zur Entdeckung der kleinen Ruth und zu ihrer Rettung geführt hätte. Es hatte sich nämlich ein überaus häßlicher Kerl vor Wochen auf dem Gutshofe eingestellt und war in Arbeit genommen worden. Man hätte ihn eigentlich kennen müssen, da es derselbe böhmische Josef war, der Quinten ehemals in das Gärtnerhaus eine Nachricht gebracht und den man auch am Tage des großen Skandals in Quintens Nähe bemerkt hatte: aber da er nur auffallend häßlich, im übrigen nichts als ein stiller, tüchtiger Arbeiter war, auch, als er erschien, bereits der Ostervorfall nicht mehr erörtert wurde, achtete man seiner weiter nicht.

Es fiel auch nicht auf – Ruths Flucht war am Sonntagmorgen entdeckt worden –, daß der häßliche kleine Wicht, der am Sonnabendabend seinen Wochenlohn, wie alle übrigen Gutsarbeiter, empfangen hatte, am Montagmorgen nicht wiederkam. Fand doch ein immerwährender Wechsel statt, so daß ein fehlender Arbeiter zuweilen durch drei bis vier neue, die frisch eintraten, ersetzt wurde. Hätte man aber am Montagmorgen das Fernbleiben jenes Pudelmenschen bemerkt und mit dem Verschwinden Ruths in Verbindung gebracht, so wäre man, wie sich später ergab, wahrscheinlich ihrer, noch lebend, am gleichen Tag auf der Spur des Halunken habhaft geworden. So aber wußte man am Dienstagabend weder etwas von ihm noch von Ruth noch von Emanuel Quint, als die telegraphische Nachricht von der Ermordung eines jungen Mädchens in der Nähe von Breslau alle Zweifel auf einmal durch die kalte, grauenvolle Gewißheit verstummen ließ.

Die Nachricht, die begreiflicherweise von den Eltern und dem jungen Beleites in einem an Wahnsinn grenzenden Zustand mühsam entziffert wurde, machte über die Kleidung der Toten Angaben. Schwarze Knöpfstiefel, braune Strümpfe, weiße Strumpfbänder, Unter- und Oberkleider waren genannt. Ein grüner, fußfreier Lodenrock, ein Jackettchen von gleichem Stoff und derselben Farbe. Braune Handschuhe, ein brauner Hut, so und so gezeichnetes Hemd, so und so gezeichnetes Taschentuch bildeten weitere Erkennungszeichen. Das Alter der Toten wurde zwischen vierzehn und siebzehn, ihre Gestalt als schlank und mittelgroß angegeben. Endlich hatte man, nach dem Bericht, in ihrer Nähe ein Neues Testament, das Geschenk eines Pastors Beleites an Ruth Heidebrand, aufgefunden.

Dieses Stückchen Papier mit den blauen Schriftzügen schlug wie mit furchtbaren, eisernen Hämmern auf die Köpfe und Herzen derer los, die es in Händen hielten. Ein Kragen aus Katzenfell war genannt. Frau Heidebrand eilte sofort, mehrmals zusammenbrechend, die Treppe hinauf, nach Ruths Kleiderschrank. Der Kragen war fort. Sie sah die Freude des Kindes aufhüpfen an jenem elften Geburtstag Ruths, wo das bescheidene Fellchen, unter den anderen Geschenken, auf dem Tisch zwischen den elf brennenden Kerzen und der größten, dem sogenannten Lebenslichte des Töchterchens, lag. Für immer waren nun das Lebenslicht sowie alle übrigen Kerzen ausgeblasen.

Da nun also die Fragen der schwergeprüften Eltern von Emanuel auf dem Polizeibüro nur durch Schweigen beantwortet wurden, bestärkte sich der Verdacht ganz allgemein, er müsse, sofern er nicht selber der Mörder war, jedenfalls irgendwie mit dem Morde in Verbindung stehen. Es war herzzerreißend, wie die verwaiste Mutter, Frau Heidebrand, ihre unwiederbringlich verlorene Tochter in allen Tönen der Verzweiflung und qualvollen Wut von Quint zurückforderte. Herr Heidebrand selbst war still und gefaßt und sah, wie er sagte, diese schreckliche Heimsuchung als eine verdiente Strafe des Himmels an.

 

Emanuel wurde in das Untersuchungsgefängnis, das sich in einem Ziegelrohbau, dem sogenannten Inquisitoriat, befand, eingeliefert, wo er gebadet und in eine Zelle allein gesteckt wurde. An mehreren folgenden Tagen ward er dem mit Untersuchung des Falles betrauten Richter vorgeführt, der aber nicht einmal das Unumgängliche über seinen Namen, Geburtsort und ‑tag aus ihm herausbrachte. »Wenn Sie nicht reden«, sagte der Richter zu ihm, »so kann das, falls Sie unschuldig sein sollten, höchstens zu Ihrem Schaden sein.« Hätte Emanuel auch nur einen Namen aus dem Kreis seiner Jünger genannt, so wäre ein Anhalt gegeben und die Untersuchung beschleunigt worden. Je genauer und je ausführlicher er seine Angaben gemacht haben würde, um so eher hätte man seine Unschuld an den Tag gebracht. Allein es schien beinahe, als ob er wünsche, unschuldig für schuldig erklärt zu sein.

Da Emanuel einen privaten Anwalt für seine Sache, ja überhaupt einen Anwalt nicht heranziehen wollte, hatte man ihm, wie es üblich ist, einen Verteidiger von Amts wegen zur Seite gestellt. Aber auch dieser Mann konnte aus Quinten nichts herausbringen. Zwar sagte er nicht, daß er schuldig wäre, aber ebensowenig irgend etwas, wodurch unzweideutig auf ein Bewußtsein von Unschuld zu schließen war.

Der Staatsanwalt glaubte an seine Schuld. Er hatte viele Zeugen verhört, und es war ihm gelungen, die seltsame Laufbahn Emanuel Quints wenigstens teilweise aufzulichten. Die Scharfs, die Hassenpflugs, der Agitator Kurowski, Bruder Nathanael Schwarz, der Müller Straube, die Pastoren Schimmelmann und Schuch standen bereits in seinen Akten, und er hatte, in einer erheblichen Anzahl von Protokollen, sehr viele wenig günstige Zeugnisse gegen Quint zusammengebracht.

Der Kern seiner Meinung über Quint hatte so ungefähr diese Gestalt gewonnen:

Der Delinquent hatte außerehelich das Licht der Welt erblickt. Der Vater wurde von seiner Mutter nicht genannt und blieb also unbekannt. Man weiß, wie die große Mehrzahl dieser nicht wohlgeborenen Kinder auf verschiedenen Wegen, besonders auf dem Wege des Verbrechens, zugrunde geht. Auch der Staatsanwalt wußte das. Mit Arbeitsscheu, alias Faulheit, war nun im Falle, der vorlag, wie so oft, der erste Schritt auf der Bahn des Verbrechens gemacht worden. Der Stiefvater Quints, der Bruder Quints, ja selbst die rechte Mutter des Menschen, diese unter einem nicht endenwollenden Tränenstrom, erbrachten dafür die Bestätigung.

Der Müßiggänger, der zu Hause nicht gerne sein mochte, weil er dort zur Arbeit angehalten zu werden fürchten mußte, fing zu vagabundieren an. Dies war ihm aber endlich ebenfalls unbequem, und er sagte sich, vielleicht durch schlechte Gesellschaft angeregt, daß er die gläubige Einfalt seiner Mitmenschen durch irgendeinen dreisten Schwindel sich nutzbar machen müsse. Dies gelang ihm über Erwarten, und er nistete sich in zynischer Weise bei den Brüdern Scharf als Schmarotzer ein. Mit systematischen Schwindeleien hatte er nun die leichtgläubigen Webersleute seinen Zwecken dienstbar gemacht, so daß er sie in ihrer Verblendung nach und nach, dem raffiniertesten Hochstapler gleich, um ihr ganzes Vermögen prellen konnte. Er wurde gefaßt und per Schub nach seiner Heimatsgemeinde zurückgebracht. Er hatte sich irgendwie den Beruf eines Heilkünstlers angemaßt, wie denn solche Leute und geborene Scharlatane, einmal entlarvt, um neue Mittel zu neuen Betrügereien niemals verlegen sind. Er ging noch weiter, er gab sich, in seinem Zynismus selbst vor dem Heiligsten nicht zurückweichend, für einen Wundertäter, für einen Apostel, ja für den wiedergekommenen Christus selber aus, womit er sich, obgleich im beschränkten Kreise, den größten Betrügern aller Zeiten anreihte. Da aber empörte sich der gesunde Sinn seines Heimatsorts, so daß er über einen Denkzettel, leider einen, der nicht durchgreifend war, zu quittieren hatte.

Jetzt nahm sich eine allgemein verehrte Dame in christlicher Liebe seiner an, und man suchte den Menschen, unverdienterweise, mittels der Langmut vieler ehrenwerter und geachteter Persönlichkeiten, in ein bescheidenes und geordnetes Dasein zurückzuleiten. Man umgab ihn in Miltzsch und Umgebung mit vieler, zwecklos vergeudeter Liebesmüh'. War doch die Gesinnung des entschlossenen Parvenüs – was er in jenen Tagen war! – inzwischen durch sozialistische, anarchistische und nihilistische Ideen heimlich noch tiefer vergiftet worden. Zum Dank für genossene Wohltat knüpfte dieser Dorftartüff eine unerlaubte Beziehung mit der kaum konfirmierten Tochter seiner Wohltäter an (– der Beamte zögerte nicht, zugunsten seines Kalküls auf die Tote einen Schatten zu werfen –), die er, mit der ihm eigenen Routine, auf Grund ihrer kindlich gläubigen Urteilslosigkeit ganz in seine Gewalt bekam.

Aus dem weiteren Verlauf der Lebensschicksale Quints schloß der öffentliche Ankläger auf seine Gefährlichkeit. Er hatte staatsgefährliche Äußerungen, die der Betrüger laut vieler bestimmter Zeugenaussagen öffentlich immer wieder getan hatte, sorgsam zusammengetragen. Sie waren unter den Spitzmarken: Gegen die Monarchie! Gegen die Religion! Gegen die Kirche! Gegen den Staat! rubriziert. Quint hatte sich für die freie Liebe erklärt und mit Entschiedenheit gegen das Privateigentum, wobei, was die Sache nur noch verschlimmerte, das christliche Mäntelchen herhalten mußte.

Der Staatsanwalt hatte den Schlächtermeister und Wirt vom Grünen Baum sowie den Restaurateur und Geschäftsinhaber des »Musenhains« verhört oder verhören lassen, und besonders das Protokoll des sogenannten schwarzen Karl war von allen für Quint das am meisten belastende. Der Beamte sagte, selbst das Gefühl dieses nicht gerade musterhaften Christen habe sich gegen die Blasphemien dieses Menschen aufgebäumt.

Der untersuchende Richter sowie der Offizialverteidiger waren von der Schuld Emanuels nicht überzeugt, trotzdem man bei der Leiche Ruths, und zwar unter dem Hemd, auf bloßer Brust, einen Brief gefunden hatte, der »Emanuel Quint« unterschrieben war und das Mädchen nach Breslau in Quintens Umgebung, mit einigen schwülstigen, überspannten Phrasen, die von der Nähe des Neuen Zions faselten, lud. Der Staatsanwalt gab zwar zu, der Brief sei von dem Delinquenten selbst vielleicht nicht geschrieben, da er eine unbeholfene Hand zeigte, die den Quintschen Schriftproben unähnlich war, aber er meinte, er wäre diktiert worden. Er behauptete ferner: es sei bezeichnend für die tiefe Verderbnis Quints, wenn er wirklich nur durch Gelegenheit zu dem widernatürlichen, bestialischen Morde gekommen sei, daß er den traurigen Mut besessen habe, das wohlerzogene Kind in jene Lasterhöhlen herbeizulocken, jenen Sumpf, der hier in der Stadt das Element seines Daseins gewesen war.

Nun also: Untersuchungsrichter und Verteidiger teilten diese Ansichten nicht. Man hatte Quinten den Brief gezeigt und auch daraufhin nur ein Schweigen zur Antwort erhalten. Eines Tages boten sich Rittergutsbesitzer Glaser, Geheimrat Mendel und Maler Kurz als Zeugen dafür an, daß sie Emanuel Quint der ihm zur Last gelegten Tat nicht für fähig hielten. Dies tat Herr Glaser, obgleich sein Sohn durch Quint, an jenem Abend im »Musenhain«, arg verwirrt und betört worden war. Er hatte nämlich von Benjamin am nächsten Tage einen ausführlichen Brief erhalten, worin er in aller Form auf seine künftige große Erbschaft verzichten wollte, war daraufhin nach Breslau gereist und hatte gefunden, wie sein Sohn in seinem Entäußerungsdrange bereits den Inhalt seiner hübschen Wohnung zur Hälfte verschenkt hatte. Er lachte, packte ihn auf und schickte den jungen Menschen mit einem seiner Freunde, einem jungen Arzt – und zwar unter dessen Verantwortung –, nach dem Haag und später auf eine Nordlandreise.

Dominik und Elise Schuhbrich waren tot in einem kleinen Wäldchen draußen, unweit der Oder, gefunden worden. Sie hatten, nach Übereinkunft, mit eigenem Willen dort ihrem Leben ein Ziel gesetzt. Eine Kugel aus dem Revolver Dominiks hatte die Geliebte, eine zweite ihn selber hingerafft. Er lag, als beide, erst einige Tage nach der Tat, von polnischen Flößern entdeckt wurden, mit seiner Stirn auf Elisens Brust.

Natürlich belastete dieser Vorfall Quint, besonders als man nach einiger Zeit genügende Anhaltspunkte zu haben meinte, in Quint den Verderber und Verführer auch dieser Jünglingsseele zu sehen. Der Häftling wurde denn eines Tages auch dem Vater Dominiks, einem Postbeamten, vorgestellt, der übrigens ohne sichtbare Zeichen der Trauer, ausgenommen den schwarzen Krepp um den rechten Arm, den Toten und seine Handlungsweise mit trockenen, harten Schlüssen verurteilte.

Wie er den Sohn nun einmal betrachtete, schien er eher durch seinen Tod von einer quälenden Sorge befreit als betrübt zu sein. Solange er lebte, hatte er einen Teil seines schmalen Gehalts für seine Erziehung abtreten müssen, was ihm ein immerwährender Anlaß zur Entsagung sowie des Kummers und Ärgernisses war: eine Tatsache, die er dem Sohne bei jeder Gelegenheit ohne Umschweife deutlich machte.

Quint schüttelte sich, nachdem der rechtliche und korrekte Beamte gegangen war, als ob ihn ein physischer Ekel anwandele. Seine Aufseher gaben an, er habe bei dieser Gelegenheit laut gesagt, daß nichts den Menschen so klein und verrucht mache als die Sorge ums tägliche Brot.

Dieselben Aufseher konnten bei einer andren Gelegenheit, in der Gebundenheit ihrer Meldungspflicht, ihrer Entrüstung über den Empfang, den Quint im Sprechzimmer seiner verzweifelten Mutter bereitet hatte, kaum genügenden Ausdruck verleihen. Die Mutter schrie und fragte den Sohn ein übers andere Mal: »Junge, hast du das wirklich getan?«, womit sie den Mord an dem Mädchen meinte. Ohne daß sie nun aber eine Antwort erhalten hatte, nahm sie, nach ihren Reden zu schließen, die Schuld als erwiesen an und überhäufte den Sohn mit Anklagen sowie mit Vorwürfen wegen seiner leider von jeher an den Tag gelegten Unfolgsamkeit. Alles sei nun, behauptete sie, eingetroffen, wie es der Stiefvater, wie es der Bruder, ja wie sie selbst es ihm prophezeit habe, und er könne darüber nun nicht weiter verwundert sein.

Als sie nun sagte: »Du hast es dir zuzuschreiben, wenn deine arme Mutter mit Schande und Gram in die Grube fährt«, rief der gefesselte Häftling plötzlich: »Weib, wer bist du? Ich kenne dich nicht! Ich bin von oben herab, und du bist von unten her! Willst du den Leichnam wieder nehmen, den du geboren hast, so gedulde dich! Bald werfe ich auch das Letzte, was an mir irdisch ist, hinter mich.« Er bat dann die Wärter, sie möchten ihn in die Zelle zurückbringen.

 

Man weiß, wie Gefangene durch die Wände, von Zelle zu Zelle, sich mittels Klopfens verständigen. Die sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets werden, je nach Bedarf, mit so viel Schlägen bezeichnet, als die Nummer beträgt, die jeder von ihnen in der gesamten Reihe innehat. So wurden die unfreiwilligen Bewohner des Untersuchungsgefängnisses und vieler anderer Zellen auf Flügel B durch die seltsame Nachricht eine Zeitlang belustigt und aufgeregt, die mit Klopfsignalen von unten, von oben, von rechts und von links durch die Wände drang: nämlich, daß Christus selbst in einer der Zellen zugegen wäre.

Die humoristische Tatsache hatte allmählich ihren Weg über die Aufseher zum Büro des Inspektors gemacht, der sie gelegentlich seinem Schwiegersohn, einem Masuren, der an dem gleichen Inquisitoriat Gefängnisgeistlicher war, lachend mitteilte. Lange wußte man nicht, in welcher Zelle der Ursprung des Unfugs zu suchen war. Es ging hier mit dem gebenedeiten Namen ähnlich, wie es mit dem Maulwurf in der Tragödie geht: »Hic et ubique, wühlst so hurtig fort, o trefflicher Minierer!« Er war hier und da und war überall, ohne daß man den gespenstischen Träger betreten konnte.

Endlich fiel es dem Geistlichen ein, den des Mordes verdächtigen Quint in sein Amtszimmer führen zu lassen, einen überaus behaglichen Raum, der natürlich innerhalb des Inquisitoriats gelegen war. Der Geistliche liebte Gefängniskost und versäumte selten, sich von dem allgemeinen Graupengericht zur Stillung seines masurischen Appetits etwas auftragen zu lassen. Er löffelte gerade, das Taschentuch vor die Brust gesteckt, als Emanuel zwischen zwei Aufsehern bei ihm erschien.

»Kinder«, rief er, »solche Suppe! Ihr wißt ja gar nicht, wie gut ihr es habt! Früher legte man euch auf Latten und fütterte euch mit unsauberem Wasser und schimmligem Brot.« Er war aufgeräumt und wollte versuchen herauszubekommen, ob Emanuel nicht der Urheber des Christusunfugs wäre, der nachgerade das ganze Gefängnis rabiat machte. Vielleicht legte der, wie aus den Akten ersichtlich war, verstockte Mensch bei seinem christlichen Tick dem Geistlichen sogar in der schweren Schuldfrage am ehesten ein Geständnis ab.

Einstweilen hatte er aber noch die Seelsorge eines Mädchens zu vollenden, die wegen Mord ihres Kindes zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Nur mit knapper Not war die Ärmste dem Henker entgangen. Man hatte ihr und ihrem Kinde in fünf, sechs Gemeinden rundweg das Domizil verweigert. Für die Not und die Tat des einfachen Landmädchens trugen Gesellschaft und Staat die Verantwortung, ohne sich dessen, ganz wie ein gewissenloses Individuum, in Trägheit und Gleichgültigkeit bewußt zu werden. Der Staat aber hatte seine Schuld durchaus nur durch ein neues Verbrechen, das er sich selbst sanktionierte, an dem Mädchen wettzumachen gewußt.

Die Verurteilte weinte seit vielen Wochen. Sie wollte nicht leben und hatte verschiedene Selbstentleibungsversuche gemacht. Zum Pastor geführt, hatte sie nur immer zerknirschte und verzweifelte Fragen an ihn wiederholt, ob sie wohl irgendwie Aussicht habe, ihr Kindchen im Jenseits wiederzusehen. Alles andere erschien ihr gleichgültig. Sehnsucht nach ihrem Kinde allein war es, was immer neue Tränenströme in ihre vom Weinen fast erblindeten Augen trieb. Der sogenannte Kalfaktor, ein Sträfling, brachte die Graupensuppe hinaus, und als sich der Pastor, schon in Gedanken bei Quint, der Verbrecherin zuwandte, sagte diese seufzend: »Ich weiß nicht, warum gerade mich das Schicksal so geschleudert hat?« – »Was? Schicksal geschleudert?« donnerte daraufhin der Pastor, und im nächsten Augenblick flog, von seinem herkulischen Arm geschleudert, ein Stuhl buchstäblich gegen die Wand. »Ich kann einen Stuhl schleudern«, sagte er, »aber das Schicksal kann keinen Menschen schleudern. Gott hat ihm dazu die Macht nicht gegeben. Aber er hat dem Menschen den freien Willen gegeben, hinter das Böse die Strafe, hinter das Gute aber den Lohn gesetzt. Nicht das Schicksal trägt, sondern du allein trägst vor Gott und Menschen, deines Verbrechens wegen, die Verantwortung. Dein Kind wird am Jüngsten Gericht gegen dich zeugen.«

Der Pastor zog einen elfenbeinernen Zahnstocher aus seiner bis an den Hals zugeknöpften schwarzen Weste hervor und reinigte sein prachtvoll weißes, negerhaft gesundes Gebiß damit, während das Mädchen, das in Verzweiflung ihr Kind getötet hatte, erschrocken, mit plötzlich trockenen Augen, voll Grauen in sich zusammenkroch. Vor einem Jahre war die arme zwanzigjährige Jungfrau noch schön gewesen, heute erschien sie zusammengekrochen, knöchern, unschön und greisenhaft ausgehöhlt. War es nun deshalb, weil die seltsam wissenden großen Augen des anderen Häftlings, Emanuels, unverwandt auf ihr geruht hatten, oder hatte sie überhaupt das wirre Bedürfnis, bei irgend jemandem um Gnade zu flehen: kurz, indem sie abgeführt wurde, hatte sie unversehens ihre brennend saugenden Lippen auf Emanuel Quintens gefesselte Hände gedrückt.

Der Pastor war sprachlos. Er hielt den Zahnstocher wie einen gen Himmel weisenden Finger in der Hand. Es war ihm gewesen, als wenn jemand die deutlichen Worte: »Weib, deine Sünden sind dir vergeben!« gesprochen hätte. – »Das wäre noch besser«, fuhr er los, »wenn hier, im Zimmer des Pastors, ein Schlingel, der beinahe des Mords überwiesen ist, die ungeheure Dreistigkeit haben wollte, mit dem Worte Gottes Unfug zu treiben. Versteht Er mich? Er Kujon! Er Patron!« – und er brachte sein glattrasiertes, mit breiten Backenknochen und Kinnladen versehenes Angesicht dicht an Quint – »versteht Er mich? Schindluder treiben wir hier mit den heiligsten Dingen nicht!

Raus!« schrie er. »Das geht denn doch über alles, was mir irgendein Zuchthäusler jemals in diesem Raume geboten hat, weit hinaus. Lanek«, wandte er sich an den Oberaufseher, »bitte, melden Sie diese Person! Raus mit dem Menschen, ich kann ihn nicht sehen! Soll ich mir etwa von diesem Abschaum das Heiligste in den Kot ziehen lassen? das Erhabenste, was überhaupt in mir ist? Nein! Das liegt außerhalb meiner Amtspflichten.

Schauen Sie doch mal unten nach«, sagte der Pastor gleich darauf sehr ruhig zum Kalfaktor, als er allein mit ihm im Zimmer war, »ob meine Frau beim Herrn Inspektor ist; sie wollte mich nämlich zum Gartenkonzert in den Zwinger abholen.« Der Kalfaktor ging, und der Kirchenmann zündete mit Behaglichkeit seine Zigarre an.

Und es wurde noch einige Wochen lang unterirdisch von Zelle zu Zelle die Nachricht gepocht, daß Christus selbst im Gefängnis zugegen wäre. Die Wände vibrierten und bebten eine Zeitlang, aus der mysteriösen Quelle gespeist, von den Worten des echten Heilandes, unter denen der Satz: »Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan!« immer wiederkam. Die Steine sprachen: »Fürwahr, er trug unsere Krankheit und nahm auf sich unsere Schmerzen, aber wir hielten ihn für den, der von Gott geschlagen und gemartert wurde.« Die Steine sprachen: »Sie haben Christus verachtet, gehaßt, verkannt, verfolgt, verflucht, verhöhnt, geschlagen, angespien, unschuldig eingekerkert und ans Kreuz geheftet! Er ward zwischen den Mördern aufgehängt und unter die Verbrecher gerechnet.« So und ähnlich sprachen die Steine fort, aber der Direktor der Anstalt meinte, man tue am besten, des im Grunde harmlosen Unfugs nicht weiter zu achten.

 

Mittlerweile wurden durch eine Fabrikarbeiterin namens Katzmarek gewisse Tatsachen zur Kenntnis der Behörde gebracht, die nach und nach den Verdacht des Mordes einigermaßen von Emanuel ablenkten. Eines Tages fragte man ihn, ob er einen gewissen Menschen, der nach der Schilderung mit dem böhmischen Josef identisch war, kenne und ihn des Mordes für fähig halte. Quint sagte zwar, er kenne ihn, daß er aber den Mord nicht verübt habe, sei ihm gewiß. Trotz des Stillschweigens, dessen Quint sich leider befleißigte und das man schlechterdings nur als Ausfluß seines Schuldbewußtseins deuten konnte, waren doch aber nun die Zweifel der Anklagebehörde rege gemacht, und nachdem die Untersuchung eine Zeitlang auch in einer anderen Richtung betrieben worden war, hatten sich die Resultate der Nachforschung endlich zu einem fast lückenlosen Entlastungsbeweise für Quint zusammengeordnet. Man hatte die Spuren des böhmischen Josef genau verfolgt und wußte, wo er an jedem Tage der letzten Wochen vor Begehung der scheußlichen Tat gewesen war. Er war um die Apotheke geschlichen, in der die kleine Ruth bei Freunden der Eltern seinerzeit, um sie auf andere Gedanken zu bringen, untergebracht worden war. Er hatte dann auf dem Miltzscher Dominium Arbeit gefunden. Eine Anzahl Zeugen meldeten sich, denen der häßliche Mensch in Begleitung des lieblichen Mädchens aufgefallen war, als er sie, meistens auf Feldwegen, gen Breslau führte. Den Menschen selber aufzufinden, gelang indessen trotz aller Bemühungen nicht.

Als man Quint, dessen Alibi allmählich durch Zeugen durchaus erwiesen ward, die günstige Wendung der Sache mitteilte und ihm die Aussicht auf seine nahe Freiheit nicht vorenthielt, legte der Narr zum Schrecken des Anwalts und zur nicht geringen Verlegenheit der Behörde das Geständnis des Mordes ab.

Das Geständnis konnte indessen nicht Stich halten. Man stand auf dem Punkt, den Narren dennoch in Freiheit zu setzen, als man eben an der Stelle, wo der Mord an der kleinen bejammernswerten Ruth verübt worden war, die Leiche des böhmischen Josef fand, der sich am Ast einer Weide erhängt hatte. Es hätte kaum der Selbstbezichtigung mehr bedurft, die man in seiner Tasche fand, ebenso unbeholfen als umständlich niedergeschrieben, um seine Schuld über allen Zweifel erwiesen zu sehen.

 

Die Kunde von der Entdeckung des wahren Täters drang natürlich sogleich zu den Heidebrands und von da zu Lehrer Krause hinüber, wo sie im Befinden Mariens eine Wandlung zum Besseren hervorbrachte. Das Mädchen hatte ihre Tage, seit dem Verschwinden Emanuels, in Absonderung von allem Verkehr zugebracht, und als der allgemein geteilte Verdacht ihn zum Verbrecher stempelte, war ihre Gesundheit buchstäblich zusammengebrochen. Es kamen Ärzte, man rief den Miltzscher Schäfer herbei, man versuchte es wiederum mit dem sogenannten Gesundbeten, ohne daß es gelang, den Zustand des Mädchens zu bessern. Sie erbrach die Speisen, sooft man sie etwas zu essen zwang, sie litt an einer schrecklichen Blutleere, schließlich vermochte sie kaum noch, vor Schwindel und Herzklopfen, die wenigen Schritte von ihrem Bett bis ans Fenster zu gehen, wo sie, in einem Korbstuhl sitzend, einige Stunden täglich Luft atmen mußte.

Man hatte hier die Idee von einem schlimmen Lotterdasein bekommen, das Quint in der Großstadt geführt und das ihn ins Verderben gestürzt haben sollte. Man fing diese Ansicht, als die Unschuld Quints an dem Morde bekannt wurde, zu modifizieren an. Und nun, wie gesagt, geschah es, daß sich die Gesundheit Mariens zusehends besserte. Sie aß, sie sprach, ihre Wangen nahmen ein wenig Farbe an. Bald unternahm sie kleine Spaziergänge. Sie richtete einen Brief an ihre Schwester Hedwig, die noch immer im Krankenhaus Professor Mendels beschäftigt war, worin sie den Tag zu wissen wünschte, an dem Emanuel aus dem Gefängnis vermutlich entlassen werden würde.

Für die Entlassung war der erste Oktober festgesetzt und das Datum Emanuel mitgeteilt worden. Er hatte also den ganzen Sommer in Untersuchungshaft zugebracht. In seiner Antwort auf einen Brief, den er in seiner Zelle erhielt, ein Schreiben, in dem Hedwig Krause Mariens Frage an ihn weitergab und zugleich mitteilte, daß ihre Schwester Maria, sie selbst und ihr Bräutigam, Bernhard Kurz, Quinten am Gefängnistor erwarten und in Empfang nehmen würden, – in seiner Antwort auf diese Nachricht sagte Quint eine Unwahrheit: er gab auf das allerbestimmteste als den Tag seiner Entlassung nicht den ersten Oktober, sondern den zweiten an.

Als am zweiten Oktober der Maler Kurz mit den beiden Mädchen mittags zwölf Uhr am Eingang des Inquisitoriats erschien, fing für sie ein langes vergebliches Warten und Nachfragen an, wodurch sie am Ende zu der Überzeugung gelangen mußten, daß sie Emanuel Quint verfehlt hatten. Sie glaubten zunächst natürlich, ihn, womöglich am gleichen Tage, noch irgendwo in der Stadt zu entdecken, eine Vermutung, die leider nicht zutreffend war. Sie haben ihn nicht nur an diesem und an den folgenden Tagen vergeblich gesucht, sondern ihn überhaupt niemals wiedergesehen.

Quint hatte sich am Tage vorher stillschweigend davongemacht. Da sein Prozeß nicht verhandelt worden war, hatte man seiner in der beschränkten Öffentlichkeit, die sein Fall erlangt hatte, längst vergessen, als er wieder auf freiem Fuße stand.

In der Nähe des Platzes, an dem die kleine Ruth ihr Ende gefunden hatte, erschien am ersten Oktober ein lang aufgeschossener, dürftig gekleideter, rotblonder und bleicher Mensch, der von einigen Leuten gesehen wurde. Er trieb sich lange in der Gegend der Mordtat herum. Er pochte kurz darauf an die Türe eines Küsters leise an, worauf das Weib des Küsters, einen Bettler vermutend, öffnete. »Ich bin Christus! Gib mir ein Nachtlager!« Da schlug sie ihm, selbstverständlich tief erschrocken, sogleich mit ganzer Kraft die Tür vor der Nase zu.

So ging es auch im Hause des Lehrers einige Tage später, wo einst Emanuel Quint, im Schulzimmer, Bruder Nathanaels Bußpredigt gelauscht hatte. Die Lehrersleute saßen bei Tisch, und ein kalter Herbstwind durchbrauste draußen die Dunkelheit. Man hörte einen Schritt auf der Hausschwelle und hernach ein Pochen gegen die Tür. Die Frau wollte nicht öffnen, sie fürchtete sich. Nachdem, aus irgendeinem Grunde ängstlich geworden, der fromme Lehrer seine Seele dem Herrn empfohlen hatte, öffnete er und fragte durch den Türspalt: »Wer ist hier?« – »Christus!« kam es leise zur Antwort. Und sofort schlug mit einer Gewalt, die das Häuschen erbeben machte, von der Hand des Lehrers gerissen, die Tür ins Schloß. Er kam schlotternd herein zu seiner Frau und behauptete, draußen stünde ein Wahnsinniger.

Etwa eine Woche nach diesen Vorfällen brachten Berliner Zeitungen diese kurze Notiz:

»Die Bewohner des Ostens unserer Stadt werden seit einiger Zeit durch die Erscheinung eines Menschen beunruhigt, der nie um Geld, sondern immer nur um Obdach und Brot bittet und auf die stereotype Frage: Wer ist da? sich als Christus bezeichnet. Man kann sich denken, welchen Schreck der im übrigen wahrscheinlich harmlose Irre überall, wo er auftaucht, verursacht. Er dürfte wenig Geschäfte machen. Die Hausfrauen schieben meist, kaum daß die ominöse Bezeichnung gefallen ist, den Riegel vor und bringen die Sicherheitskette in Ordnung.«

Wiederum eine Woche später fing der gleiche Unfug in der ehemaligen freien Reichsstadt Frankfurt am Main die Leute ein Weilchen zu beschäftigen an. Vor dem Narren und Bettler, der sich Christus nannte, waren mittlerweile zwischen Berlin und Frankfurt Hunderte und aber Hunderte von Haustüren zugeflogen. Ein Frankfurter, der die Angelegenheit auf ironische Weise nahm, sagte, der Herrgott in seinem Himmel müsse unzweifelhaft durch den ungewohnten, wilden Lärm des Türenschlagens neuerdings auf die Vorgänge unter dem Menschengeschlecht aufmerksam geworden sein.

Unwillkürlich dankt man dem Himmel, daß nur ein armer Erdennarr und nicht Christus selber der Wanderer gewesen ist: dann hätten nämlich Hunderte von katholischen und protestantischen Geistlichen, Arbeitern, Beamten, Landräten, Kaufleuten aller Art, Generalsuperintendenten, Bischöfen, Adligen und Bürgern, kurz zahllose fromme Christen den Fluch der Verdammnis auf sich geladen.

Aber wie konnte man wissen – obgleich wir: »Führe uns nicht in Versuchung!« beten –, ob es nicht doch am Ende der wahre Heiland war, der in der Verkleidung des armen Narren nachsehen wollte, inwieweit seine Saat, von Gott gesäet, die Saat des Reiches, inzwischen gereift wäre?

Dann hätte Christus seine Wanderung, wie ermittelt wurde, über Darmstadt, Heidelberg, Karlsruhe, Basel, Zürich, Luzern bis nach Göschenen und Andermatt fortgesetzt und hätte überall immer nur von dem gleichen Türenschlagen an seinen Vater im Himmel berichten können. Nämlich der Narr, der sich Christus nannte, teilte zuletzt mit zwei armen, barmherzigen Schweizer Berghirten, oberhalb Andermatt, Brot und Nachtquartier. Seitdem ist er nicht mehr gesehen worden.

 

Dem Chronisten, der auf den Spuren Emanuel Quintens ging, ist es wahrscheinlich, daß jener Mensch, der seinen Christuswahn, verlassen und einsam, durch Deutschland und durch die Schweiz schleppte, der verschwundene arme Tischlergeselle aus Schlesien war. Er war auch derselbe, wie ihm scheint, der oberhalb des Gotthardhospizes nach der Schneeschmelze im Frühjahr darauf erstarrt und zusammengekauert gefunden wurde. Unzweifelhaft hatte sich Quint beim tiefen Schneegestöber verirrt, hatte das Hospiz, auf dem Passe zu milderen Breiten, verfehlt und war in die Wildnis des Pizzo Centrale hinaufgeraten. Dort hatten Nacht, Nebel und Schneegestöber ihn eingesargt.

Dies mußte im Spätherbst oder beginnenden Winter gewesen sein, denn er hatte, als ihn die Sennen heraushoben, sicherlich fünf oder sechs Monate lang in der tiefsten Schnee- und Eisschicht verborgen gesteckt. Auf einem Briefbogen, den man in seiner Tasche fand, waren die Worte noch deutlich zu lesen gewesen: »Das Geheimnis des Reichs?«, die keiner beachtete noch verstand, die aber dem Chronisten, als er das traurige Dokument in Händen hielt, eine gewisse Rührung abnötigten. War er überzeugt oder zweifelnd gestorben? Wer weiß es? Der Zettel enthält eine Frage, sicherlich! Aber was bedeutet es: Das Geheimnis des Reichs?

 


 


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