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Ohne aufzuhören, ja ohne sich umzublicken, lief nun Emanuel Quint einige Stunden lang, und zwar in einer Gangart, der seine Begleiter nicht ohne Mühe folgen konnten. Da sie seit nahezu vierundzwanzig Stunden weder gegessen noch geschlafen hatten, siegten sie manchmal nur gewaltsam über Hunger und Müdigkeit. Gleichsam im Fluge gelang es ihnen, aus dem Planwagen eines Müllers, der ihnen auf der Chaussee begegnete, ein Brot zu erwerben, wovon sie starke Keile abschnitten und im Gehen kauten, nachdem sie ihrem Meister vergeblich davon angeboten hatten.
Dieser spürte, wie es schien, nichts von Hunger und nichts von Müdigkeit. Er schien mit Ungeduld einem bestimmten Ziele zuzueilen. So strebt der Wasservogel, der monatelang nur auf dem Spiegel eines stillen Sees schwamm und der plötzlich Luft unter seine Flügel bekommen hat. Er hielt erst inne, als man am fernen Horizonte die Schornsteine und die Kirchtürme Breslaus zu sehen bekam, und es ward eine längere Rast gehalten.
Der Himmel war nicht mehr wolkenfrei. Meister und Jünger hatten am Rande einer feuchten Wiese, die von Erlen und Weidengebüsch umgeben, ja eingeschlossen war, unweit eines niedrigen Bahndammes Platz genommen. Von Zeit zu Zeit klirrte in der Nähe ein Draht, der längs der Strecke auf eine weite Entfernung von dem Häuschen des Wärters bis zu einer Bahnbarriere gezogen war, mit Hilfe dessen er, je nach Bedürfnis, den Bahnübergang eines Feldweges öffnen und schließen konnte. Das Vorhandensein vieler alter Erlen, Weiden und Rüstern, etwa steinwurfsweit vom Rande der Wiese entfernt, sowie der rastlose Lärm vieler Rohrsperlinge zeigte die Nähe eines Weihers an. Es schien eine wildreiche Gegend zu sein, denn es traten nicht nur Rehe, sorglos äsend, auf die Wiesenfläche heraus, sondern man hörte den Laut der Wildente und sah Fasanen aus den erst schwachbegrünten Büschen hervor- und wieder hineinschlüpfen.
Quint saß mit dem Rücken an einen Grenzstein gelehnt, und die Seinen, die sich im Kreise gelagert hatten und, trotz des ermüdeten Ausdrucks ihrer Gesichter, gespannt nach ihm hinblickten, schienen auf eine Eröffnung gewichtiger Art gefaßt zu sein.
Diese Eröffnung sollte nicht ausbleiben.
Nachdem er nämlich etwas gesagt hatte, dessen Bedeutung ihnen vollständig dunkel war, fügte er andere, wichtige Dinge an, die sie ebensowenig begreifen konnten. Man wird aber annehmen müssen, daß sich seine erste Bemerkung auf den jüngsten Zwischenfall mit dem Priester bezog. »Beinahe dreißig Jahre«, sagte er, »haben wir gemeinsam gelebt und sind doch all die Zeit einer dem anderen nicht geboren worden. Als wir einander geboren wurden, an demselben Tage, Morgen und Augenblick, starben wir einander für alle Ewigkeit.« Quint fuhr fort und ermahnte die Seinen, sich fortan über sein Tun und Lassen nicht zu wundern. Er habe sie auserwählet, damit sie bis zur letzten Stunde, ja womöglich bis zum letzten Hauch Zeugen seines Wandels sein sollten. Er wiederholte von jetzt ab oft und sagte es hier zuerst seinen Anhängern, wie er großen Leiden und Martern entgegenginge. Er wies auf die Türme am Horizont, als nach dem Schlachtfeld, zu dem er hinmüsse, und meinte, seine Feinde, die Kinder der Welt, warteten sein. Des Menschen Sohn, erklärte er weiter, müsse immer wieder in der Menschen Hände überantwortet werden. »Ihr sollt nicht glauben«, hieß es weiter, »sie werden des Menschen Sohn, der sich Gott allein zum Vater erlesen hat, auch diesmal anders erhöhen als an den Galgen. Einstmals werden sie des Menschen Sohn anders erhöhen, aber erst, wenn die letzte Auferstehung geschehen ist! Dann werden selbst Blinde seiner gewahr werden.«
Alles dies sagte Emanuel nicht mit Trübsinn, sondern mit einem schwer zu verbergenden Rausche innerer Glückseligkeit.
Ein gewaltiger Donner unterbrach aber diesen Redestrom. Es war ein Schnellzug, dessen Wagen untereinander durch Gänge verbunden waren und dessen eiserne Räder über die Schienen, die sich darunter bogen, vorüberschmetterten. Der Luftzug riß Staub und verdorrte Blätter des letztvergangenen Herbstes in einer wild gen Himmel taumelnden Wolke hinterher. Beide, Meister wie Jünger, hatten die Köpfe herumgewendet, und es schien, daß im Augenblick alles, ausgenommen das ungestüme und lärmende Wunder der Zivilisation, vergessen war. Als Quint, dessen staunend geöffnete Augen sich gewaltsam gesammelt hatten, längst aufs neue in das Gehäuse seines Wahnes verkapselt, weiter und weiter sprach, konnten die Jünger, mit Flüstern und Zeichenmachen, über die tafelnden Menschen im Speisewagen, über die vornehmen Damen und Herren an den Fenstern nicht hinwegkommen, die ihren Trupp, dieses Feldbiwak armer Landstreicher, keines Blickes gewürdigt hatten.
Quint fuhr fort:
»Ich habe nicht recht getan, daß ich Gewalt geübt habe im Hause der Gewalttäter. Oder meinet ihr etwa, daß ein Pfaffe« – er gebrauchte zum erstenmal dieses Wort –, »daß ein Pfaffe kein Gewalttäter ist? Jeder Pfaffe ist ein Gewalttäter! Und alle zusammen, die sich fälschlich als Diener Gottes bezeichnen, möchten, vom Geringsten bis zum Höchsten unter ihnen, lieber heute als morgen Beherrscher des Himmels und der Erde, Herrscher nicht nur der Menschen, sondern auch Gottes sein.«
Quint sprang auf, wie wenn er durch den vorüberbrausenden Eisenbahnzug selbst zur Eile gemahnt worden wäre. Es war nichts mehr in seinem Wesen von der ihm früher eigenen, scheinbar leidenschaftslosen Betrachterruhe, sondern eine ungeduldige Streitbarkeit. Im Gehen sprach er: »Ich lege einen Stein des Anstoßes, einen Stein des Ärgernisses, einen Felsen des Hindernisses in die Welt: daß die Kinder der Welt sich die Räder ihrer Wagen und ihrer Maschinen, ja ihre eigenen Füße und Stirnen zerstoßen sollen! Daran sollen die Kärrner anlaufen und nicht minder die Könige!« Und einige Male im kraftvollen Fortschreiten wiederholte er: »Ich bin bereit.«
Aus allen diesen Reden wußten die Jünger wenig zu machen. Ihr Wesen war erfüllt von dem immer steigenden Fieber ihrer Phantasterei. Ihre Müdigkeit ließ himmlische Vorstellungen einer künftigen Ruhe entstehen. Die Anstrengungen der rastlosen Wanderung machten, daß sie immer wieder von jenem Asyl sprechen mußten, darin das Ende aller Leiden gekommen und das, wie sie meinten, nicht mehr ferne war. Sie fühlten recht wohl die Veränderung, die mit ihrem Meister vor sich gegangen war, und wie sie einer Entscheidung zustrebten. Dies, ihre nun entschlossenere Nachfolge, dazu die auf ein dunkles Schicksal deutenden Reden Quints, die er weniger mit ihnen als mit unsichtbar gegenwärtigen, feindlichen Mächten zu führen schien, erregten in ihnen eine gewisse allgemeine Besorgnis, Furcht und Bangigkeit.
»Wo habt ihr den böhmischen Josef gelassen?« fragte mit einem Male Quint.
Sie sahen einander betreten an, schwiegen, und keiner wollte antworten.
»Ängstet euch nicht, und fürchtet euch nicht«, sagte Quint, der wohl merkte, daß sich Josef nicht im guten von ihnen getrennt hatte und die Anhänglichkeit der Seinen nun in ihren Augen zu einem bewußten Opfer geworden war. »Fürchtet euch nicht, denn ihr werdet von dem Hasse der Welt nicht zu leiden haben wie ich, der ich gegen sie zeuge, der ich überall Zeugnis ablegen werde – wie ich denn schon begonnen habe –, daß die Werke der Welt böse und ruchlos sind.«
In der siebenten Stunde des Abends erreichten Quint und die Seinen Breslau und die kleine Herberge zum Grünen Baum. Der Meister wurde durch die Wirtsfrau, deren Mann eine Schlächterei betrieb, in einem Dachkämmerchen, nach der lehmig und schnell fließenden Oder hinaus, für sich allein, die anderen Männer in einem Verschlag des Heubodens untergebracht. Alle gingen, nachdem sie, schon während des Kauens beinahe einschlafend, etwas zu sich genommen hatten, sofort zur Ruhe, um erst etwa nach sechzehnstündigem Schlaf gegen Mittag des folgenden Tages wiederum aufzuwachen.
Um diese Zeit sendete Quint Dibiez, den ehemaligen Soldaten der Heilsarmee, mit einigen Zeilen von seiner Hand an Hedwig Krause, die seit etwa einem Monat nach Breslau übergesiedelt war und in einem neuerrichteten städtischen Krankenhause jenseit der Oder arbeitete. Keiner der Jünger, Dibiez ausgenommen, der einigermaßen in der Welt herumgekommen war, würde für eine solche Sendung im labyrinthischen Lärm einer Großstadt zu brauchen gewesen sein.
Dibiez hatte die Schwester Hedwig indessen bald ausgemittelt, und es traf sich so gut, daß ihre Erholungsstunden soeben begonnen hatten und sie bereits nach Verlauf einer Stunde, an der Seite Dibiezens, im Grünen Baum und in Quintens Dachkammer erschien.
Quint merkte sehr wohl, wie aus dem Mädchen hier in der Stadt eine durchaus neue Persönlichkeit geworden war und daß eine geistige Frische und Beweglichkeit, ja eine Tatkraft von ihr ausströmte, die von dem etwas schleppenden, mißmutig unbefriedigten Daseinszustand, den er draußen auf dem Lande an ihr gespürt hatte, durchaus unterschieden war. Aber auch Schwester Hedwig sah einen neuen Menschen in Quint. Er war ausgeruht, und sein Wesen besaß, gegen früher gehalten, mehr männliche Frische, Festigkeit, ja Heiterkeit.
Das schöne dreiundzwanzigjährige Mädchen, dessen ein wenig strenges Madonnengesichtchen zwei große verzehrende Augen besaß und dessen ganze Erscheinung durch die einfache Schwesterntracht überaus reizvoll zur Geltung gebracht wurde, fühlte sogleich, wie ihre Illusion von dem seltsamen Menschen durch seine Gegenwart noch übertroffen wurde.
Sie hatte ganz ohne Umstände auf Quintens Feldbettstelle Platz genommen und erzählte, gerötet und merklich beglückt durch seine Anwesenheit, vielerlei aus ihren eigenen Erlebnissen, nachdem sie ebenso vielerlei und mehr aus der Heimat zu wissen begehrt hatte. Sie berichtete schließlich, ein wenig zögernd, aber von Quint sogleich ermutigt, daß ein Bericht seines Auftretens – sie meinte damit seine verunglückte Feldpredigt – von allen Zeitungen der Provinzialhauptstadt gebracht worden sei.
Wirklich las Emanuel dieses in einem Blatte, das Schwester Hedwig aus einem kleinen Handtäschchen genommen und ihm dargereicht hatte:
»Religiöser Wahnsinn. In der Nähe von Miltzsch wurde am ersten Feiertag ein Mensch sistiert, der eine Art religiösen Meetings mitten auf freiem Felde abhalten wollte. Man weiß, daß die Gegend von Miltzsch noch heute als eine Domäne der Orthodoxie zu betrachten ist. Der Verrückte, der, wie einige wissen wollen, sich als den wiederauferstandenen Heiland selbst bezeichnet haben soll, hat schon seit längerer Zeit, und zwar an verschiedenen Plätzen der Provinz, sein Unwesen getrieben. Man sagt, daß eine gewisse vornehme Dame, die ihr ungeheures Vermögen in liberalster Weise für ländliche Kirchenbauten zur Verfügung stellt, eine Vorliebe für den sonderbaren Heiligen gefaßt und damit seine Narrheiten unterstützt habe. Er wurde übrigens auch von der Volksmenge, die Gott sei Dank bei uns aufgeklärter als in den Ländern religiöser Heuchelei und hysterischer junger und alter Weibchen, Amerika und England, ist, in gebührender Weise zurückgewiesen.«
Lächelnd, obgleich erbleichend, gab Quint das Blatt an Hedwig zurück und sagte dabei: »Ich bin frei geworden von Menschenfurcht. Wenn ich sagen wollte«, fügte er an, und zwar mit der größten Einfachheit, »wenn ich sagen wollte: ich sei nicht Christus, Gottes Sohn, so müßte ich mich von meinem Vater lossagen, müßte mich und Christum und Gott vor ihm verleugnen.«
Schwester Hedwig, die dem Berichte nur teilweise Glauben geschenkt und die nun durch die Bestätigung, die er in seinem schlimmsten Teile unmittelbar erhalten hatte, nicht wenig erschrocken war, konnte sich doch von einem einigermaßen betörenden Schauder mystischer Wollust beim Anhören solcher Worte nicht freimachen.
Am folgenden Tage hatte sie, weil Emanuel manchmal leicht hustete und dann zuweilen etwas Blut in seinem vor den Mund gehaltenen Schnupftuch fand, einen ihr befreundeten Assistenzarzt mitgebracht, einen kräftigen, blauäugig-blonden jungen Mann, der von der pommerschen Küste herstammte. Er stellte mit Quint, dessen Geschichte er teilweise durch Hedwig erfahren hatte, eine geduldig hingenommene, eingehende Untersuchung an. Er hatte am Schluß allerdings, da sein Patient, sooft seine Fragen über die körperlichen Angelegenheiten hinausgingen, zurückhaltend blieb, nichts Eigentliches über seine Geistesverfassung herausbekommen, aber er sagte doch, als er einige Stunden später die Schwester im Dienste wiedertraf, daß man es in Quinten mit einem Degenerierten zu tun habe. Sie antwortete ihm: »Degeneriert oder nicht degeneriert! Wer bliebe heute noch auf freien Füßen, wenn man euch Ärzten und euren Diagnosen Gehör schenkte? Übrigens sind Sie Atheist und in Religionssachen ohne Verständnis.«
Der junge Arzt wollte das nicht bestreiten. Sein Name war Doktor Hülsebusch. Allein er meinte, wenn er auch für das Religiöse in der Erscheinung vielleicht kein rechtes Verständnis habe, so ginge ihm doch, als einem demokratisch gesinnten Manne, wenigstens nicht das Interesse, von allem Ärztlichen zu geschweigen, für die soziale und menschliche Seite der wunderlichen Erscheinung ab. Die Frage, in welchem Berufe Emanuel arbeite, brachte die Schwester in eine gewisse Verlegenheit. Sie wollte nicht sagen, daß er überhaupt nicht arbeite, und konnte nicht hoffen, dem Arzt begreiflich zu machen, wie er, mit seinem ausschließlichen Sinn für Gott und das Göttliche, dennoch kein Müßiggänger sei. Der Arzt aber schloß, Quint sei von hektischer Konstitution, brauche reichlich Nahrung und eine gesunde Beschäftigung.
Es mochten seit Quints und der Seinen Ankunft im Grünen Baum vier bis fünf Tage vergangen sein, da geriet die gute Stadt Breslau eines Tages durch ein ungewohntes Ereignis, allerdings nur vorübergehend, in eine gewisse Aufregung. Man sah gegen vier Uhr, Sonntag nachmittag, unter dem Gewimmel der Spaziergänger auf der sogenannten Liebichshöhe plötzlich einen Mann auftauchen, seinem Ansehen nach aus dem ländlichen Arbeiterstand. Er stieg auf die Rampe einer dort befindlichen mächtigen Freitreppe und machte, über den aufwärts und abwärts flutenden Strom geputzter Herren und Damen hoch emporragend, Zeichen, aus denen man seinen Wunsch zu reden entnehmen sollte und auch entnahm. Ein Sonntagnachmittag ist, auch wenn die Sonne eines Vorfrühlingstages scheint, nicht immer kurzweilig. So trat denn mit einer gewissen Bereitwilligkeit, nach kurzem Gelächter, eine verhältnismäßige Stille ein. Da schrie nun aber der bäuerische Mensch nichts weiter als dreimal dieselben Worte in die lauschende Menge hinunter: »Ich sage euch, Jesus Christus ist auferstanden!« Darnach sprang er herab und verschwand in der Menge, die mit lautem Gelächter und einem Hagel von Witzen antwortete und ohne zu fragen, wo der Verrückte geblieben war, zu anderen Dingen überging.
Dieser Vorgang hätte nun wohl kaum seinen Weg bis in die Spalten irgendeiner Zeitung gemacht, wenn nicht das gleiche von der Rampe des Königlichen Schlosses herab, über der Menschenmenge, auf dem sogenannten Exerzierplatz, ferner auf dem Ring und der Rampe der Rathaustreppe und an mehreren anderen Orten genau um die gleiche Zeit passiert wäre. Unmöglich konnte der Unfugstifter ein und derselbe Mann gewesen sein, denn erstlich deuteten die Beschreibungen, die gemacht wurden, auf verschiedene Menschen hin, und zweitens war dasselbe, und zwar um die gleiche Zeit, unter der Menschenmenge im Scheitniger Park, in Pirscham und auf der Ziegelbastion sowie auf dem Tauentzienplatze geschehen, Orten, die weit voneinander entlegen sind.
Da alles so kurz verlaufen war, hatte die Polizei weder Anlaß noch Möglichkeit gefunden einzuschreiten, und als die Berichte in ihren Büros und den Redaktionen der Zeitungen zusammenliefen, schien der Vorfall jedenfalls sonderbar, aber weder genugsam verbürgt noch gefährlich zu sein. So war er am Mittwoch bereits vergessen, trotzdem die Zeitungen am Montag abend und Dienstag früh eine Notiz darüber gebracht hatten.
Doktor Hülsebusch hatte sogleich, als ihm die Zeitungsnachrichten zu Gesicht kamen, seinen bestimmten Verdacht gefaßt, und als er Schwester Hedwig auf dem Korridore des Krankenhauses begegnete, meinte er: dies wäre doch ein bedenklicher Streich, und man müsse sich fragen, ob nicht vielleicht noch größeres Unheil, durch vernünftige Einwirkung auf den Freund und Schützling, zu verhüten wäre. Schwester Hedwig, obgleich sie rot wurde, leugnete nicht, daß die sonderbare Tat durch Quinten angeordnet und durch seine Begleiter ausgeführt worden war. Sie sagte, es sei die Absicht Quints, um jeden Preis die Menschen aus ihrer Gleichgültigkeit aufzurütteln, weshalb er auf dieses Mittel verfallen sei.
Der Arzt behauptete, Schwester Hedwig Krause sähe seit der Anwesenheit ihres Familienheiligen, wie er Quint gutmütig spottend nannte, selber kränklich wie eine durch Wachen und Fasten angegriffene heilige Hedwig, Agnes oder Therese aus. Und er warnte das Mädchen davor, sich von dem »pathologischen« Geist dieses Menschen umnebeln zu lassen.
Schwester Hedwig war schweigend vorübergegangen und hatte nur mit den Achseln gezuckt.
Sie war auch an diesem Tage, wie an jedem, seit er im Gasthaus zum Grünen Baume war, während ihrer Freizeit bei Quint gewesen und hatte, vor kaum einer Stunde, die Frage nach dem Grund seiner seltsamen Maßnahme an ihn gestellt, worauf er mit einem grimmigen Weinen in der Kehle, die Faust auf den Tisch schlagend, die Worte der Schrift, nicht anders, als wären es seine eigenen, gebraucht hatte: »Wahrhaftig, wo diese nicht redeten, müßten die Steine schreien!«
Inzwischen sah es seit dem Ereignis recht wunderlich im Grünen Baum und um Emanuel aus. Erstens war die Gegenwart eines Mannes, dem man gewisse Heilkräfte zutraute, unter den kleinen Leuten ruchbar geworden, und zwar hatten Quintens Begleiter, obgleich er leugnete, jemals ein Wunder getan zu haben, teils aus Überzeugung, teils aus einer gewissen Wichtigtuerei, ihn als Wundertäter bekannt gemacht. Emanuel nahm einen tiefen Anteil an der im Grunde kranken Menschenwelt. Es war ihm, als trüge er selbst ihre Krankheit. Deshalb gelang es ihm auch jetzt noch nicht, gegen die Leiden des einzelnen Menschen gleichgültig und gefühllos zu sein. Trotzdem hatte er sich auf Behandlung Kranker einzulassen im Grünen Baum von vornherein abgelehnt: was natürlich nicht hinderte, daß die Leidenden kamen, den Wirtsleuten zu verdienen gaben, ja sich mit Geschenken an sie heranmachten.