Gerhart Hauptmann
Der Narr in Christo Emanuel Quint
Gerhart Hauptmann

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Zwanzigstes Kapitel

Es kann nicht gelingen, den notwendigen Gang eines Menschenschicksals in allen seinen Teilen faßlich zu machen, schon deshalb nicht, weil jeder Mensch zwischen Geburt und Tod ein zum ersten und letzten Male Erscheinendes ist und weil der Betrachter jeden Gegenstand nur in den Grenzen seiner, des Betrachters, selbsteigenen Natur zu begreifen vermag. In bezug auf Emanuel und die Art seiner Bildung darf jedenfalls nicht vergessen werden, daß sie überall einer leidenschaftlichen, tiefen Einbildung gleichzusetzen ist. Er bildete Jesum in sein Inneres, er bildete ihn und sein Schicksal tief in sein eignes Wesen hinein.

Emanuel trieb nicht Gottesgelehrsamkeit. Ihn hungerte, und er aß von der Hand in den Mund sein geistliches Brot. Ihn dürstete, und er trank vom Wasser des Lebens, an einem Quell, den er für den Quell des Lebenswassers hielt. Und dies ist gewiß, ihm war zu Sinn, als ob er fortan nicht mehr dürsten würde. Als er nun rief: er habe Johannes' Taufe verworfen, er sei als der wahre Gesalbte durch die Gnade des Vaters, des Sohnes und des Geistes als wahrhaftiger Heiland heut vor den Menschen auferstanden, so riß ihn zwar die Erregung des Augenblicks, das Bewußtsein des Auferstehungsmorgens, der Anblick der wundersüchtigen Menge ein wenig über sich selber fort, aber es war doch der innere Christus, der in ihn eingebildete Christus, der auch äußerlich nun sein Herrscher und, wie nie zuvor, ganz mit ihm eins geworden war.

Dieses absolute Bekenntnis war vielleicht nur das Erzeugnis eines Zustandes augenblicklicher Fortgerissenheit, es hing vielleicht mit dem Umstand zusammen, daß der im Grunde verachtete, wenn auch durch das Gurauer Fräulein zu Gnaden angenommene Mensch Emanuel Quint sich zum ersten Male gerade emporrichtete und also einem neu erstehenden Selbstgefühl diesen symbolischen Ausdruck gab. Jedenfalls gab es keine ärgere, keine unglückseligere Herausforderung, und es wäre nichts auszudenken gewesen, wodurch die Gefühle frommer Christen ebenso furchtbar verletzt werden konnten.

Sobald der Steinhagel überstanden war, Quint an einem Quell am Rande des Feldes sich das Blut von Gesicht und Händen gewaschen und dabei ein Kreuzfeuer vieler warnender, strafender und auch höhnender Stimmen erduldet hatte, ging er aufrechten Ganges davon. Er hatte mit kurzen, harten Worten jedermann und sogar Therese Katzmarek abgeschüttelt. Der Stimmen, die ihm »Miltzscher Narr« oder »Giersdorfer Heiland« nachriefen, achtete er nicht.

Man sorgte dafür, daß er nicht verfolgt wurde. Erstlich hatte sich unter dem Volk eine gewisse Beschämung geltend gemacht, eine Beschämung, die jene ergriff und eilig nach allen Seiten davonjagte, die gekommen waren, ein Wunder zu sehen, und ebenso jene andere Partei, die sich beinahe zur Lynchjustiz hatte hinreißen lassen. Auch die Mehrzahl der Steinwerfer schlich sich geduckt davon. Überdies hatten die Herren untereinander und mit Hilfe ihrer Kutscher und zufällig aufgegriffener Hofleute eine Art Feldpolizei organisiert, die nun auch noch die Hefe dieses christlichen Meetings hinwegfegte oder, wenn man will, den janhagelhaften Rest der Mitläufer auseinandertrieb.

Alle Herren samt Herrn von Kellwinkel einigten sich: es wäre das beste, man ließe Quint seiner Wege gehn. Sie hatten dafür dieselben Gründe, die seinerzeit Pastor Schimmelmann gegenüber dem Amtsvorsteher angeführt hatte, als man sich ebenfalls dahin entschied – es war nach der ersten Predigt Quints –, ihn mit einer Verwarnung ziehen zu lassen.

»Die christliche Kirche hat in unseren Tagen der sieghaften Gottlosigkeit«, sagten sie, »sowieso einen schweren Stand. Wenn die Geschichte ruchbar würde, sie allein trüge wieder den Schaden davon. Wem anders als uns und der Kirche würden wohl die Feinde des Heilands diesen ganzen Skandal in die Schuhe schieben?«

 

Inzwischen erreichte Emanuel Quint den Rand eines Forstes, der aus Fichten, Kiefern und einstweilen noch nackten Buchen gebildet war. Stückweise säumten Birken den Weg, der, mit Nadeln und feuchtem Laube bedeckt, den Schritt des Wanderers lautlos machte. Die Erde dampfte von Feuchtigkeit. Immer, wenn das durchbrochene Gewölk, das am Himmel hing, der Ostersonne den Zugang öffnete, fiel ihr Strahl durch die Wipfel in den Nebel hinein, der dann als Lichtgewölk durch den Wald wogte. Krähen riefen, laut geigte der Fink, und sonderbarerweise mochte in diesem Augenblick schwerlich irgend jemandem in der Welt reiner, befreiter und glückseliger als Emanuel Quint zumute sein.

In seinem Innern sangen liebliche Engelstimmen Worte von einer rührenden Kindlichkeit. Wie denn überhaupt ein Lächeln von einem süßen und knabenhaften Reiz um die Lippen des neuen Erlösers spielte. Die Beulen der Steinwürfe thronten an seiner Stirn und wurden von ihm nicht anders empfunden als wie die brennenden Gottesmale einer himmlischen Sanktion.

Auch seine eigene Kehle fing allmählich halblaut zu psalmodieren an. Es war ihm, als wenn die Harfner harften. Es war, wie wenn dabei der feierlich ewige Atem der Gottheit leise rauschend und segnend durch die Zweige der Fichten ging:

Jesaia dem Propheten das geschah,
daß er im Geist den Herren sitzen sah
auf einem hohen Thron, mit hellem Glanz;
seines Kleides Saum den Chor füllet ganz.
Es stunden zween Seraphim bey ihm dran:
sechs Flügel sah er einen jeden han:
Mit zween verbargen sie ihr Antlitz klar,
mit zween bedeckten sie ihre Füße gar,
und mit andern zween sie flogen frey;
gegeneinander ruften sie mit groß'm Geschrey:
Heilig ist Gott, der Herre Zebaoth!
Heilig ist Gott, der Herre Zebaoth!
Heilig ist Gott, der Herre Zebaoth!
Sein Ehr die ganze Welt erfüllet hat.
Von dem Geschrey zittert Schwell und Balken gar;
das Haus auch ganz voll Rauch und Nebel war.

Als Emanuel die Worte dieses lutherischen Sanktus so für sich hin mit Zunge und Lippen artikulierte, treuherzig liebe Verschen, die eine entzückende Schalkhaftigkeit zu enthalten scheinen, ließ ihn ein Knacken in den Zweigen plötzlich aufmerken. Warum sollte nicht ein und der andere Verfolger auf seinen Spuren sein? Als er nun bald darauf schwere und eilige Schritte vernahm, wollte er dennoch von seiner seligen Andacht nicht ablassen, bis eine tiefe und wohlbekannte Stimme nahe an seiner Seite erklang.

»Ich bin dir gefolgt«, sagte die Stimme zu Emanuel, der den Sprecher, Nathanael Schwarz, ohne zu antworten, eine Weile gleichen Tritts mit sich fortwandeln ließ. »Ich bin dir gefolgt, denn ich bin es dir schuldig! Und wo ich es dir nicht schuldig wäre, so doch Gott, der vielleicht deine Seele am Jüngsten Tage von mir fordert.« Kurz, Nathanael erneuerte, diesmal mit einer großen und innigen Dringlichkeit, den Versuch, Quint auf den rechten Weg zurückzuleiten.

Niemals hatte er ein gleiches Entsetzen wie heute beim Bekenntnis des Narren zu bestehen gehabt: daß er Jesus Christus der Heiland wäre. Sein Täufling schien ihm in diesem Augenblick geradezu vom Geprassel eines satanischen Feuerwerks umgeben, von Schwefel- und Phosphorflammen umleuchtet zu sein. Als er nun so handgreiflich und augenscheinlich erkennen mußte, wie weit es mit Quint gekommen war, wurde jede Faser in ihm noch einmal zu einem letzten Versuche der Rettung aufgerufen.

»Ich werde heute nicht von dir gehen«, sagte Nathanael, »bevor ich die Gewißheit erlangt habe, daß du deines entsetzlichen Frevels wegen zerknirscht und reuig bist. Denn ich halte dich nur für verirrt, nicht für wahnsinnig. Wenigstens glaube ich, daß aller Wahnsinn ein Werk des Teufels ist.«

In ähnlichem Tone ging es fort.

Als aber hernach das erste wartende Schweigen kam, wollte der Narr noch immer nicht antworten.

Nathanaels Eifer steigerte sich.

Er hielt Quint vor, wie er um seinetwillen und um der ruchbar gewordenen Taufe willen, die er an ihm vollzogen hätte, nicht mehr das alte Vertrauen in den Gemeinden gewinnen könne. So hatte sich jener Lehrer, in dessen Schule er Quinten zum ersten Male erblickt hatte, merkbar von ihm abgewandt. Er war mehrmals, wahrscheinlich auf die Anregung gewisser Pastoren hin, vor die Behörde gerufen und auch durch den Vorstand der Brüdergemeinde zur Vorsicht ermahnt worden. Da er es gewesen sei, der Emanuel der Gurauer Dame empfohlen habe, so trage er nun auch vor ihr und eigentlich in der ganzen Gegend für das schreckliche Ärgernis, das durch Quinten entstanden sei, die Verantwortung. Herr von Kellwinkel habe ihm noch aus dem fahrenden Wagen laut zugeschrien: »Daran ist kein anderer als Sie schuld, Bruder Nathanael!«

Kurz, der Apostel der sogenannten Inneren Mission predigte, tobte, ja weinte vor Quint.

»Früher«, sagte er, »hat mir der Pastor einer kleinen Gemeinde sogar seine Kanzel eingeräumt, damit ich das Wort aus gläubigem Herzen verkünden konnte. Heute ist den Lehrern fast allen durch ihre Behörde bedeutet worden, mir nicht einmal mehr die kleinste Schulstube, um darin von Gott und dem Heiland zu reden, zur Verfügung zu stellen. Du hast mich«, sagte er, »bei dem Gurauer Fräulein unmöglich gemacht, durch das ich früher reiche Spenden zur Verbreitung des Reiches Gottes empfangen habe. Verschlossen hast du mir außerdem die Tür im Hause der Heidebrands und die Schwelle der Schule meines alten, stets gütigen Freundes Krause, weil, zum Dank für genossene Gastfreundschaft, die Köpfe und Herzen der wohlerzogenen Töchter dieser gediegenen Christenfamilie durch dich verführt und verwirrt worden sind.«

Da aber der Mensch sich von den Stürmen seiner Tiefen mitunter erlöst findet durch eine glückselige Oberflächlichkeit oder aus einem anderen Grunde, konnte Emanuel in den Ernst des geängstigten, ja fast gequälten Bruders nicht einstimmen. Noch immer spielte um seine Lippen und Nasenflügel das knabenhaft heitere Lächeln fort. Plötzlich hatte er, immer noch lächelnd, seinen Arm um Nathanaels Schultern gelegt. »Wir wollen dem Übel nicht widerstreben«, sagte er, »Bruder Nathanael!« Dieser gab Antwort: »Wenn du nicht diesen Weg der entsetzlichsten Lästerung beschritten hättest, ich könnte für dich durch Wasser und Feuer gehn!« Quint sagte dagegen: »Ich weiß nichts von Lästerung, Bruder Nathanael!« – »Hast du vergessen«, fragte dieser, »weshalb du eben beinahe gesteinigt worden bist?« – »Weil ich mich ganz als den bekannt habe«, sagte Quint, »der in mir ist.« – »So sage, damit ich mich ganz davon überzeugen kann, ob deine Verstockung unrettbar ist«, fuhr Nathanael fort, »sage mir, ohne Zeugen, Auge in Auge, ob du nicht Emanuel Quint, der arme Giersdorfer Tischlerssohn, oder sage mir überhaupt, wer du bist!«

»Erstlich der, der ich mit dir rede«, versetzte Emanuel, und es wollte zunächst auf keine Weise gelingen, ihn zu bewegen, näher auf seinen Messiaswahnsinn einzugehen.

Jetzt überholte die beiden ein offener Jagdwagen, in dem Kurt Simon zur Rechten des jungen Benjamin Glaser saß. Die Jünglinge grüßten sehr ehrerbietig. Quint winkte zum Danke leicht mit der Hand.

»Der Friede Gottes sei mit uns allen. Amen!« sagte dann Quint. »Wer Gott und den Frieden vorgibt zu lieben, der muß frei sein von Menschenfurcht! Was anders ist Menschenfurcht als Todesfurcht und Liebe zum Leben dieser Welt? In dieser Welt leben, heißt in Unfrieden leben und seinen Nächsten bekämpfen: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, daß wir unseren Nächsten nicht bekämpfen, sondern lieben sollen wie uns selbst. Des Menschen Sohn ist in eine Welt von Feinden mitten hineingestellt, aber darum wird er doch nicht zum Friedensbrecher werden. Eher wird er die Riegel des Todes zurückschieben und durch die Pforte des Abgrundes treten. Des Menschen Sohn hat den Tod überwunden. Was ist die Welt, daß ich darin sollte, Schritt um Schritt vordringend, durch Mord, Verrat und Betrug meines Nächsten, meines Bruders und meiner Schwester, festen Fuß fassen? Liebe ich doch meine Schwestern und meine Brüder mehr als die Welt! Ich bin nicht heimisch und mag und will nicht heimisch werden in dieser Welt. Es sei denn, daß Gott darin heimisch würde. Gott aber ist fremd in dieser Welt! So muß wohl der Feind, der Feind, der Feind und nur der Feind darin heimisch sein!

Weil aber der Feind unter meinen Brüdern und Schwestern mächtig ist, so sind meine Brüder und Schwestern im Göttlichen ohnmächtig. Ja sogar der Sohn Gottes ist ohnmächtig, der in dem Menschensohn herabgestiegen ist! Noch immer muß der Sohn des Vaters, muß der Gesalbte, der Friedensbringer unter den Menschen vereinzelt, versteckt, verfolgt, verachtet, verflucht und endlich Henkern und Henkersknechten überantwortet sein. Denn siehe, das ist es: zuoberst über allen Werken der Menschen, wie sie der Feind ihnen eingibt zu verrichten, steht der Henkersknecht! Zuoberst auf den Palästen ihrer Könige, auf den Dächern ihrer Gerichtsgebäude, auf den Türmen ihrer Kirchen steht der Henkersknecht! Oder was wäre denn Obrigkeit ohne Strafe, Kerker und Henker?

Diese Welt hat der Feind gemacht! Allein das Reich, dessen Bürger ich, des Menschen Sohn, des Gottes Sohn, der Gesalbte, bin, hat Gott gemacht! Das Geheimnis des Reiches aber ist der Friede! Ich sage dir, Bruder Nathanael, daß nichts anderes als der Friede Gottes der Schatz im Acker, das Licht unterm Scheffel, die Perle des Kaufmanns ist. Ich bin der Mann, der alles verkaufte und hinging, diesen Schatz zu gewinnen. Ich besitze ihn nun, Bruder Nathanael.

Das aber wisse, daß die Welt noch immer der Scheffel überm Lichte ist. Wer wäre des Menschensohnes Bruder und Schwester, wer wäre des Menschensohnes Nächster, wenn nicht der Mensch! Aber noch immer verfolgen seine Nächsten den Menschensohn, ohne zu wissen, was sie tun! Dagegen, sieh um dich, wem sie Altäre errichten! Wem bringen sie täglich, stündlich blutige Hekatomben ihrer Kinder, Weiber und Brüder zum Opfer dar? Es ist der Feind, der seine winselnden Beter und Knechte zum Lohne Tag und Nacht mit glühenden Ruten peitscht! Aus seinem Maule geht Haß, Neid, Wut und Gier. Die schlüpfrige Wollust ist sein Kissen! Ein Gebirge von rasselnden Ketten ist sein Thron! Sein Rachen ist mit Hauern geziert! Sein Blick ist Mord! Sein Atem ist Zwang, Furcht und Grauen sind seine Fäuste! Jeder Laut seiner Kehle ist zehnfacher Fluch, wofür meine Brüder und Schwestern ihn segnen.

Ihr könnt nicht zugleich Gott dienen und dem Feind. Ihr könnt nicht zugleich Gott und dem Mammon dienen. Deshalb dienet ihr dem Feind, dem Mammon, und nicht Gott! Ich aber, der ich, ein Menschensohn, zum Sohne Gottes erhoben bin, diene nicht dem Feind, nicht dem Mammon, sondern nur Gott! Des Menschen Sohn muß aber viel leiden und überantwortet werden seinen Peinigern! Denn siehe, ich gehe den schmalen Weg, den versteckten Weg, den vereinzelten Weg, den von allen gemiedenen Weg und durch die vereinzelte enge Tür, durch die man zum Reiche Gottes eingeht! Du aber gehest den breiten und bequemen Weg über alle die breiten Plätze und Straßen, die der Feind geebnet, durch alle die tausend Tore, die der Feind geöffnet hat! Wahrlich, du bist des Feindes Knecht, und also bist du der Sünde Knecht! Und bist in seinen Kerkern gebunden, dieweil die Welt nichts Besseres als ein ungeheures Gefängnis des Feindes ist. Mein aber, Nathanael, ist der Weg und das Ziel des Gottessohns und die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.«

 

Bei diesen Worten waren die Wanderer an ein kleines, mitten im Walde gelegenes Forsthaus gelangt, vor dessen Tür sie durch Kurt Simon und Benjamin Glaser begrüßt und gleichsam empfangen wurden. Die Haltung und Rede Emanuels hatte auf den Wanderapostel einen sinnverwirrenden Eindruck gemacht. Er spürte genau, wie er noch immer bei näherem Umgang dem Banne Emanuel Quints nicht standhalten konnte, diese seltsamen Folgerungen und Schlüsse spannen sich wie metallene Fäden einer gefährlichen Spinne um ihn herum, die sein eigenes Denken erdrosseln wollten.

Benjamin Glaser, dessen Äußeres den Juden erkennen ließ, trat an Quinten heran und fragte, die zarte Röte einer fast mädchenhaften Schüchternheit im Gesicht, ob er sich seiner noch erinnere. Man vergaß nicht leicht dieses schmale, hübsche Gesicht, das mit seinem runden Kinn, seinen großen Augen und seiner zarten Haut eine beinahe mädchenhafte Schönheit hatte. Emanuel, der den Jüngling im Hause seines Vaters Salo Glaser, des Großgrundbesitzers, kennengelernt hatte, jenes einzige Mal, wo er in Begleitung des Lehrers Krause dort eingeladen gewesen war, – Emanuel also erinnerte sich; worauf der junge Glaser sich mit der zweiten Frage hervorwagte: nämlich, ob er ihm die Ehre geben wolle, jetzt, zu Mittag, in der Försterei sein Gast zu sein.

Quint war ohne weiteres einverstanden und reichte erst Herrn Glaser und dann Kurt Simon die Hand.

Natürlich war die Behauptung Quints, daß er Christus wäre, auch auf Kurt Simon nicht ohne Wirkung geblieben. Sie hatte in ihm, wie in allen übrigen, Schreck und überdies noch Bedauern, Besorgnis und Mitleid erregt. Zugleich aber war ihm jene eigentümlich betäubende Kraft wiederum bemerklich geworden, von der er sich bei seinem ersten Gange mit Nathanael Schwarz und Quint vor nun beinahe einem Jahre durch eine Art Flucht gerettet hatte.

Er hatte Benjamin Glaser getroffen, der von der Strafpredigt Quintens, von ihrem Beschluß ergriffen, von dem Märtyrertum des Narren zum Mitleid erregt, von dem rohen Verhalten der Menge empört worden war. Beide Jünglinge, Kurt und Benjamin, waren überdies von dem ungewohnten, in seinen Ursachen ihnen dunklen Ereignis gepackt, mit fortgerissen und in einen Zustand außergewöhnlicher Art gehoben worden. Als sie den Narren davongehen sahen, sonderten sie sich von der Menge ab, nachdem sie noch einige heftige Wortwechsel mit anderen jungen Leuten, besonders aber mit Doktor Beleites gehabt hatten, und fuhren gemeinsam auf einem Umweg – trotz seiner Tollheit leidenschaftlich für Emanuel und sein Genie, wie sie sagten, inflammiert – mit begeistert klopfenden Herzen dem Narren nach.

Nun, wo sie ihm gegenüberstanden, setzte sie doch das Bewußtsein, es mit einem Manne zu tun zu haben, dessen Geist zum mindesten eine morbide Stelle besaß, in Verlegenheit. Ohne es recht zu wollen, wechselten sie mit dem plumpen und bärtigen Menschen in Schlapphut und Düffelpaletot, der neben ihm ging und in dem Kurt Nathanael Schwarz erkannte, heimlich forschende Blicke der Verständigung.

Ihre Sorge indessen, daß die Verrücktheit Quints sich womöglich noch weiter gesteigert hätte, zerstreute sich angesichts der gänzlich unbefangenen Heiterkeit, die im Wesen des Narren zutage trat. Er lockte die Tauben, er streichelte mehrere wedelnde Dachshunde und einen ruppigen, stichelhaarigen Hühnerhund, der, durch die Güte des neuen Gastes ermutigt, auf die Hinterbeine gestellt, sich gähnend und wedelnd an ihm aufrichtete. Die jungen Menschen bewunderten Quint, weil er sich mutig in Gegensatz zur gesamten Welt zu stellen getraute, einer Welt, die überall im Gegensatz auch zu ihren Naturen stand. Ihre Seelen waren erfüllt von einer gut schillerischen, gegenstandslosen Begeisterung: oder wenigstens wird man nicht zugeben wollen, daß ihre Schwärmerei für soziale Gerechtigkeit, geistigen Fortschritt und geistige Freiheit, bei wütendem Haß gegen Unterdrückung, Kirchen-, Schul- und Staatstyrannei, sich auf die rechten Gegenstände bezogen hätte.

Nach einiger Zeit saßen die jungen Leute mit Quint und Nathanael Schwarz, der sich hatte zum Bleiben bewegen lassen, in einem langen und niedrigen Dachzimmer, durch dessen beide Fenster der Wald hereinrauschte. Forst und Forsthaus gehörten zum Glaserschen Grundbesitz, und es war vorgesorgt, daß der alte Glaser sowie sein Sohn, auch ein Jagdgast gelegentlich Quartier und Verpflegung finden konnten.

Die Mittagssonne schien durch das Fenster der Frontspitze über einen mit sauberen Linnen gedeckten Tisch, auf den der behagliche Förster selbst die dampfende Suppenterrine gestellt hatte, wie er denn überhaupt, nach alter patriarchalischer Sitte, eigenhändig den Wein dem für die Glasers reservierten Keller entnahm, entkorkte und nicht ohne Humor in die Gläser goß. Es bediente außer ihm eine Magd, die es aber dem Alten nur selten recht machte.

»Wo werden Sie sich jetzt hinwenden?« fragte möglichst harmlos der junge Glaser Emanuel Quint. Jener, der mit Gelassenheit seine Suppe gelöffelt hatte, meinte, er wolle jetzt nach der Hauptstadt der Provinz, nach Breslau, gehen. Kurt Simon kannte die Absicht Quints, aber ohne je zu erfahren, was Emanuels Zweck in Breslau sein mochte. In Wirklichkeit hatte Emanuel einen Brief von den Brüdern Hassenpflug, der ihn an Freunde in Breslau wies.

Es ist ein seltsamer Vorgang, wenn eine neue Generation die Fäden ihrer Geistesgemeinschaft über die Erde spinnt. Junge Leute, die ihre Aufgabe, einen besonderen Lebensberuf zu finden, noch nicht erfüllt haben, fühlen den allgemeinsten Beruf, die alte verrottete Welt zu verjüngen, fühlen die ungeheure Aufgabe umfassendster Reformation und Revolution einer Menschengesellschaft, die ihrer Ansicht nach bis zum Augenblick ihres Erscheinens – nämlich der neuen Generation! – Jahrtausende und Jahrtausende lang auf falschem Wege gewesen ist.

»Was wollen Sie denn in Breslau, Emanuel?« fragte, Suppentropfen am Bart, Bruder Nathanael. Man sah seinen bleichen Mienen an: jeder neue Schritt, jede neue Absicht Quints war für ihn eine Ursache neuer peinlicher Unruhe.

Die Magd und der Förster traten herein, wodurch die mit Spannung erwartete Antwort verschoben wurde. »Da, sehen Sie«, sagte der Förster zu Benjamin, »hat meine Alte Ihnen nicht eine Schüssel für einen König zurechtgemacht?« Es war eine dampfende Platte gekochter Forellen, von jenen, wie sie der Förster, der auch Fischmeister war, in einem bestimmten Bache des Forstes fing. Übrigens kannte der Forstmann Quint und hatte den Sohn seines Herrn bereits lachend danach gefragt, wo der Narr seine Beulen herhabe.

Es herrschte von jetzt an während des Mahles eine harmlose, etwas nachdenkliche Heiterkeit. Ein kurzes ernstes Frage- und Antwortspiel entstand eigentlich nur, als Emanuel von einem Gericht junger Tauben nicht essen wollte. Er sagte, es widerstreite ihm, obgleich das Gegenteil jedem freistehe, von einem Vogel zu essen, der Noah den ersten Ölzweig des Friedens gebracht habe und außerdem Symbol des Heiligen Geistes sei.

Nachdem Äpfel und Käse gebracht worden waren, fing Benjamin an, aus seinem aufgewühlten und wißbegierigen Inneren alle jene fragenden, suchenden kleinen Geister zu befreien, die ihn beunruhigten. »Sagen Sie mir«, begann er, »verehrter Herr Emanuel Quint, wie soll man handeln, um in Ihrem Sinne vollkommen zu sein?« Quint gab zurück: »Tut Gottes Werke!« – »Wie kann ich, ein Mensch«, sagte Benjamin, »Gottes Werke tun?« – »Dadurch, daß du vollkommen wirst wie Gott!« – »Vollkommen werden wie Gott«, sagte Benjamin, »das hieße ja doch nichts Geringeres, als aus einem Menschen zum Gotte werden!?« – »Und nichts Geringeres«, erwiderte Quint, »ist der Beruf des Menschensohns.«

Jetzt verbreitete sich jene eigentümliche Stimmung gespannter und mysteriöser Art, die immer eintritt, wenn man erwartet, ein von der Hand des Verhängnisses gestreifter Mensch werde den ungereimten Wahn seines Innern aufdecken. Ein solcher Wahn, der etwas absolut Unbegreifliches hat, besitzt außerdem eine geradezu majestätische Unantastbarkeit. Er ist unbeirrbar und wunderbar, weshalb er denn auch auf naive Gemüter und Völker immer von stärkstem Eindruck gewesen ist. Man weiß, daß Schwachsinn und Wahnsinn nicht nur bei den Indianerstämmen von Nordamerika als göttlich verehrt werden.

»Jawohl, es war der Beruf des Menschensohns«, mit diesen Worten wandte sich Nathanael Schwarz an Benjamin, »des Menschensohns, der für uns am Kreuze gestorben ist, der Blinde sehend, Aussätzige rein und den armen Lazarus, der vier Tage im Grabe gelegen hatte, durch ein Wort seines Mundes lebendig machte. Es war Jesus, der Jairi Töchterlein und den Jüngling zu Nain, die gestorben waren, mit dem allmächtigen Hauch seines Mundes ins Leben rief, trockenen Fußes über das Wasser des Meeres ging und lebendig vor aller Augen zu seinem himmlischen Vater entrückt wurde. Dieser war es, der vollkommen war wie Gott und der an seine Jünger die Frage richtete: Könnet ihr meine Werke tun?«

Dagegen sagte Emanuel Quint, mit einem silbernen Teelöffel nachdenklich auf den Tisch pochend:

»Wer einen Menschen vom leiblichen Tode erweckt, was tut er dem? Er schenkt ihm den zweiten Tod! Wer auf dem Meere zu gehen begehrt, der weiß nicht, wie der Geist Gottes über und in den Wassern, in und über den Himmeln schwebt! Wüßtet ihr, was ich weiß, ihr bedürftet des Glaubens nicht. Aber da euch zu wissen nicht gegeben ist, so sage ich euch: der da leiblich blind ist, kann dennoch mehr sehen und wissen als ihr, und wenn ihr auch leiblich sehet, könnt ihr doch geistlich in Blindheit gebunden sein. Selig sind, die da nicht mit leiblichen Augen Leibliches sehen und, wenn sie schon nicht wissen, doch glauben!«

»Und was ist es«, fragte Benjamin, »was wir nach Ihrer Ansicht glauben sollen, Herr Emanuel?«

»Habe ich je um eine Seele geworben, um die Gott nicht warb?« erhielt er zur Antwort.

Der Narr fuhr fort:

»Wahrlich, wenn ihr Glauben habt als ein Senfkorn, könnet ihr Berge versetzen, wenn ihr aber das Wissen habt, wie ich, so tut es nicht not, zu irgendeinem Berge zu sagen: hebe dich weg und wirf dich ins Meer.«

Kurt Simon warf ein:

»Was sind die Werke, die wir nun tun sollen?«

»Haltet die Gebote!« sprach Quint.

Die jungen Leute, die enttäuscht waren, behaupteten, daß ihnen viele Menschen bekannt wären, die im allgemeinen nicht gegen die zehn Gebote sündigten und dennoch nichts weniger als vollkommen seien. »Nun, so weiß ich euch nichts zu sagen, die ihr nach der Vollkommenheit hungrig und durstig seid«, gab Quint zurück, »als: folget mir nach.«

Nathanael Schwarz, der, im Grund entrüstet und in Angst um die Seelen der jungen Leute, losschlagen wollte, bezähmte sich. Doch machte er viele heimliche Zeichen hinüber zu Kurt und Benjamin, womit er den Eindruck des Narren entwurzeln wollte.

Kurt Simon sagte: »Wenn wir Ihnen nun wirklich nachfolgen wollten, Emanuel, was hätten wir dann zunächst wohl zu tun?« Der Gefragte ließ eine Bibel herbeibringen, öffnete sie und legte den Finger auf jene Stelle der Apostelgeschichte St. Lucae – es ist ihr Beginn –, die also lautet: »Die erste Rede habe ich getan, lieber Theophile, von alle dem, das Jesus anfing, beides: zu tun und zu lehren.« – Dann sagte er: »Es hilft nichts zu lehren, was man nicht tut, deshalb sollt ihr tun, was ich lehre, wie ich tun werde, was ich gelehrt habe! Oder habt ihr vergessen, wie geschrieben ist: ihr sollt sie an ihren Früchten erkennen? Wer meine Rede höret und tut sie nicht, der hat seine Hütte auf Flugsand errichtet! Wer sie dagegen tut, der baut auf Stein, der baut auf den Grund- und Eckstein, den die Bauleute verworfen haben, und sein Baugeld ist der Schatz, der im Acker gefunden worden ist. Wer mir folgen will, tue meine Werke!«

Der Förster, der hinter Emanuel stand, war verdutzt und begann zu Benjamin Glaser hinüber Grimassen zu schneiden. Er kratzte den Kopf, spitzte den Mund, riß die Augen auf, um anzudeuten, der Vorfall komme ihm im alleräußersten Grade bedenklich vor. Übrigens kannte er die Exzentrizitäten seines jungen Herrn, der keine Geschwister und einen verwitweten Vater hatte, und wußte, daß der Alte seinem zärtlich geliebten Sohne, den er zugleich bewunderte, völlige Freiheit ließ.

Es schien indessen, als wenn Benjamin das Gebaren des Försters gar nicht bemerkt hätte. Er sagte, die langen und bleichen Hände voll zarten Geäders übereinander aufs Knie gelegt: »Ihre Lehre war, wie mir schien, die der Selbstlosigkeit. Sie meinen, daß Selbstsucht die Mutter aller irdischen Übel ist. Andere behaupten das Gegenteil, nämlich Selbstsucht sei die Mutter jedes irdischen Fortschrittes. Unser Deutsches Reich erlebt im Augenblick infolge eines blutigen Krieges, der immer selbstsüchtig ist, einen großen Aufschwung auf allen Gebieten. Sein Wohlstand mehrt sich. Das Land wird reich. Unsere Kaufleute treten unter die mächtigsten. Überhaupt: dem Kaufmann gehört die Welt. Der Kaufmann hat den Verkehr gestaltet. Im Austausch der Waren ist die Welt zu einer gewaltigen Einheit geworden, wie nie zuvor. Könnte nun aber ein Kaufmann sein ohne Eigentum? ohne Gewissenhaftigkeit in bezug auf das Eigentum? Würde das ganze Erwerbsleben unserer Tage nicht zusammenbrechen ohne Gewissenhaftigkeit in bezug auf das Eigentum? oder wenn wir Diebstahl, Mord, Betrug unbestraft lassen wollten?«

Quint sprach:

»Es war ein reicher Mann, der über alle Reichen hoch erhaben ist, der hatte einen Haushalter; der ward vor ihm berüchtigt, als hätte er ihm seine Güter umgebracht. Und er sprach zu ihm: Tue Rechnung. Der Haushalter gab Antwort: Ich bin bei einem gewesen, der war dein Schuldner, dem hatte ich dein irdisches Gut dargeliehen, fünfzigtausend Taler und mehr. Er konnte es nicht zurückgeben. Ich erließ es ihm. Ein anderer war dir hundert Tonnen Öl schuldig. Ich zerriß seinen Schuldbrief, und so fort. – Der Herr aber lobte den ungerechten Haushalter!

Wer es fassen mag, fasse es«, fügte Quint seiner Rede hinzu.

 

Man hörte jetzt Stimmen vor dem Haus. Die Jagdhunde hatten schon eine geraume Weile angeschlagen. Eine Anzahl Menschen mit groben Stiefeln traten, wie man deutlich hören konnte, in den mit Ziegeln gepflasterten Hausflur ein. Mit einem Ausruf: »Nun, was ist das?« horchte der Förster befremdet auf und ging dann sogleich in den Hausflur hinunter. Alle lauschten. Emanuel aber, der mit dem Antlitz gegen die Tür gerichtet saß und eben noch in freier, unbefangener, beinahe heiterer Weise gesprochen hatte, zitterte leicht und entfärbte sich.

Was nun geschah, glich nach den Berichten, die später durch Benjamin Glaser und Kurt Simon erteilt wurden, einem Überfall. Ächzend, mit hastig ausgestoßenen Worten, unter Getrampel und Gestampf, dem die Treppe kaum standzuhalten schien, unter Gequietsch des von harten Fäusten gepackten Treppengeländers, kam irgendeine Rotte Menschen herauf gestürmt, so zwar, daß Nathanael Schwarz im gleichen Augenblicke mit den beiden Jünglingen blitzschnell vom Stuhle sprang. Nathanael hatte den Stuhl umgeworfen. Er dachte nicht anders, und ebenso dachten Kurt Simon und Benjamin, es möchte ein wütender Pöbel sein, der Emanuel auf den Fersen war und in bestialischer Raserei sich vorgesetzt hatte, die begonnene Lynchjustiz zu vollenden.

Emanuel sagte zwar: »Fürchtet euch nicht!«, denn er hatte erkannt, wie es allerdings wohl Verfolger, aber nicht im Sinne derer waren, die ihn steinigen wollten. Allein es schien doch, obgleich er sitzen geblieben und äußerlich ruhig war, als trete ein Grauen in seinen Blick. Die Tür ging auf, und es glotzte eine gedrängte Menge wildzerzauster, struppiger Köpfe herein, verzehrte, vom Laufen gedunsene Gesichter, und es war wie ein Machtwort – oder war es der Blick des Narren? –, das, einem magischen Banne gleich, sie nicht über die Schwelle treten ließ.

Diese Eindringlinge hatten Emanuel und jener sie fest ins Auge gefaßt. Natürlich wußte der Narr, wer sie waren und daß in ihnen – den Talbrüdern nämlich – sein Schicksal mit allem Wohl und Wehe beschlossen lag. Er wußte das – und die Sinne entschwanden ihm. Er schlug mit dem Kopf auf den Tisch und ward ohnmächtig.

 

Es waren aber nur acht Talbrüder beieinander geblieben und hatten die Spur des Toren und endlich ihn selber aufgefunden.

Quintens Rede, die unvermutete Wirkung, die sie auf die Menge ausübte, und besonders der Steinhagel am Schluß, von dem auch sie als die Nächststehenden teilweise mitbetroffen worden waren, hatten sie aus der Fassung gebracht. Der in jedem Menschen verborgene Fuchsinstinkt hatte alsbald einem jeden von ihnen eingegeben, sich unter der Menge zu verbergen. Sie selber wußten, wie oft sie auch dort noch von Leuten, die ihnen bekannt waren, als Genossen des Gotteslästerers angerufen wurden und wie viele Male sie seinen Umgang verleugnet hatten.

Schlotternd vor Angst hatte sich die versprengte kleine Herde dennoch nach und nach in einer entlegenen Ziegelei zusammengefunden, in der, da es Sonntag war, nicht gearbeitet wurde. Schon bevor sie Quinten aus der Gärtnerei abgeholt hatten, diente ihnen die gleiche Lehmgrube, die von vielen Krähen umschwärmt wurde, als Versammlungsort.

Als erste trafen sich hier der böhmische Josef und die Brüder Scharf: auch diese noch von Entsetzen ergriffen. Es war, als hätte sie jemand aus langem Traum soeben mit harter Faust in die Wirklichkeit aufgeweckt. Der böhmische Josef, der übrigens durch einen Trupp junger Burschen seiner Häßlichkeit wegen besonders verfolgt worden war – sie hatten ihm Steine nachgeworfen, ihm Hund, Satan, Teufel, Gottseibeiuns, Luzifer und dergleichen nachgeschrien –, schien dennoch voll bei Besinnung zu sein.

Aber er wollte von Quint nichts mehr wissen.

Seine Bemerkungen über ihn strotzten plötzlich von einem zurückgedrängten Ärger und troffen von dem Gifte der Boshaftigkeit. Er hörte nicht auf und reizte mit galligen Redensarten die schlotternden Brüder Scharf, bis sie mit Heftigkeit auf ihn losfuhren und dadurch etwas von ihrer verlorenen Haltung wiedergewannen.

Auch nachdem sich der Weber Schubert, vom Laufen erhitzt und dennoch bleich vor Entsetzen, und später John, der Schmied, hinzugefunden hatten, der noch immer unter dem Druck der Ereignisse sprachlos war, fuhr das kleine böhmische Scheusal mit dem Pudelgesicht fort, Emanuel zu verlästern: er habe niemals an ihn geglaubt und immer gewußt, daß er ein Maulmacher und Betrüger wäre. Das Schlimmste von allem, was er vorbrachte, war aber ein höchst gemeiner Verdacht, der sich auf jene Nacht bezog, in der er in Quintens Zimmer gedrungen war und Ruth Heidebrand bei ihm getroffen hatte.

Weber Zumpt, der mit seiner aufs ärgste ernüchterten Frau erschien, erlitt von dieser die schwersten Vorwürfe. Sie weinte, sie schrie, sie beschwor ihn nach Hause zurück. Er wolle die Kinder verhungern, den Webstuhl verfallen, das bißchen Acker, das sie besäßen, wüst liegen lassen. Die Kuh sei fort. Es fehle an Dünger, fehle an Saat. Die einzige Ziege sei übriggeblieben. Sie griff dann den Talmüller Straube und seine geheimen Praktiken an, mit einer Stimme, die überschnappte in Raserei, und mit Bewegungen beider Arme, durch die besonders die Scharfs bedroht wurden. Diese sah sie mit Recht als die Urheber des, wie sie sagte, ganzen verfluchten Handels an.

»Ihr Dummköpfe«, rief sie, »ihr seid die Betrogenen, und der Talmüller hat seinen Schnitt gemacht.«

Es lag am Tage: was das Weib in ihrer Verzweiflung herausheulte, entsprach der Wirklichkeit. Ein gut Teil von dem, was die anderen in die kommunistische Kasse zusammengekratzt und oft mit großen Opfern erlegt hatten, fand in der Tasche des schlauen Müllers Unterschlupf.

Als der Hufschmied John seine verlorene Sprache wiederfand, waren dies seine ersten Worte: »Ich werde den Müller Straube totschlagen.«

Geraume Weile tobte der Streit der Brüder mit Heftigkeit.

Plötzlich aber, nachdem sich Zweifel und Kleinmütigkeit, wie am Ende eines besiegelten Fehlschlags, eines Vernichtungsschlags aller Hoffnungen, fast ganz der Köpfe bemächtigt hatten, fühlte der Schneider Schwabe einen erneuten Bekenntnisdrang. Mit einer Kraft der Überzeugung, die auf alle, sogar den böhmischen Josef, einen gewaltigen Eindruck machte, trat der kleine bucklige Mann mit erhobenen Schwurfingern vor sie hin und sagte: »Schlagt mich tot, aber ich glaube, ich glaube an ihn!«

Durch diese Erklärung wurde der Panik Halt geboten. Man zeigte sich über Erwarten bereit, den Gründen des eifrigen Schneiders Gehör zu schenken. Den Scharfs besonders schien damit eine große Last von der Seele genommen zu sein. Nicht lange, so fingen die Männer an, sich gegenseitig der Feigheit, ja des Verrats zu beschuldigen. »Warum sind wir geflohen?« sagte Schmied John. »Aus keinem anderen Grunde, als weil wir feige und nichtswürdig sind.« Vergeblich versuchten der böhmische Josef mit höhnischen Einwürfen und die Frau des Webers Zumpt gegen diese veränderte Strömung anzukommen. Besonders die Frau, deren Bruder ja der arme, von Fanatismus und Nachtwachen bleiche und ausgemergelte Schneider war, ward durch sein Zeugnis in eine hilflose Lage gebracht. Sie warf ihm vor, wie kein anderer als er es gewesen wäre, der ihr die Brüder Scharf über den Hals geschleppt und sie dadurch in die Sache des Betrügers Quint verwickelt hätte. Der Bruder schrie: »Halt dein Maul, Weib! lästere nicht! versündige dich nicht! verwirke nicht deine arme Seele!« – »Ihr seid ja so dumm und dümmer als Hornvieh«, rief das zur Verzweiflung gebrachte, entsetzte Weib, »ihr seid nicht bloß dumm, ihr seid ja wahnwitzig!« Schmied John aber rief: »Jawohl, es ist der Wahnsinn des Herrn! der Wahnsinn des Heilands! der Wahnsinn des Kreuzes! und der Wahnsinn des Gottesreichs!« Das Weib erwiderte: »Komm du noch einmal in mein Haus, Schmied John, und halte deine labbrige, wabblige Betstunde ab! Du kriegst Teller, Eimer, Töpfe und Kochlöffel um den Kopf, und ich bring' dich beim Amtsvorsteher zur Anzeige.«

Dibiez meinte, daß ihm bei dem Geständnis Quints, daß er Jesus wäre, ein Schauer über den Körper wie von einem eiskalten Winde gekommen sei. Er fragte, im Reden sich selbst immer mehr erhitzend, ob denn keiner der Brüder das Zucken, Leuchten und Strömen von Licht um Emanuels Haupt erblickt habe, als das furchtbare Wort, auf das der Steinhagel folgte, seinen Lippen entglitten sei.

Im Handumdrehen gewann so jeder der Brüder wieder die alte Wichtigkeit. Ihre Erstarrung löste sich. Ihr Inneres geriet in das ihnen, wie irgendein Narkotikum, zum Lebenselemente gewordene Dunstgewölk ihres Wahnes hinein. Es geriet in die alten, wilden Bewegungen. Was noch eben gefroren war, taute zu einem reichen, breiten, reißenden Strome auf, auf dem sie mit klingendem Spiel dahinfuhren, wie sie meinten, nach dem Eden der ewigen Seligkeit, aber ohne Stromschnellen, Wasserstürze und verborgene Klippen zu berücksichtigen.

In den Brüdern Scharf allein war eine rührende, starke Liebe zu Quint, die jeder guten und besseren Sache würdig schien. Diese Liebe war wiederum aufgebrochen. Sie schlugen an ihre Brust, dieweil sie so schmählich geflohen waren, und erklärten laut, daß sie entweder wieder zu Gnaden angenommen würden von Emanuel Quint, oder sie wollten ihr Leben lang Treber fressen.

So hatte der alte enge Wahn, der die Männer beherrschte, eine gegen früher verstärkte Herrschaft erlangt.

Nur der böhmische Josef blieb fest und bockbeinig.

Krezig, der Handelsmann, dessen langes Schweigen die unheildrohende Blässe innerer Wut kennzeichnete, sprang ihn aber plötzlich mit geballten Fäusten und diesen rasenden Worten an:

»Ich sage dir, Josef, daß du lügst. Wenn es so wäre, wie du sagst, glaubst du, daß das so einfach ablaufen könnte?« – Was er nun sagte, glaubte er, ja glaubten alle, obgleich es der Wahrheit, wie man erkennen wird, nicht entsprach: »Er ist in unsere Häuser gekommen! er hat uns beredet! er hat uns verlockt! er hat sich als Wundertäter aufgespielt! Euch hat er verführt!« – er meinte die Scharfs –, »er hat euch keine Ruhe gelassen, bis ihr alles, was ihr besessen, zu Geld gemacht, Hof, Haus und Arbeit verlassen habt! Er hat nicht gelogen, sage ich dir! Hätte er das, dann: wehe! wehe!«

Und der Wütende machte eine Bewegung, die über das Ziel seiner Rachsucht, falls er wirklich getäuscht sein sollte, und über die Gründlichkeit seiner Rache keinen Zweifel mehr aufkommen ließ.

Nun hatte sich noch zu guter Letzt mit verschwollenen Augen und stierem Blick die Katzmarek zu den Brüdern gefunden. Die verrückte Magd fing nun, vollkommen furchtlos, die ganze Gesellschaft wegen ihrer Altweiberfeigheit abzukanzeln an. Aber was sie vorher und nachher tat, war noch mehr geeignet, die Schuldbewußten zu beängstigen. Auf langen Regalen waren frischgestrichene Ziegel zum Trocknen gestellt. Diese Regale lief sie entlang, kehrte knapp um, wenn sie das Ende erreicht hatte, und kam mit dem gleichen Schritt und dem gleichen zur Erde gerichteten stieren Blick zurück, beinahe in den gleichen Fußstapfen, wo sie dann wiederum kehrtmachte, an das andere Ende gelangt, um immer den gleichen Weg zu gehen. Dabei stieß sie jedesmal nach drei, vier Schritten die Worte hervor: »Wir sind verflucht! verflucht! verflucht!«

Kurz, die acht Männer hatten sich, nachdem sie zuvor verhängnisvollerweise den böhmischen Josef in aller Form aus ihrem Kreise gestoßen hatten, zerknirscht und reuig wiederum auf Emanuels Spur gemacht.

 


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