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Als am Ostersonntag die Magd des Gärtners am frühen Morgen die Läden öffnete, fand sie zu ihrem großen Erstaunen sowohl den Platz vor dem Gartentor als auch Feldweg und Brachfeld hinter der Mauer von einigen Hunderten fremder Leute besetzt. Nun pflegten zwar an jedem Sonntag Patienten in einer gewissen Anzahl, mitunter bis vierzig, zum Schäfer zu kommen, von denen sich einige, um den Vortritt zu haben, auch wohl schon im Morgengrauen einstellten, woher aber diese zweihundert Menschen kamen und was sie wollten, begriff die Magd, die in ihrem Staunen mit ausgebreiteten Armen noch immer die Fensterladen hielt, einstweilen nicht.
Die Gärtnerburschen, die an den Frühbeeten arbeiteten, taten ebendie Frage an sie, die der verdutzten Person durch die Seele ging. Sie wußte aber durchaus nichts zu antworten. Die Zahl der Wartenden mehrte sich. Und wie die Magd ihre Blicke ausschickte, sah sie, wie allenthalben, da und dort, ein Mann, ein Weib, ein Kind über Feld heran und gegen die harrende Menschenmenge näher lief.
Die Sonne war eben aufgegangen. Frau Obergärtner Heidebrand, die durch die Magd geweckt worden war und nun, den Blick mit der Hand vor dem Lichte schützend, die sich immer vermehrende Menge musterte, begriff ebenfalls den Vorgang nicht. Sie sah, wie der Schäfer, augenscheinlich nicht minder befremdet, unten bereits mit der Menge verhandelte.
Er rief herauf: er wisse durchaus nicht, was den Leuten in die Glieder gefahren sei. Es wären nur wenige Kranke darunter und zu ihm kämen sie jedenfalls nicht.
Als der Herr Obergärtner erwachte, an diesem Ostersonntag nicht ganz so früh, als es sonst geschah, wußte er ebensowenig als die anderen für die Gegenwart dieser Menge von Landleuten einen Erklärungsgrund. Es wollte sich auch nichts herausbringen lassen, bis gegen die neunte Stunde eine seltsame Deputation von bärtigen Männern im Hause erschien, die sich nach Emanuel Quint erkundigten.
Sie standen im Hausflur – übrigens waren es beide Brüder Scharf, der böhmische Josef, Weber Schubert, Dibiez, Schneider Schwabe, Weber Zumpt, der Handelsmann Krezig und der Hufschmied John –, sie standen im Hausflur, lebhaft redend und gestikulierend, und es war seltsam, wie sehr ihr erregtes Betragen mit dem mehr als bescheidenen, dürftigen Äußeren dieser Leutchen in Widerspruch stand.
Heidebrand selber war sogleich, durch die mit Entsetzen fliehenden Mägde, von dem Eintritt des wunderlichen Besuches verständigt worden. Sie sagten, es wären Menschen gekommen, bei denen unbedingt etwas nicht ganz in Ordnung sei.
Als Heidebrand schon geraume Weile, nicht ohne starke innere Unruhe, unter der durcheinandersprechenden, ihn mit wirren Fragen bedrängenden Rotte stand, konnte er sich noch immer weder von ihrem Zustand noch ihren Absichten einen Begriff machen.
Ihr Betragen war ebenso aufgeregt als feierlich. Sie schienen dabei vorauszusetzen, daß man wissen müsse, weshalb sie kämen und weshalb das Gärtnerhaus des Miltzscher Schlosses heut von Menschen belagert sei. In allen diesen ebenso dürftigen als verschiedenartigen Mannsgestalten lebte, wie es schien, ein doppeltes Bewußtsein von Wichtigkeit: nämlich der Wichtigkeit des gegenwärtigen Augenblicks und der ihrer eignen Persönlichkeit.
Was der Herr Obergärtner zuerst begriff, nachdem er den Gedanken, es möchten schlechthin Betrunkene sein, verworfen hatte, war: sie sind von einem gemeinsamen Wahn bewegt; und dieser mußte, erkannte er weiter, im Zusammenhang mit dem Osterfeste entstanden, also ein religiöser sein. Diese Leute betrugen sich, als ob ihnen das Gerücht von einem außerweltlich ungeheuren Ereignis zu Ohren gekommen wäre und als ob sie nun da wären, um es, nach tagelangem und atemlosem Lauf, mit ihren eigenen Augen zu sehen.
Der Gärtner sah, daß diese hastig atmende, stoßweis redende, mit fieberglänzenden Augen vagierende Rotte eigentlich ein Kehricht von Menschen war. Ja das Gesicht des böhmischen Josef ließ ihn einen Augenblick lang an ausgebrochene Sträflinge denken. Dem Inhalt ihrer Rede nach konnten es aber weit eher Flüchtlinge aus der Provinzial-Irrenanstalt, aus dem Diesdorfer Rettungshaus oder aus Trinkerasylen sein. Josef rief in einem fort: »Christ ist erstanden!« Er rückte mit seinen stechenden Pudelaugen ekelhaft nahe an des Herrn Obergärtners Gesicht und wiederholte: jeder Mensch auf Erden müsse doch wissen, daß Jesus Christus von den Toten erstanden ist. – »Jesus, er, mein Heiland, lebt!« wiederholte der gedrungene Hufschmied John redeweise. – »Sie ist gefallen, sie ist gefallen, die große Babel!« äußerte Schwabe bald gegen den Gärtner, bald gegen die Scharfs, bald gegen John, Schubert, Dibiez, bald gegen Zumpt und bald für sich selbst. Gefragt, was ihr Begehren wäre, sagte Anton Scharf dem bedrängten Gärtner dreimal hintereinander mit weitgeöffneten Augen und Nasenlöchern die Worte: »Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesetz und die Propheten geschrieben haben!« ins Gesicht. Und wieder: »Wir haben den gefunden . . .«, was immer mit wilder Freude durch den fast schreienden Chorus: »Wir haben den Messias gefunden!« bestätigt ward.
Indessen standen im Garten draußen, vor der geöffneten Tür, die Gärtnerburschen, hielten sich vor Lachen die Seiten und krümmten sich.
Ein Wort, das man immer wieder im Durcheinander überspannter Redensarten dieser verrückten Deputation zu hören bekam, war: »Wir haben ein Geheimnis entdeckt.« Mit diesem Ausspruch schienen sie, wie nach Übereinkunft, den eigentlichen Zweck ihres Kommens verdecken zu wollen. Er drückte denn auch in der Tat in zwiefacher Hinsicht, nämlich in der eben bezeichneten Weise und noch in einer anderen, tatsächlich eine Übereinkunft aus. Sie glaubten nämlich erkannt zu haben, was das eigentliche Geheimnis Quintens ausmache.
Ohne auf die einzelnen Umstände einzugehen, sei nur gesagt, daß sie sich nach Quintens Verschwinden wieder und wieder im engeren Kreise versammelt hatten. Zudem hatte das Gerücht vom Erscheinen des Wundertäters der Talmühle einen geradezu hundertfältigen Zulauf verschafft. Es ist natürlich, wenn dieser Umstand wie etwas Wunderbares auf die Versammlung derer, die sich als Jünger und Auserwählte fühlten, zurückwirkte. So hatten sie denn eines Tages, in der närrischen Phantastik ihrer mehr und mehr sich von dem nüchternen Gange der Wirklichkeit entfernenden Seelen, gemeinsam, wie durch Erleuchtung, Quintens Geheimnis erkannt und sich, einer dem andern, zur Wahrheit bekräftigt: nämlich Quintens nun über jeden Zweifel erhabenes Messiastum, dessen Kraft, Leib, Blut und Geist über allen Worten der Bibel sei, über allen Wahrheiten der Verheißungen. Er war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Er war gekommen und würde das Reich in einer von niemand geahnten, auch nicht durch die Bibel vorhergesagten Art und Weise aufrichten. Kurz, die Gegenwart Quintens hatte den hellen Wahnsinn zum Ausbruch gebracht.
So traten sie vor die Menge hinaus, die, wie gesagt, sich täglich in größerer Anzahl um die Mühle versammelte, und predigten das Geheimnis des Reichs. Sie verrieten Emanuels Aufenthalt. Sie sprachen »in Zungen«, und John, der Schmied, der vielleicht wirklich an diesem Tage über den Durst getrunken hatte, tat sich um Ostern dadurch hervor, daß er eine wunderbare, letzte Enthüllung des Geheimnisses für den Auferstehungstag, ja eine doppelte Auferstehung und Offenbarung des Heilands im Gärtnerhause zu Miltzsch fanatisch weissagte.
Während sie noch im Innern des Hauses wirre Dinge mit dem Obergärtner verhandelten, fing die versammelte Menge draußen mit gewaltigem Ausbruch den ersten Vers eines Osterliedes zu singen an:
Triumph! Triumph! der Herr ist auferstanden,
er ist nicht hie! er ist nicht hie!
der weiland lag in Todes Strick und Banden,
er ist erstanden heute früh.
Ein solcher Gesang ist überaus eindrucksvoll, und Frau Heidebrand hielt es für ein Glück, daß Ruth nicht im Hause war. Man hatte das Kind, weil man Emanuel doch nicht so Hals über Kopf vor die Türe setzen wollte und um sie auf andere Gedanken zu bringen, bei befreundeten Apothekersleuten untergebracht, deren Tochter im gleichen Alter und früher mit Ruth befreundet war. So war sie den Eindrücken dieses Morgens genugsam entrückt, die sonst vielleicht wiederum Krisen nervöser Natur bei dem Kinde zum Ausbruch gebracht hätten.
Frau Heidebrand, durch den elementaren Zug des Ereignisses ebenso wie ihr Gatte verdutzt, hatte dennoch, eher als dieser, den unglückseligen Pensionär als Ursache dieses Übels, gleichsam als den Magneten, der es herbeigezogen hatte, erkannt. Sie bedauerte nun, daß sie selbst und ihr Gatte nur an Emanuels Mutter geschrieben hatten, sie möge den Sohn nach Hause holen, anstatt dem Narren selbst gegenüber, im Sinne des Gurauer Fräuleins, entschlossen und offen zu sein.
Emanuel war an diesem Morgen, der kühl, ruhig und sonnig einsetzte, erst durch den Gesang vor den Fenstern geweckt worden. Er hatte am Abend vorher ein kleines Bündel mit Habseligkeiten zusammengepackt, nachdem er einig geworden war, in Gottes Namen seines Weges am kommenden Morgen von dannen zu gehen. Kaum war er notdürftig angekleidet – er hörte dabei ein Trampeln von Füßen und Laute rauher Stimmen im Haus –, da pochte es, und Herr Heidebrand drang, gefolgt von den Talbrüdern, bei ihm ein.
»Diese Leute wollen zu Ihnen, Emanuel!« sagte in vorwurfsvollem Tone, die Röte des Unwillens im Gesicht, Herr Heidebrand. Worauf Emanuel kühl mit »Ich weiß es!« antwortete. Die Talbrüder aber waren verstummt und drehten, ein jeder mit einem Ausdruck, der in seiner bebenden Devotion etwas Verwirrendes an sich hatte, verlegen die Mütze in der Hand.
Der Obergärtner hat später erzählt, das Verhalten Quints, das Betragen der Talbrüder, wie es bei dieser ersten Begegnung zwischen Verführer und Verführten, der er beiwohnte, zutage trat, habe seinen eigenen gesunden Menschenverstand in Gefahr gebracht.
Herr Heidebrand stand vor dem Narren Quint, und es war ihm nicht anders zu Sinn, als wenn man ihm sein Konzept durcheinandergebracht hätte. Es lag wie ein Zwang, wie ein Druck um seine Stirn. Er fragte sich, ob er an Tollkraut gerochen hätte, und meinte, der Satan habe ihm ein Blendwerk, eine scheußliche Gaukelei, eine höhnische Spottgeburt der Wiederkunft Jesu und seiner Jünger eingebildet, die doch in mancher Beziehung von einer betörenden, ja überzeugenden Treue war.
Es war in Emanuel, nach vielen Krisen, ein starrer, unbeirrbarer Wille, verbunden mit einer Idee, zur Herrschaft gelangt, und was er dadurch gewonnen zu haben glaubte, war, wie der Narr in Christo es nannte: die kühne Freiheit des Gotteskindes zu christlicher Tat und zu christlichem Tod.
So war denn ein Feuer in seinen Augen, womit er die armen Jünger anblitzte. Er wies ihnen das Bündel mit einer befehlenden Weisung der Hand, die keinesfalls ohne eine gewisse Hoheit war: worauf sie sich alle zugleich auf die Habseligkeiten Emanuels stürzten, eifersüchtig bestrebt, ihm zu Diensten zu sein. »Ich gehe mit euch«, sagte der Narr, »obgleich ihr euch an mir ärgern werdet. Doch ich weiß, der Sohn Gottes kann bei euch jederzeit eines Trunks, eines Lagers und eines Bissen Brotes sicher sein.«
Dann verließ er mit ihnen das Haus ohne Umblicken.
Hofknechte und Gärtnerburschen, zwischen denen der von Quint mit starken Schritten geführte, lächerlich stolpernde Trupp von Erweckten hindurch mußte, blieben zunächst verdutzt und lachten nicht. Man wartete ab, was geschehen würde. An den Grenzen jener singenden Gemeinde von »Kindern und Unmündigen«, die in der Einfalt und gläubigen Torheit reiner Herzen auf den Eintritt des Wunders warteten, wodurch »das ängstliche Harren der Kreatur« endlich, endlich in eitel Freude verwandelt werden sollte, hatte sich bereits ein Zulauf feindlicher Elemente bemerklich gemacht.
Bei diesem fast blinden, aber entschlossenen Schreiten ins Unbekannte fühlte Emanuel etwas wie den felsenharten Druck einer Macht, die er herausfordern wollte und die ihm entgegenstand.
Nun ist es klar, ich fühle deutlich, wie ich dem Feind entgegenschreite, dachte Emanuel. Ich habe den Feind nie so Brust an Brust gefühlt, habe ihm nie so, wenn auch mit blinden Augen, ins Auge gesehen. Dieser Feind ist so alt wie die Menschenwelt, und ich unterfange mich, als ein zweiter Christus, auszuziehen und ihn zu besiegen. Und es war ihm, Quinten, als richte sich am Horizont, wie ein Gebirgswall, von grimmigen Riesen bewohnt, der Feind empor. Oder war es die breite und unwiderstehliche Woge eines Urmeeres, die sich ihm drohend, sintflutartig entgegenwälzte? Wie würde sein Lichtlein, unter dem Scheffel hervorgeholt, wie würde die kleine Gemeinde der Hoffenden dieser Flut gegenüber standhalten? Wir werden, sprach es in ihm, unrettbar hinweggeschwemmt.
Aber »das schwankende Rohr wird er nicht zerbrechen, und das glimmende Docht wird er nicht auslöschen . . .« –? Und wie dem auch sei: der Schritt war geschehen, und Emanuel dachte nicht an ein Zurück.
Wie es bei Wallfahrten üblich ist, einige Pilger hatten, trotzdem nur ein allgemeines wunderbares Ereignis vorausgesagt worden war, dennoch die Kranken ihrer Familie mitgebracht. Sie versuchten mit ihnen Quint nahezukommen, weshalb sogleich ein Gedränge entstand, als der falsche Heilige endlich erschien. Man brachte einen Menschen heran, der ganz einfach das Delirium potatorum hatte, ein Leiden, dessen Erscheinungsform jedem Arzte bekannt, auf den Laien indessen zuweilen von einer grausigen Wirkung ist.
Wer hat nicht schon den Gedanken gehabt, daß weit mehr noch als hinter den Gittern eines Gefängnisses hinter den eisernen Stäben einer Irrenanstalt das Inferno, die Hölle ist. Unter allen Zuständen, die dort behandelt werden, steht wohl das Trinkerdelirium an Furchtbarkeit obenan. Der breite und muskulöse Mensch, der, von einem schrecklichen Tremor geworfen, von vier Männern gehalten vor Quinten stand, stieß angstvoll gepeinigte Laute aus und hatte schreckliche Visionen, wie aus seinen frostgeschüttelten Worten deutlich wurde, von Erdbeben und von Weltuntergang. Wo er hintreten wollte, riß sich ein Rachen des Abgrundes auf. Mitunter ward er hinuntergeschleudert, wo dann wiederum andere Abgründe unter ihm Flammen heraufloderten oder er sich im Schlamm, überkrochen von Schlangen, Eidechsen und allerhand eklen Reptilien, fand.
Die Qual dieses Menschen wirkte ansteckend. Die übermenschliche Angst, die er litt, bewirkte etwas in der Menge wie eine allgemeine, hilfeflehende Bangigkeit.
Als Emanuel, seiner nicht achtend, an dem gemarterten ehemaligen Hausknecht oder Küfer oder Bierkutscher, was er nun sein mochte, vorüberschritt, hörte man dessen Stimme rufen, aber so, daß es dem Heulen eines Hundes weit ähnlicher als einem menschlichen Laute war: »Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!«
Der häßliche und vielleicht auch komische Laut, dessen Bedeutung von den Fernerstehenden nicht verstanden wurde, löste im Kreise der Unbeteiligten, deren Zahl sich ständig vermehrte, ein kolossales Gelächter aus.
Aber es schien an diesem Tage nichts in Quint zu sein von Mitleid und von Barmherzigkeit, wie er denn diese Tugenden überhaupt bisher nur als die natürlichen und gelegentlichen Äußerungen einer reinen Menschlichkeit geübt hatte. Alles an ihm schien heute Feuer, ja entschlossene Herzenshärtigkeit. Dabei schien seine Stunde noch nicht gekommen. Er redete da und dort, mit diesem und jenem einige Worte, schritt aber plötzlich, nur an der Spitze seiner neun Talbrüder, eiligen Gangs in die Felder fort.
Es war ein Brachfeld, das ein hügeliges Gelände überzog, auf dem er durch eine von allen Seiten strömende Menschenmenge gestellt wurde. Nicht nur Landleute, die auf dem Wege zur Kirche waren, eilten herbei, sondern auch bürgerliche Gestalten zeigten sich, und späterhin sah man sogar Jagdwagen heranfahren, die junge Söhne von Gutsbesitzern, ja die Väter selbst herbeibrachten, um das ruchbar gewordene tolle Ereignis nahe zu sehen.
Kurt Simon hatte sich eingefunden. Der junge Beleites erschien bei den Heidebrands. Neugier oder irgendein anderes Gefühl hatte den Obergärtner bewogen, der Menge und Quinten nachzugehen, als sich der ganze Unfug feldein wälzte. Eben fing Emanuel Quint seine weitberüchtigte Rede an, als sich auch Pastor Beleites im Wagen mit Herrn von Kellwinkel einstellte.
Wie sehr gegen früher das Wesen Quintens verwandelt war, das konnte man schon am Ton seiner Stimme bemerken, mit der er Ruhe gebot, an der Art, wie er drohend und furchtlos die Faust erhob und herrisch mit seinem Fuß aufstampfte. Noch mehr aber trat es durch den Inhalt der Rede hervor, die der Tor in flammenden Worten hinausschleuderte.
»Ihr Heuchler«, rief er, »die ihr Mücken seiget und Kamele verschlucket, höret die Worte Jesu Christi, des Gottessohns! Höret die Worte des Menschensohns, wie sie ihm der Vater gibt auszusprechen! Der Vater ist bei mir, der mich gesalbet hat und gesandt: aber nicht, daß ich Frieden bringe, sondern das Schwert!
Wehe euch Heuchlern! Was seid ihr anders als ein ungläubiges, lügnerisches, betrügerisches und habgieriges Geschlecht? einer des andern Feind, geheim oder öffentlich! einer des andern Räuber, geheim oder öffentlich! Diebe! Ehebrecher! Verräter! Mörder! geheim oder öffentlich! Ich sage euch, ihr Knechte des Antichrist: Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeiset! Ich war durstig, und ihr tränktet mich nicht! Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich nicht gepflegt! Ich bin gefangen gewesen, und ihr habt mich aus dem Kerker, der ein Fenster hatte, hinab in den lichtlosen Keller zu Skorpionen und Schlangen gestoßen! Ihr habt mich gevierteilt, aufs Rad geflochten, habt mir mit glühenden Zangen den Leib zerfetzt! Ihr habt mich an den Galgen gehängt, geköpft, geschunden, geprügelt, geheim oder öffentlich . . .«
Bei diesen Worten lief um die Peripherie der Menge ein helles und tolles Lachen herum, und eine Stimme ließ sich vernehmen: »Hätten sie dich doch gepökelt, gebacken, eingesalzen, in Fässer verpackt und zum Satan in die Hölle geschickt!«
Quint rief dagegen: »Ich kenne dich, Stimme. Wundere dich nicht, du armer, verblendeter, grober Ackerknecht, daß diese Stimme durch deine Kehle gedrungen ist! Sie stammt dorther, wo alles das herstammt, was Gott nicht gereinigt hat. Es geht aus dem Munde hervor und machet dich, nicht mich, unrein. Du weißt, und es ist uns gesagt und ist wahr, daß nur, was aus dem Munde hervorgeht, den Menschen unrein macht. Aber wisse: nicht du bist's, der da spricht, sondern es ist die Macht, so alt wie die Welt, die ihre Tage in Roheit verfinstert.«
Unbeirrt fuhr der Narr dann fort:
»Ihr Heuchler! Öffentlich habt ihr meinen Namen und mich euren Herrn genannt, heimlich mich täglich ans Kreuz geschlagen! Berge, ja Gebirge von rostigen Nägeln genügten euch zu jahrtausendelanger Henkersarbeit nicht.
Ihr nahmt mich unzähligemal vom Kreuz, ihr schnittet mich vom Galgen herunter und verkauftet mich: Stück um Stück meines verwesenden Fleisches wurde verkauft! Stück um Stück meiner bröckelnden Knochen! Jeder Span meines Kreuzes! Jeder Flicken meines Gewandes! Alles und alles habt ihr zehntausendemal, samt Gott dem Vater, Gott dem Sohn und Gott dem Geiste, dem Mammon geopfert! Aber die mich kauften, betrogen sich, die mich kauften, wurden durch euch betrogen. Zwar habt ihr den wahren Heiland unzählige Male ans Kreuz geheftet, aber den vom Kreuze herabzunehmen euch gegeben ist, ist des Menschen Sohn und der wahre Heiland nicht.«
Herr von Kellwinkel war aus der Kutsche gesprungen und hatte den jungen Beleites herangewinkt. »Hören Sie, Doktor«, sagte er ihm, »wenn dieser Verrückte so weiterspricht, dann müssen Sie mir den Gefallen tun, sich freundlichst in meinen Wagen zu setzen, nicht wahr? Und Sie fahren dann schnell in meinem Auftrag zum Landrat hinein, denn es könnte zur Pflicht werden, ihn zu verständigen.«
»Was seid ihr? Meinet ihr etwa Christen? Dann war Pilatus, dann war Judas, war der Hohepriester, der ihn verdammte, waren die Kriegsknechte, die ihn verspotteten, war ein jeder von ihnen ein Christ! Dann war es christlich, ihn geißeln, christlich, ihm mit der Faust ins Gesicht schlagen, christlich, ihm mit einem Tuche die Augen verbinden, ihm eine Narrenpritsche in die Hand geben, ihm eine Narrenkrone aus Dornen auf das Haupt drücken und rufen: Rate, Christe, wer dich schlug!«
»Es ist ein Skandal«, sagte Herr von Kellwinkel.
»Oder herrscht unter euch ein anderes Gesetz als Auge um Auge, Zahn um Zahn?« fuhr Emanuel fort. »Habt ihr nicht die Völker bewaffnet, die Welt mit Myriaden von furchtbaren Mordinstrumenten bedeckt? Schwimmen nicht eure ungeheuren eisernen Mordmaschinen auf allen Meeren, und meinet ihr, daß der Heiland eure Kanonen, eure Gewehre und eure scheußlichen Metzelfeste segnen wird? – Es ging ein Sämann aus zu säen! Meint ihr, daß dies die Saat des Heilandes, des Gottesreiches auf Erden ist? Ich aber sage euch, die ihr zuhört: liebet eure Feinde! tut denen wohl, die euch hassen! segnet die, die euch verfluchen! bittet für die, die euch beleidigen! und wer euch schlägt auf eine Backe, dem bietet die andere auch dar!«
Der Narr fuhr fort:
»Meinet ihr, daß ihr zugleich Gott dienen könnt und dem Mammon? Wahrlich, ich sage euch: ihr werdet Gott dienen oder dem Mammon! Meinet ihr, ihr werdet euren Feinden Übles tun, denen fluchen, die euch fluchen, eure Beleidiger verfolgen, schlagen, die euch schlagen, und doch Kinder Gottes heißen? Ich sage euch: wer euch den Mantel von den Schultern reißt, den rufet zurück! Sagt ihm, du hast den Rock vergessen! Gebt ihm auch den Rock! Wer dich aber bittet, dem gib ein zehnfaches Maß dessen, worum er dich bittet! Wenn aber ein Dieb kommt und bricht in deine Vorratskammern, du Reicher, so gehe nicht hin und hetze die Schergen hinter ihm drein, sondern laß ihm, was er genommen hat, und fordere es nicht wieder! Brechen sie aber in eure Gewölbe, darin ihr eure Juwelen, den Schmuck eurer Weiber und euer gemünztes Gold verborgen habt, so lasset sie getrost davonschleichen mit ihrem Raub! Denn ich sage euch: ihr sollt nicht Schätze sammeln, die Motten und Rost fressen! Und was hülfe es euch, wenn ihr die ganze Welt gewönnet und nähmet doch Schaden an eurer Seele?«
»Noch besser!« sagte Herr von Kellwinkel, und auch bei den übrigen Zuhörern lösten diese seltsamen Grundsätze Äußerungen der Belustigung, der Erbitterung und des Hohnes aus.
Quint konnte bemerken, wie die Gesichter jener frommen Schäflein länger und länger wurden, die gekommen waren, um Zeugen von etwas Wunderbarem zu sein. Ebensowenig entging es ihm, wie sich auf den gleichsam erleuchteten Mienen der irgendeiner himmlischen Manifestation, eines Auferstehungswunders gewärtigen Talbrüder, die, wie ein Stab, ihm am nächsten standen, – wie sich in ihren Mienen hier Enttäuschung, dort Bestürzung auszuprägen begann.
Waren sie denn nicht ehrliche Leute? Und wenn sie es waren, und waren ihm außerdem gläubig nachgefolgt, was sollte denn dieser Hagel von Scheltworten? Sind wir denn Räuber? Diebe? Verräter? Mörder? Ehebrecher? dachten sie. Und sie gaben sich Antwort: Wir sind es nicht! Wir sind auch nicht Knechte des Antichrist! außer daß jener, der uns so nennt und der vor uns steht, der Antichrist wäre.
Und was gehen ihn denn, da er es mit redlichen Menschen zu tun hat, die Diebe an? Sind wir denn Diebsgenossen und Diebsgelichter? Wann hätten wir ihn bestohlen, geköpft, geschunden, an den Galgen gehängt, geheim oder öffentlich?
Anton Scharf wurde dunkelrot vor Scham und Wut! Was? Ich und mein Bruder, wir wären nicht Christen? Wir wären Judas, wären Pilatus, wären den Kriegsknechten, die ihn marterten, gleich? Wann hätten wir ihm die Faust ins Gesicht geschlagen? Und was sagt er: wir sollen den Dieben und Räubern Vorschub tun?
»Sehet euren himmlischen Vater an«, fuhr der Tor indessen mit stärker erhobener Stimme fort, »ist er nicht gütig über den Undankbaren? Freundlich über den Gottlosen und Boshaften? Läßt er nicht seine Sonne täglich aufgehen über euch, die ihr doch Böse und Gute und wenige Redliche unter Dieben, Betrügern, Verrätern, Mördern und Gottlosen seid?«
»Halt deine Schnauze«, schrie ein betrunkener Pferdeknecht, »sonst kriegst du den nächsten Stein an den Schädel.« Ein Trupp junger Leute aber zog mit dem Wechselgesang von »O du lieber Augustin« und »Lott ist tot, Lott ist tot, Jule liegt im Sterben« augenscheinlich gelangweilt in den nächsten Dorfkretscham ab.
Unbeirrt aber ging die Strafrede fort:
»Oh, ich kenne euch wohl« – und Quint schickte einen zornigen Blick dorthin, wo die Jagdwagen und die gutgekleideten Leute standen –, »ich kenne euch wohl, die ihr über eure Mitbrüder zu Gericht sitzet! Ihr Gottlosen! Ihr kennet weder Gott den Vater noch Gott den Sohn, noch kennet ihr Gott den Geist! Und Gott der Geist und Gott der Sohn und Gott der Vater kennet euch nicht! Oder meint ihr, die ihr Gottes Sohn mit Handschellen an den Händen hinter die eisernen Türen eurer Gefängnisse transportiert, die ihr den Sünder, dem Gott verzeiht, mit Ketten belastet, die ihr den seiner leiblichen Freiheit beraubt, der des Königs Menschenmordwaffe nicht in die Hand nehmen will, – meinet ihr, sage ich, daß der Heiland eure Gerichte segnen wird? Ihr habt vergessen, was der Vater gesagt hat: ›Mein ist das Gericht!‹ Daß er gesagt hat: ›Richtet nicht, so werdet ihr selbst nicht gerichtet! Verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammet! Vergebet, so wird euch vergeben!‹ Ihr seid allesamt abgewichen, du! du! du! und du!« – und er wies mit dem ausgestreckten Arm auf diesen und jenen Zuhörer: »Willst du zu deinem Bruder hingehen und zu ihm sagen, laß mich den Splitter aus deinem Auge ziehen, bevor du den Balken aus deinem Auge gezogen hast? Ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, sage ich dir! dir! dir! und dir!« – wiederum wies er auf einige hin, die sich mit höhnischer Miene umwendeten –, »und dann siehe zu, gehe hin, siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen magst!«
Und er erzählte ihnen das Gleichnis vom König, der mit seinen Knechten rechnen wollte:
»Ihm kam einer vor, der war ihm zehntausend Talente schuldig. Der Knecht fiel vor ihm nieder, und der König, der Gott war und auch der Vater ist, erließ ihm die Schuld. Derselbe Knecht aber ging hin und fand einen Mitknecht, der ihm ein Geringes schuldig war, den griff er an, den würgte er, den stellte er vor Gericht, über den saß er als Richter selbst zu Gericht, den ließ er foltern, stäupen, ins Gefängnis werfen. Er ließ ihn wieder herausholen und an den Galgen knüpfen. –
Tretet herzu, ihr Schalksknechte! Ihr, denen Gott einem jeden seine zehntausend Dukaten Schuld erlassen hat und die ihr täglich eure Brüder um einiger Pfennige willen kreuzigen laßt! Du Kaiser, du König auf deinem Thron! Ihr Generäle, Minister und hohen Geistlichen! Ihr Magnaten und Fürsten! Ihr Gerichtspräsidenten, Richter, Schöffen, Polizeiverwalter und Polizisten! Ihr Weiber, die ihr eure Dienerinnen mißhandelt! Ihr Landherren und ihr Fabrikherren! Tretet herzu: hier ist das Gericht des Menschensohnes! Oder wollt ihr sagen: lasset uns Übles tun, auf daß Gutes daraus komme? Ich sage euch: euer Gesetz ist darum gestiftet worden, daß die Sünde mächtiger würde.
Und wer sich auf das Gesetz beruft, beruft sich auf das Gesetz, nicht auf Gott. Sofern ich gekreuzigt, gestorben und begraben bin, so ist es die Sünde gewesen, die mich gemartert und getötet hat! Eure Sünde ist es gewesen, die sich stützt auf das Gesetz! Sie betrog und tötete mich durch dasselbe Gesetz! Ja, die Sünde mit ihren sündlichen Lüsten ist mächtig in euch durch das Gesetz erreget, und ihr seid willig, dem Tode Frucht zu bringen! Euer Mund ist voll Fluchens! Unter euren Lippen ist Otterngift! Eure Zunge ist eitel Haß und Bitterkeit! Eure Füße sind eilig, Blut zu vergießen! Was säet ihr aber Unfall und Herzeleid, statt daß ihr den Frieden Gottes aussäet?
Oder meinet ihr wirklich, daß der Heiland eure Gerichte, die Lippen eurer Richter, die nach toten Buchstaben Unrecht sprechen, Böses mit Bösem vergelten, Haß mit Haß, die unbarmherzig und kalt – ganz anders als Gott! – den Sünder dem Kerker, dem Beil, dem Strang, dem Tod überliefern, – meint ihr, daß Jesus die Arbeit eurer Henker, die Mauern eurer Zuchthäuser, die Richtblöcke eurer Richtstätten segnen wird? Meint ihr, er wird euren Staatsanwälten die Palme des ewigen Friedens geben?«
»Das ist die tollste Farce«, sagte Herr von Kellwinkel zu Pastor Beleites, »und dabei die wildeste Blasphemie, die mir jemals begegnet ist.«
Quint fuhr fort:
»Nehmet allen Jammer, alle blutige Mühsal, allen schrecklichen Wahnsinn, der außerhalb des Gesetzes gewütet hat, und stellt allen blutigen Wahnsinn dagegen, den das Gesetz verewigt hat! Stellt den Fluch, der außerhalb des Gesetzes wütet, gegen den Fluch, der durch das Gesetz gewütet hat, und wie ein Walfisch den Jonas verschlungen hat, so, sage ich euch, wird der Fluch der Sünde außerhalb des Gesetzes vom Fluch des Gesetzes verschlungen werden.«
Nachdem Emanuel Quint auch noch die Kirchen und »sogenannten Gotteshäuser«, sowohl protestantische als katholische, insgesamt als das wahre Golgatha Jesu Christi bezeichnet hatte, wofür ja auch das nachgemachte Kreuz und die Ausstellung seiner Martern den Beweis liefere, stieß er gleichsam dem Faß der Langmut seiner Zuhörer durch diesen Abschluß den Boden aus:
»Ihr Heuchler, unter denen ein jeder Jesum zu bekennen, die Taufe Jesu zu besitzen meint, ich sage euch, ihr bekennt ihn weder noch habt ihn bekannt, noch werdet ihr je seine Taufe empfangen. Wer da bekennet, der wird getauft! und die da wahrhaft Christum bekannt haben, die sind in seinem Tode getauft! Und die da in Christo lebendig geworden sind, die sind in seinem Tode lebendig geworden! Wäre es anders: ich müßte euch kennen, und ihr müßtet mich kennen, aber ihr kennet mich nicht, und ich kenne euch nicht! Und ich sage weiter und bekenne euch, ihr alle, nah und fern, die ihr mir zuhöret, ihr alle, die ihr Ohren zu hören habt, daß ihr mich sehen werdet taufen mit einer Taufe, von der ihr nichts wisset! mich, der ich, von Johannes getauft, Johannes' Taufe verworfen habe! mich, der ich, der wahre Gesalbte, durch die Gnade des Vaters, des Sohnes und des Geistes heut vor euch auferstanden bin und als Christus, der Heiland, vor euch dastehe.«
Emanuel schwieg, und im gleichen Augenblick rann ihm ein fingerbreiter Blutstrom über die linke Stirnhälfte, über die rote Braue und, tropfend, über die roten Wimpern des linken Auges herab und rieselte eilig die Wange hinunter.
Der Narr in Christo bewegte sich nicht.
Pastor Beleites und Herr von Kellwinkel, denen der Schluß und Gipfel der Feldpredigt noch den Atem verschlagen hatte, wußten nicht, was geschehen war, dann aber mußte ein jeder, der Augen hatte, ob er nun wollte oder nicht, sich eingestehen, daß allbereits, da und dort vereinzelt geschleudert, Feldstein um Feldstein gegen den armen Bekenner flog.
Beleites sagte: »Sie werden ihn steinigen!«
Kellwinkel antwortete: »Was für den religiösen Geist der Menge nicht gerade ein schlechtes Zeugnis ist.«
Noch hatte Kellwinkel nicht ausgesprochen, als der Raum über den Köpfen der Menge zwischen ihm und Quint durch eine Wolke taubeneigroßer Kieselsteine verfinstert wurde.
»In welchem Jahrhundert leben wir?« sagte ein hektisch emporgeschossener Student der Theologie, ein Pastorssohn, der eine große Brille trug und den Vorgang versonnen beobachtete.
Das Entstehen des unholden, immer dichter werdenden Schwarms von kantigen Vögeln, die auf Emanuel zustrebten, als sei er ein Zauberer und habe jeden einzelnen unter ihnen mit Namen gerufen, hatte zur Folge, daß vor aller Augen eine Weibsperson vor den noch immer ohne Regung verharrenden Narren sprang und ihn mit ihrem Körper deckte. Außer den Talbrüdern wußte niemand, daß es Therese Katzmarek war, jenes Mädchen, deren epileptischer Krampf den allgemeinen Paroxysmus in der Talmühle ausgelöst hatte. Ihr Heldenmut aber schien den Steinhagel noch zu verdichten. Nun aber stürzte plötzlich mit heller Kommandostimme schreiend Herr von Kellwinkel durch die Steinwerfer auf Quinten zu, neben dem er sich furchtlos mit gegen die Menge drohendem Stocke aufpflanzte.
»Schämt euch! Wißt ihr nicht, daß heut Ostersonntag ist? Ihr seid weder Türken noch Feuerländer, und im übrigen gebe ich euch die Versicherung, dieser ruchlose Possenreißer« – er berührte die Schulter Quints – »entgeht der gerechten Strafe nicht.«
Die militärische Stimme und Person Herrn von Kellwinkels reinigte wie durch Zauber die Luft. Er hätte nicht mehr hinzuzusetzen brauchen, was ihm der Sicherheit wegen geboten erschien, nämlich: »Welcher Lümmel unter euch auch nur meine kleine Zehe mit einem Steine trifft, der hat ein Jahr Zuchthaus zu gewärtigen!
Du hast nun dein Fett!« wandte er sich hierauf gegen Quint, den Therese Katzmarek eben, um das rinnende Blut zu stillen, mit ihrem Kopftuch wie mit einem bunten Turban umwickelt hatte. »Du hast nun dein Fett und wirst es dir zweimal überlegen, ehe du wieder unserem gesunden Landvolk deine Räuber- und Diebsmaximen predigen und dabei den Namen unseres gebenedeiten Heilands mißbrauchen wirst. Nimm es als verdiente Strafe, obgleich Steinigen aus der Mode ist. Ich würde dir noch ganz anders kommen, aber nach deinem Schluß, den Gott dir verzeihen mag, halte ich dich denn doch nicht für zurechnungsfähig.«
Auf Pastor Beleites und die meisten gebildeten Zuhörer hatte der unerhörte Schluß von Quintens Rede den Eindruck eines elektrischen Schlages gemacht, der aber angesichts des rinnenden Bluts und des Steinhagels fast auf der Stelle vergessen ward. Beide Eindrücke flossen in einen zusammen: nämlich den eines drohenden schweren Unglücks, das unbedingt zu verhüten war. Hatten die Worte des »Bibelnarren« zuerst nach verkapptem Sozialismus oder Anarchismus geschmeckt – Eigentum ist Diebstahl: also sei Diebstahl Eigentum –, so hatten sie doch einen Schluß erhalten, der einen Zweifel an dem wahren Geisteszustand Emanuels nicht mehr aufkommen ließ. Von diesem Augenblick an jedoch mußte der einsichtsvollere Teil der Menge in dem instinkthaften Wunsch zur Verhütung eines Verbrechens an diesem armen Unzurechnungsfähigen einig sein.
Aus diesem Grunde standen nun auf einmal eine Anzahl Herren, Gutsbesitzer und Bürgersleute, junge und alte, nahe um Quint, unter denen auch Pastor Beleites, der junge Beleites, Kurt Simon, ein Jüngling namens Benjamin Glaser, Sohn eines Großgrundbesitzers in der Nachbarschaft, Heidebrand und endlich sogar Nathanael Schwarz zu sehen waren; dagegen hatten sich seltsamerweise alle neun Talbrüder aus der Nähe Emanuels fortgemacht.