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Das Gurauer Fräulein hatte an diesem Tage im Speisesaal ihres Schlosses, das in einem großen Park alter Bäume stand, den Bruder Nathanael und einen ihrer Gutspächter, den Oberamtmann Scheibler, mit seiner Gattin zu Gast. Die Gesellschafterin hatte aber die Geladenen zu Tische geführt, weil die Dame des Hauses sich durch den Besuch im Schwesternheim verspätet hatte, und schon während die Suppe gereicht wurde, wußte die Gesellschafterin sich kaum genugzutun in Schilderungen des sonderbaren Eindrucks, den Quint auf die Gurauer Dame ausgeübt hatte.
Als die Dame später bei Tisch erschien, erkannten alle, daß die Gesellschafterin nicht übertrieben hatte, denn obgleich die kleine Tischgesellschaft das mit gedämpfter Stimme geführte Gespräch über Quint sogleich unterbrach, kam die Herrin des Hauses, gleich nachdem sie begrüßt worden war und alle sich wiederum niedergelassen hatten, aus freiem Stück auf Emanuel Quint zurück.
»Erzählen Sie, erzählen Sie alles, was Sie von ihm wissen, Bruder Nathanael!« damit wandte sie sich an den eifrig kauenden Apostel der Inneren Mission, der seine vierschrötige Gestalt in einen sauber gebürsteten schwarzen Anzug gesteckt hatte, und Bruder Nathanael schluckte hinunter, was er gerade im Munde hatte, strich sich den wilden Bart mit der Serviette und begann.
Er erzählte von seiner Predigt in der Dorfschule, wo er Emanuel Quint zuerst gesehen und nach der Predigt gesprochen hatte. Er erinnerte sich an Einzelheiten ihres ersten Gesprächs. Er wandte sich an den Oberamtmann Scheibler und sprach davon, wie er dessen jugendlichen Neffen am Morgen danach getroffen und mit ihm gemeinsam den Gang über Feld angetreten hatte. Wie sie auf diesem Wege Emanuel Quint fanden, als er, in der Nähe eines Strohschobers, betend auf seinen Knien lag.
In seiner weiteren Schilderung des später Vorgefallenen befliß sich Bruder Nathanael keiner besondren Genauigkeit. Weder berührte er das schwärmerische Brotbrechen, noch viel weniger aber die seltsame Taufhandlung, durch die er die Weihe einer besonderen Mission schließlich und endlich unaustilgbar in die Brust des Tischlerssohnes gelegt hatte.
Diese Sache hielt er geheim.
Er hatte sich zwar, als die Brüder Scharf ihn deshalb angingen, in einem Briefe bei der Gurauer Dame für Quint verwandt, war aber übrigens, um des Ärgernisses willen, das Emanuel allenthalben erregt hatte, mit geheimer Besorgnis, Reue und Angst erfüllt.
Unähnlich seinem gewaltigen Predigerton pflegte der fromme Bruder in den Häusern und an den Tischen seiner christlichen Gastfreunde langsam und in einem verschleierten Tone der Demut zu sprechen. Er sagte, als er mit seiner Erzählung fertig war:
»Wolle Gott diesen armen Christenbruder zurück zur Wahrheit leiten, wenn er mißleitet ist, und möge er denen vergeben, die ihn mißleitet haben und jedenfalls nicht mit Absicht mißleitet haben. Die Macht des Satans ist eben zu groß, und wir dürfen nicht aufhören, täglich, ja stündlich wider ihn auf der Hut zu sein. Denn es ist klar, daß der Satan niemand mit einem solchen Hasse hassen kann als gerade den, der unserem Heiland bei Tag und Nacht mit heißer Glut und heißer, glühender Liebe dienet.
Ich kenne seit langen Jahren«, fuhr er fort, »die Brüder Scharf. Sie gehören zu den ersten Gnadenbeweisen, die Gott mir ganz unwürdigem Diener am Wort erwiesen hat. Er wollte ihre Seelen durch mich zu Christo erwecken und Christo zuführen. Nun, scheint es, hat der alte böse Feind auch mit ihnen sein Spiel getrieben.
Ich hatte sie vor einigen Tagen zu mir beschieden«, fuhr er fort. »Sie folgen diesem Verirrten nach. Ich habe ihnen einige Stunden lang alle Bedenken, alle Gefahren ihrer seltsamen Meinungen über diesen Emanuel vorgehalten: sie bleiben dabei, daß er die Kraft des Geistes Gottes in sich hat und die Gewalt über Leben und Tod.
Ich habe aber noch mehr getan«, erklärte der Laienbruder weiter. »Ich habe das getan, was in solchen Fällen und in allen Fragen des Lebens das alleinige Mittel ist, zur Wahrheit in Christo durchzudringen: ich bin mit ihnen vor Gott getreten im Gebet. Und gebe der Himmel, wie ich denn innig hoffe, daß die Macht des Irrtums nun in ihnen zerbrochen ist!«
»Sagen Sie mir, mein lieber Bruder Nathanael«, begann nun der Oberamtmann, »in welchem Irrtum dieser Mann oder Jüngling, von dem Sie reden, dieser Emanuel Quant oder Quint, wie Sie ihn nennen, besonders befangen ist.«
»Bester Oberamtmann, Sie haben noch nichts von dem sogenannten falschen Heiland von Giersdorf gehört?« fragte erstaunt das Gurauer Fräulein. Herr Scheibler verneinte, und sie fuhr fort: »Es ist ein Mensch, der sich, wie mir der Pastor Schuch aus Giersdorf hier im Briefe bestimmt versichert, für den wiedergekommenen Erlöser hält« – »und den auch«, ergänzte die Gesellschafterin, »viele arme, verführte Menschen, wie es scheint, dafür halten.«
»Das ist eine Sache«, sagte der Oberamtmann, fast bis zur Bestürzung erstaunt, »die ja wahrhaftig nicht zu begreifen ist.«
Frau Julie Scheibler, die eine temperamentvolle Christin war, fand nun für nötig, sich einzumischen.
»Das ist ja ein Unfug sondergleichen«, rief sie kopfschüttelnd. »Das ist ja ein unerhörter Frevel, der, meiner Meinung nach, die allerschlimmste Lästerung des Allerhöchsten und Allerheiligsten in sich schließt. Es mag wohl vielleicht ein armer Verrückter sein, von einem entsetzlichen Dämon besessen, und man sollte da wohl am Ende alles tun, ihn aus den Krallen des Satans zu befrein.«
»Das ist eben sehr merkwürdig, Frau Oberamtmann«, wandte die Herrin des Hauses ein, »daß dieser Emanuel Quint keineswegs den Eindruck eines Verrückten oder eines vom Teufel Besessenen macht.«
»Ja, aber wie kann er denn so etwas Ungeheueres behaupten?«
»An solchen Dingen ist deutlich zu merken, daß der Tag aller Tage nicht mehr ferne ist«, sagte der Oberamtmann fast feierlich, »denn was anders soll man sagen zu einem solchen erschreckenden falschen Propheten als: Antichrist? Es sind die Tage des Antichrists, die, wie an zahllosen deutlichen Zeichen der Zeit zu erkennen ist, anheben. Wer zweifelt, daß die geistliche Babel überall in der vollsten Blüte steht?«
»Sie sagen da ein furchtbares Wort, Oberamtmann: Antichrist! Sollten wir da nicht mit einem zu großen und schrecklichen Wort vielleicht die Verirrung eines armen Schäfleins Jesu brandmarken?« sagte das Fräulein. »Man muß diesen Menschen mit Augen sehen, um jedenfalls zu erkennen, daß Antichrist ein bei weitem zu grausames Wort für ihn ist. Wenn er erst ganz gesund ist, werde ich ihn einmal zu uns bitten.«
»Es ist eigentümlich«, sagte Bruder Nathanael, als von den Dienern der Braten serviert wurde, »was mir ein Bruder, ein Volksschullehrer Stoppe, aus dem Riesengebirge schreibt, der Emanuel Quint bei sich im Hause gehabt und gesprochen hat. Niemals, versichert mir dieser Mann, bekenne sich Quint mit eigenem Munde zu übernatürlichen Kräften, ja er habe wiederholt erklärt, wie er nichts zu schaffen habe mit irgendwelchen Wundern und Zauberei. Er berichtet mir allerdings danach, daß unzweifelhaft, bewußt oder unbewußt, gewisse Wirkungen von ihm ausgehen, wie er selbst sich nachträglich überzeugt habe – die Heilung einer Gelähmten zum Beispiel, die Erlösung einer Greisin durch den Tod –, die nicht vereinbar sind mit bloßer, schlichter Menschenkraft. Übrigens schreibt mir Stoppe, er habe persönlich niemals Emanuel Quint sich selbst etwa als den Heiland bezeichnen hören.«
»Der Pastor behauptet das unzweideutig«, sagte das Gurauer Fräulein, ehe sie einen Kelch mit weißem Wein an die schmalen Lippen des schon ein wenig runzligen Mundes hob, und fuhr fort, nachdem sie mit kräftigen Schlucken getrunken hatte: »Und allerdings muß ich sagen, so sehr mich die ganze Erscheinung des sonderbaren Menschen zum Mitleid erregt, daß er mir gegenüber heut, zwar nicht geradezu, aber doch indirekt quasi, seinen Wahn der Gottessohnschaft bestätigt hat. Auf alle Fälle sagte er mir, es ist mir das ohne jeden Zweifel gegenwärtig, daß er mehr als der heilige Apostel Petrus sei.«
»Um Gottes willen, dann steht es wahrhaftig schlimmer, als ich glauben konnte, mit ihm!« so rief, bis an die Nasenwurzel erblassend unter der dichten Behaarung des Gesichts, der Bruder Nathanael. »Dann habe ich mich getäuscht in dem Menschen. Ich habe nämlich, durch meine Erfahrung mit ihm und durch den Brief des Bruders Stoppe veranlaßt, immer noch an ein mögliches Mißverständnis geglaubt. Man hätte, nahm ich an, einen ernsten Versuch zu einem reinen und heiligen Wandel in Jesu Christo mißverstanden: was jetzt zu glauben nun allerdings nicht mehr möglich ist.«
Der Oberamtmann Scheibler, der an sich von einer natürlichen Milde war, bereute nun, was er im ersten Schreck über Quint gedacht und gesagt hatte. »Sie haben recht, gnädiges Fräulein«, wandte er sich an die nachdenklich blickende Gutsherrin, »ein armer Irregeführter ist deshalb noch lange kein Antichrist. Wir Menschen neigen zur Übereilung. Das siebenköpfige Tier der Lästerung scheint allerdings bereits in der Welt zu sein. Immerhin dürfen wir nicht über irgendeinen unserer armen Brüder den Stab brechen. Der Herr hat gesagt: ›Mein ist das Gericht.‹
Ich würde es im Interesse des armen Menschen wünschen, wenn unser Freund und lieber Bruder Nathanael versuchen möchte, den Toren von seinem Irrtum abzubringen. Ich meine, er sollte zu ihm gehen und sollte ihm ernsthaft und mit der reinen und schlichten Kraft des Evangelii ins Gewissen reden. Er sollte ihm die Gefahren vorstellen, die denen drohen, die da vom rechten Wege abweichen. Er mag ihm sagen: Du lehrest die anderen und lehrest dich selber nicht! Du rühmest dich Gottes und schändest Gott! Er mag mit ihm beten und diesen armen, verwirrten, falschen Heiland dem echten Heiland inbrünstig ans Herz legen, damit ihn dieser in seiner unendlichen Gnade und Liebe von seinem furchtbaren Wahnwitz befreie. Ich bin überzeugt, daß Gott sich dem armen sündigen Menschen, sofern er seine Sünde bereut, nicht verschließen wird.«
»Ihr müßt ihm die Folgen seines schrecklichen Hirngespinstes deutlich ausmalen, Bruder Nathanael«, sagte die magere Oberamtmännin. »Man muß ihn darauf aufmerksam machen, es sei zweierlei, ob man aus der Kraft Gottes oder aus der Kraft der Hölle Wunder tut. Es ist ja freilich gesagt: ›Wenn ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so könnet ihr Berge versetzen!‹, es ist auch gesagt: ›Bittet, so wird euch gegeben!‹, und wir wissen ja auch, wie Sie, Bruder Nathanael, selbst durch Gebet und Glauben schon mancher armen Kranken, die von den Ärzten aufgegeben gewesen ist, durch Gottes Gnade ersehnte Hilfe haben bringen können. In dieser Beziehung haben wir ja allerdings das klare, bestimmte Heilandswort: ›Was ihr bittet in meinem Namen, dasselbige soll euch werden!‹ – wenn Reue und Buße und also Vergebung der Sünden damit verbunden ist. Solche Wunder geschehen ja, wie wir alle wissen, noch täglich und stündlich unter den Gläubigen überall, wenn auch die Welt es nicht sehen, hören und für wahr halten will. Aber wehe, wo jemand, der durch Gottes Gnade Kranke heilen, ja meinethalben selbst Tote erwecken könnte, sich deshalb vermessen wollte, der eingeborene Sohn Gottvaters zu sein oder auch nur zu sagen, daß er mehr als einer der zwölf Apostel des Heilands wäre!
Erzählt ihm doch auch von Simon Magus, dem Zauberer und falschen Propheten, Bruder Nathanael«, damit setzte sie ihre Rede lebhaft fort. »Sagt ihm, daß auch der böse Feind solche Wunder anrichte, zum Fallstrick und Verderben derer sowohl, an denen das Wunder geschieht, als jener, die es hervorrufen, und sprecht ihm von der Strafe der Zauberei. Auch Simon Magus bezauberte das samaritische Volk und gab vor, etwas Großes zu sein, und sie glaubten alle, daß er die Kraft Gottes, die da groß ist, wäre. Und doch sagte Petrus zu ihm: ›Du wirst weder Teil noch Anfall haben an diesem Wort, denn dein Herz ist nicht rechtschaffen.‹ Stelle ihm die ewigen Strafen vor, Bruder Nathanael . . .«
Das Gurauer Fräulein wollte reden, und die Oberamtmännin unterbrach ihre Rede sogleich.
»Ich glaube kaum«, begann die Dame, »es wird mit diesem Emanuel Quint auf solche Weise ohne weiteres fertig zu werden sein. Es ruht eine, wie ich bekennen muß, eigentümliche Kraft zu faszinieren in ihm. Man kann nicht glauben, gerade in diesem Menschen, den augenblicklich ein stiller Friede zu beherrschen scheint, einer Kraft des Abgrundes zu begegnen.
Ich scheue mich nicht, noch mehr zu bekennen: ich habe diesem Menschen, wie noch nie einem Menschen in meinem Leben, gleichsam bezaubert und geradezu andächtig zugehört. Sein Mund erklang mir wie Friedensschalmeien, und nichts an ihm schien mir, wie es ja eigentlich hätte sein müssen, unbegründet, widerlich oder gar lächerlich.
Ich glaube, daß er die Hölle leugnet.«
Mit diesen Worten hob die Dame die Tafel auf und nahm den Arm des Oberamtmanns, der sie auf eine schöne Terrasse, vor einem weiten, baumumstandenen englischen Rasen, den übrigen Gästen voranführte. Hier wurde, unter dem lauten allgemeinen Gesange der Vögel, im lichtgefleckten Schatten eines Kastanienwipfels, der den Altan überdachte, der Kaffee serviert.
»Wenn er die Hölle leugnet«, erklärte der Bruder Nathanael und strich mit den groben Fingern über seinen wilden, schlechtgepflegten, gelblichen Bart, »wenn er die Hölle leugnet, so geht mir schon allein daraus hervor, daß er den rechten Weg verloren hat.« Und Bruder Nathanaels kleine Augen begannen in einem stechenden Glanze zu funkeln. »Haben wir nicht das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus?« fuhr er fort. »Wissen wir nicht aus der Schrift, daß des Menschen Sohn in der Wolke kommen wird, zu richten die zwölf Geschlechter Israels und alles Volk, das die Erde bewohnet, die Lebendigen und die Toten? Daß er zu den einen sagen wird, zu den Schafen: ›Kommet her zu mir, ihr Gesegneten meines Vaters‹, und zu den andern: ›Weichet von mir, ihr Übeltäter‹? Die Gerechten aber werden leuchten wie die Sonne, wogegen die anderen, die Übeltäter, in den Feuerofen sollen geworfen werden, und dort wird Heulen und Zähneklappern sein.«
Der Bruder Nathanael fuhr noch längere Zeit in diesem Sinne zu reden fort, während der Duft geschorenen Grases in der Sonne herüberwehte und überall lautes Geschmetter lustiger Finkenmännchen erscholl.
Die Herrin des Hauses bemerkte dazu:
»Ich wünschte, unser eifriger Bruder Nathanael hätte heut morgen diesen Emanuel Quint über Gottes Gericht, über das Richteramt unseres Heilands und ähnliche Dinge reden gehört.«
Sie begann zu grübeln und suchte sich die Worte des Narren in Christo ins Gedächtnis zurückzurufen. Dabei kam ihr plötzlich sein Wort in den Sinn: »Und keiner thronet zu seiner Rechten, der mehr ist denn ich, des Menschen Sohn! Keiner thronet zu seiner Linken, der mehr ist denn ich«, und so weiter, und sie sprang aus ihrem Korbstuhl geradezu erbleichend empor und rief immer wieder, während sie die Terrasse auf und ab trippelte: »Er ist doch eine unerhörte Erscheinung, dieser Quint! – Denkt euch, er hat von sich selbst die Worte gebraucht: Ich habe die Pforten der Hölle entriegelt, so stark ist die Kraft des Vaters in mir!«
Der Bruder Nathanael wollte sofort in das Schwesternheim zu dem, wie er meinte, unglückseligen Menschen hinübergehen. Allein das Gurauer Fräulein brachte ihn mit großer Entschiedenheit davon ab, indem sie zugleich erzählte, wie schon die kurze Unterhaltung mit ihr dem armen Kranken Bluthusten verursacht hatte.
»Ich werde aber keine ruhige Stunde, keinen ruhigen Augenblick mehr haben fortan, bevor ich nicht diesen verblendeten Jüngling wiedergesehen und auf den rechten Weg zurückgeführt habe.«
Mit diesen Worten schloß Bruder Nathanael.
Etwa vierzehn Tage waren vergangen, als es Bruder Nathanael endlich gestattet wurde, seinen heimlichen Täufling, der ihm zum Schmerzenskinde geworden war, im Schwesternhause wiederzusehen. Diesmal fand er ihn nicht, wie ihn das Gurauer Fräulein gefunden hatte, im Bett, sondern, mit der blaugestreiften Kattunjacke eines Hospitanten angetan, in einem Korbstuhl aufrecht sitzend, den man – der Morgen war warm und ein wenig regnerisch – an eine offene Balkontüre gerückt hatte.
Emanuel ward zu Tränen gerührt.
Da sich aber der Wanderprediger entschlossen hatte, auf jeden Fall mit diesem seinem ehemaligen Bruder in Christo streng ins Gericht zu gehen, kämpfte er die Bewegung nieder, die sich seiner bei diesem Wiedersehn ebenso bemächtigen wollte, und ließ sich anmerken, daß er nicht etwa dieses Wiedersehens wegen, sondern um anderer, bei weitem wichtigerer Dinge willen gekommen sei.
So begann er denn alsobald, um endlich seiner Gewissensqualen ledig zu sein, mit allerlei Vorhaltungen.
»Lieber Bruder in Christo«, fing er an, »ich muß mich zuvörderst alles dessen gegen dich entledigen, was mich, Gott weiß es, um deinetwillen viele Tage und Nächte lang bekümmert hat. Ich habe es immer wieder im Gebet dem Herrn unserem Heiland vorgetragen, und er hat mir schließlich ins Herz gegeben, zu dir zu gehen und dich zu dem schlichten und reinen Geiste des Evangelii zurückzurufen. Es ist wahr, du schienest mir einer der Auserwählten zu sein«, fuhr er fort, »einer von denen, die von Natur aus beschnitten sind, aber nun sehe ich, daß der Feind deinen Tritten gefolgt ist und hat dich, verzeih mir, abseits vom Wege des ewigen Heils den breiten Weg der Verdammnis geführt. Da aber eine jede Sache ohne die Kraft des Heiles ist, die nicht durch Gebet begonnen, durch Gebet beendet wird, so wollen wir, lieber Bruder, gemeinsam zu unserem Vater flehen, bevor wir unsern Streit mit dem Satan anheben, der, wie wir ja wissen, immer wieder Unkraut unter den Weizen sät.«
Und Bruder Nathanael sprach das Vaterunser.
Emanuel, der nicht einmal die Hände gefaltet und, wie es schien, das Gebet des Heilands nicht mitgebetet hatte, blickte Nathanael fragend an, und dieser, mit einem gewaltigen Wölben der breiten Brust aus der Tiefe noch einmal Atem holend, rüstete sich, seine Anliegen im Zusammenhang vorzutragen.
Nachdem er alles dasjenige umständlich dargelegt hatte, was ihm über Quint teils mündlich zu Ohren gekommen, teils schriftlich mitgeteilt worden war, enthielt er sich nicht, die ganze Art einer solchen Nachfolge Jesu zunächst zu mißbilligen, wobei er auf jene heimliche Taufe zu sprechen kam, für die er, wie er sagte, verantwortlich sei, die aber einen anderen Sinn nicht gehabt haben könne als ebenden, Emanuel zu einem in aller Demut getreuen Knechte Gottes zu weihen. »Nun aber«, sagte er, »bist du der Hoffart, bist du der Überhebung bis zu einem entsetzlichen Grade verfallen.«
Er hielt nun Emanuel Quinten vor, er habe viele arme Seelen auf eine verhängnisvolle Weise irregeführt, wobei er als erwiesen voraussetzte, daß jener durch allerlei trügerische Wundertaten Anhänger zu erwerben gesucht, den Seelenfang mit allen erdenklichen Mitteln betrieben habe. Dann kam er, nicht ohne mehrmals erneute Anläufe, auf den allergefährlichsten Punkt zurück.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte er, »aber ich kann es ebensowenig bezweifeln, denn ich habe es gerüchtweise allenthalben gehört, und es ist ja auch das, weshalb sie dich überfallen haben. Oder warum überfielen sie dich?«
»Weil ich vom Bösen gewichen bin«, antwortete Quint, »und weil ich ein ganz Geringes vom Geheimnis des Reiches Gottes gelüftet habe. Weißt du nicht, lieber Bruder, daß geschrieben ist: ›Wer von der Lüge weichet, also vom Bösen, der ist jedermanns Raub‹?«
Nathanael aber gab zur Antwort: »Sie sagen aber, sie seien über dich hergefallen, weil der Teufel dich bewogen hat, unsern Heiland im Wahnwitz zu lästern, und zwar zu lästern durch einen Ausspruch, der mir nicht einmal über die Zunge geht, nämlich indem du sagtest, daß du mehr denn Petrus wärest und nichts Geringeres als er selbst, der Herr, der Heiland und Gottes Sohn. Sage mir, bin ich recht berichtet?«
»Sage du mir zuvor, mein Bruder in Christo, Nathanael, der du mich einst mit Wasser tauftest, ob ich dich nun dafür, statt mit Wasser, mit dem Heiligen Geiste taufen soll?«
Diese Worte erschreckten den armen Laienbruder aufs äußerste.
»Nein«, rief er lebhaft, »nichts von Taufe! Mit deiner Taufe verschone mich! Ich werde genug zu büßen haben, um aus dem Schuldbuche meiner Sünden jenen Morgen auszutilgen, an dem ich dich, in allzu blindem Vertrauen, mit Wasser besprengt habe. Deiner Taufe begehre ich nicht!«
Emanuel Quint erbleichte bis unter die Nägel seiner langen und edeln Hand, mit bebenden Lippen ins Freie hinausblickend.
Nathanael war emporgeschnellt.
Er hatte in seinem Leben viel erfahren und mit mancherlei Kranken, auch Verrückten zu tun gehabt. Er wurde auch in viele fromme Häuser gerufen, um an den Betten erkrankter Söhne, Töchter, Mütter oder Väter zu beten, und mancher Besessene ward von ihm durch unablässiges Beten zur Ruhe gebracht. Hier aber schien ihn der Wahnwitz mit seiner entsetzlichsten Fratze anzugrinsen. Hier war ein Jünger, hier war ein Freund, dem sich beim ersten Anblick bereits Nathanaels Seele warm und herzlich geneigt hatte. Und fast ohne Erregung, leise und schlicht, entglitten dem Munde dieses Geliebten furchtbare Worte: Worte, deren Irrsinn grauenhaft fest und grauenhaft selbstverständlich anmutete, so hart und fest, daß Nathanael dabei an eine harte, tote Maske aus Stein oder Eisen denken mußte. Und beinahe wurde er selbst, angesichts dieser Worte, zu Stein.
»Emanuel!« rief er nun, aber nicht mehr hart, sondern mehr von Mitleid erfüllt und flehend. »Kehre um, und sei es auch nur um meinetwillen, um meinetwillen, von dem sonst Gott am Tag der Tage deine verlorene Seele fordern wird! Du hast vom Geheimnis des Reiches gesprochen! Mir sträubt sich das Haar, Emanuel! Laß uns beten, damit Gott diesen Geist der Umnachtung von dir nimmt! Das Geheimnis des Reichs ist Gottes Sache! Der Heiland wird es denen, die ausharren, denen, die in Demut ausharren, dereinst enthüllen, wie er verheißen hat, wenn er dereinst wird wiederkehren, nicht mehr im Fleisch, sondern in aller seiner Herrlichkeit. Dann wird er uns alles offenbaren. Du aber tilge aus deiner Seele den Flecken des bösen Geistes aus, den fressenden Wurm, den Lügengeist jenes Erzlügners, der dir einbilden will, daß du das Geheimnis Gottes ergründet hast! Befreie dich von diesem deine Seele zerfressenden Wurm! Es sind ihrer viele, die solche Geheimnisse, die nur ihnen angeblich kund und zu wissen sind, mit sich herumtragen. Ich habe deren viele mit Augen gesehen und sprechen gehört. Viele von ihnen schreien und toben und reden seit langen Jahren hinter den Eisengittern des Narrenhauses davon.
Laß uns beten, Emanuel, daß Gott dieses Schicksal von dir abwende! Besinne dich, daß du Emanuel Quint, der Sohn eines armen Tischlers in Giersdorf, und nichts anderes bist und der schlechteste, letzte, unwürdigste Diener deines Herrn!«
Emanuel, dessen Mienen sich jetzt vollkommen beruhigt hatten, lächelte nun unter leisem Kopfschütteln.
»Komm, verstocke dich nicht, laß uns beten!« wiederholte Nathanael.
Aber der Narr in Christo sagte: »Wo einer in Gott ist, wie Gott in ihm, der betet nicht! Und zu wem sollte ein solcher beten?« Der Schrecken des Bruders Nathanael erneuerte sich. Langsam gingen die schon zum Gebet gefalteten groben Hände des ehemaligen Landarbeiters auseinander, und er starrte mit blödem Ausdruck den langen, bleichen und mageren Hospitanten an. Hierauf griff er nach seinem Hute, einem alten, mitgenommenen Kalabreser, der in der Nähe lag, dem Anscheine nach, um sofort seiner Wege zu gehen.
Dagegen sah ihn Emanuel Quint noch immer mit einem langen Blicke und jenem früheren leisen Lächeln an, das aber allmählich mit dem Ausdruck eines bitteren Verzichtes sich mischte.
»Ich lerne«, sagte er, »mehr und mehr das Gericht des Gottessohnes auf eine ganz besondere Weise verstehen und wie sich ohne sein Zutun sogleich die Welt in zwei Lager scheidet, wo er erscheint. Meine Mutter ist zu mir gekommen und hat mich mit gerungenen Händen angefleht, ich möge von meinem Wahnsinn lassen. Nun aber weiß ich, wie ich weder voll süßen Weines bin noch schwachen Verstandes oder betörten Herzens, weder hoffärtig noch betrügerisch, sondern daß ich in den Fußstapfen unseres Heilands wandle.
Fasse es, wer es fassen mag: die Spuren meiner Füße sind die Stapfen der Füße des Menschensohnes! Ich rede Worte des Gottessohnes, wie sie der Vater mir zu sagen ins Herz gegeben hat, allein ihr kommt von allen Seiten zu mir und ruft mich an und schreit: du bist wahnsinnig.
Sie haben meine Mutter zu mir gelassen«, fuhr er fort, »und sie hat mir gesagt, wie sie innig hoffe, daß ich nun durch die böse Erfahrung, durch Gefängnis, Fesseln, Hohn der Menge, nächtlichen Überfall, Mißhandlungen und Zuspruch guter Menschen klüger geworden sei. Nein, ich bin nicht klüger geworden, nicht klüger als der Vater, der in mir ist.
Ich bete nicht! auch meines Bruders Jesu Jünger, die Jünger des Menschensohnes, beteten nicht. Sie aber sprachen zu ihm: ›Warum fasten Johannes' Jünger so oft und beten so viel, und deine Jünger essen und trinken?‹ Und sie drangen in ihn, obgleich er gesagt hatte: ›Euer Vater weiß, wes ihr bedürfet, ehe denn ihr bittet.‹ Sie drangen in ihn, daß er sie dennoch beten lehre, bis er ihnen das Vaterunser gab, ein Gebet, das nicht sowohl ein Gebet als ein Quell lebendigen Wassers ist.
Weil ich dir von dem Lichte unter dem Scheffel, von dem verborgenen Senfkorn, von dem Schatz im Acker, kurz, vom Geheimnis des Reiches Gottes gesprochen habe, so meinest du, meine Seele sei verfinstert vom bösen Geist. Aber ich sage dir, ich habe den Schatz im Acker gefunden, den Schatz, der verborgen war, und wenn ich etwas habe oder besitze, so will ich es alles hingeben, darum, daß ich nur diesen Acker für mich gewinne und behalte, darin der Schatz, den ich gefunden habe, verborgen ist. Ich will es alles hingeben, Bruder Nathanael, denn ich war ein Kaufmann, der ausging, gute Perlen zu kaufen. Und als ich die beste der Perlen in jenem verborgenen Schatze fand, die köstlichste, wußte ich, daß ich alles, was ich habe, gerne hingeben will, um die Perle des Schatzes im Acker zu behalten. Verstehe mich wohl, Bruder Nathanael, ich müßte alles dafür ohne Bedenken mit Freuden hingeben, denn wenn ich dich und die ganze Welt gewönne, was hülfe es mir, so ich diese Perle des verborgenen Schatzes im Acker dafür verlieren müßte? Und alles will ich freudig dafür hingeben, sogar mein Leben, Bruder Nathanael.«
Der Bruder Nathanael faßte sich hilflos verwirrt an die Stirn, glotzte, wie wenn er den Satan erblickt hätte, in die ruhig, deutlich und langsam dozierenden Mienen Emanuel Quints, zerquetschte den Hut mit beiden Fäusten und rannte, als wie gepeitscht, davon.