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In diesem Augenblick quietschte die Zimmertür, und der Kopf des böhmischen Josef streckte sich durch den geöffneten Spalt mit einem pfiffig grinsenden Ausdruck herein. Dann schien es, als wollte er sich zurückziehen, aber nun fragte ihn Quint, in einem erstaunlichen Ton von Gelassenheit, was er wünsche und was sein Begehren wäre.
Der böhmische Josef war durch den Anblick, der sich ihm eben geboten hatte, sprachlos gemacht. Quint munterte ihn indessen auf und zwang ihn, am Tische Platz zu nehmen.
Der böhmische Josef hatte in seinem Zimmer das Holz der Möbel auf eine entsetzliche Weise knallen gehört, Fenster und Lampe hatten geklirrt, nicht anders als bei starkem Gewitter oder wenn ein schwerbeladener Rollwagen über städtisches Pflaster fährt, oder noch schlimmer, wie bei einer unterirdischen Erschütterung. Dabei habe er über sich Lärm und vorher auf der Treppe Atmen und tappende Schritte vernommen.
»Wenn ich nun ein einziges kleines Knöchelchen von einem Gehängten hätte«, sagte Josef, »so machte ich euch alle beide jetzt unsichtbar und brächte euch, ohne daß es die Leute merken, nach Miltzsch in eure Betten zurück.«
Ruth schien durch die Anwesenheit des böhmischen Josef merklich beunruhigt, und auch Quint war durch den neuen Ton einer gewissermaßen dreisten Vertraulichkeit etwas unangenehm berührt. Dennoch ermangelte sein Betragen, als er nun Josef um einen Dienst ersuchte, nicht der gewohnten freundlichen Höflichkeit. Dieser sollte, und zwar sogleich, in das nächstgelegene Dorf vorangehen und einen Bauern ersuchen, daß er Wagen und Pferd zur Beförderung Ruths nach Miltzsch bereitstelle.
In der Backstube, als der böhmische Josef gegangen war, mußte sich Ruth auf Quintens Drängen mit Brot, Butter und Kaffee stärken, dessen man eine reichliche Menge, in einem Bunzlauer Topf, noch heiß, in der Röhre fand. Dann traten beide, leisen Tritts aus der Haustür gehend, von niemand in der Mühle bemerkt, den Rückweg an.
Im Beginne der Reise waren sie einsilbig. Noch immer mit gedunsener und wie erstarrter Miene schritt die kleine Ruth neben Quint, während der Narr, grüblerisch und betreten, das Schweigen nicht brechen mochte. Die kleine Heilige, die triebhaft und opfermutig ihren irdisch-himmlischen Hochzeitsflug unternommen hatte, ward wie gelähmt, weil sie annahm, Liebe und Opfer sei nun durch den süßen Freund und himmlischen Bräutigam verworfen worden.
Nach und nach aber, während des Wanderns, das Quinten die eigentlich angemessene Form des Daseins war, stieg in ihm jene volle und große Empfindung auf, die zweifellos religiösen Charakter hatte, wenn auch sie es vornehmlich war, die ihn immer wieder über die berechtigten Forderungen der ihn umgebenden Welt erhob. Soweit man diese Empfindung – und man bedenke, wie das bewußte Leben selber nichts anderes als eine Empfindung ist! –, soweit man sie zu schildern vermöchte, würde man das eigentliche Urphänomen im religiösen Leben dieses wunderlichen Separatisten zu begreifen imstande sein.
Das Leben in der gesamten Natur, die wir kennen, insonderheit alles organische Leben, vollzieht sich für uns in Form von Bewegung, insonderheit durch Geburt, Tod und Wiedergeburt. So war denn auch in Quintens Seele die tiefste Erfahrung immer wieder das göttliche Sterben und das göttliche Auferstehen. Von allen Bildern im Reich der Erscheinungen, die sein Auge zu fassen verstand, war ihm die Sonne, die aufging, und die Sonne, die unterging, das gewaltigste und zugleich das tiefste Symbol. Wie sie hinabsteigt und wieder ersteht, so starb und erneute in seinem Geist sich das Licht, und wenn es heraufkam, sah er voll wahrhaft heiligen Jubels die Welt, nicht in Flämmchen, sondern in der ganzen Glorie, in der ganzen glückseligen Tageshelle des, wie er meinte, Heiligen Geistes stehen.
Wie nun aber die wirkliche Sonne, wenn sie aufgeht, allein die Freiheit des Himmels über sich hat, nicht aber die Dächer der Hütten, Paläste und Kathedralen, so war es auch bei dem Sonnenaufgang im Herzen Quints: nämlich es kam eine fast quälend erhabene, fast ihr Gefäß zersprengende Empfindung von Größe in ihn, die ihn auf die Spitzen der höchsten Türme wie auf das winzige Werk einer Ameise herabblicken machte. Diese Empfindung war so umfassend, daß er sich selbst im allwissenden Geiste Gottes zu wohnen schien, und keine andere als diese war es, an die er dachte, sooft er die Einheit von sich und dem Vater, von sich und dem Sohne, von sich und dem Heiligen Geist behauptete.
Die Gefahr leuchtet ein, die entstehen mußte, wenn er mit einer solchen Empfindung, darin das Bewußtsein seiner ärmlichen Körperlichkeit und überhaupt jeder Körperlichkeit wie Schnee in der Sonne zerschmolzen und aufgesogen wurde, unter die Dächer der Hütten, der Paläste, der Kathedralen kam. So war, schon jetzt auf der Wanderung, das Bewußtsein der Kalamität, in die sich selber und ihn die liebliche Gärtnerstochter gebracht hatte, in Schauern von Größe untergetaucht.
Quint vergaß aber nicht, daß Ruth neben ihm ging.
Sie hat bekannt, daß der Sonderling, den sie den Heiland nannte, ihre Hand ergriffen, noch bevor sie das Dorf und den Wagen erreichten, und bis dahin, etwa eine Stunde Wegs, nicht mehr freigegeben hat. Sie hat ferner versichert, wie es denn auch der Wahrheit entsprach, sie sei dadurch wie durch einen himmlischen Zauber gestärkt, getröstet, ja mit der Gewißheit eines ewigen himmlischen Glückes erfüllt worden. Sie hat schließlich behauptet, daß der arme Narr verzückt und in einer heiligen Glorie mit Jesus, Moses und Elias geredet habe: trotzdem doch, nach ihrer Meinung, Emanuel selber der Heiland war.
Die Ursache ihres Irrtums war diese:
Emanuel fing nach einiger Zeit, während er ihre Hand in der seinen hielt, in beinahe hymnischer Weise zu reden an, wobei sie der tiefen, immer heller werdenden Röte des Sonnenaufgangs entgegenpilgerten. Er sprach von der strahlenden Kraft des Gestirns, das mit demselben Glanz und derselben Freude ins Leben trete, wie es nach vollbrachtem Tag sich zum Opfer darbringe. Die Sonne wandere, sagte er. Sie ruhe in Gott, aber sie ruhe auf ihrem Wege, geschweige in den Hütten und Häusern der Menschen, nicht aus. Was göttlich sei, sagte er, das wandere. So wandere der Heiland, wandere der Gottessohn, wandere der Menschensohn über die Welt, wandere ein jeglicher, der aus dem Geist geboren wäre, unbehaust, ohne bleibende Stätte, ohne Vermögen, ohne Dach, ohne Weib, ohne Kind, ohne auch nur eine Ruhestätte für sein Haupt.
Und als die Sonne wirklich heraufgestiegen kam, riß Quint, der verzückt und entrückt, wie es von Kindheit an immer wieder ein Zwang in ihm forderte, niederfiel, auch die kleine Ruth auf die Knie nieder.
Nach diesem Vorgang, der den stammelnden und lallenden Quint in dem an ihm bereits bekannten, ausgesprochen krankhaften Zustand zeigte, worin er der exaltierten Ruth als im Gespräch mit Jesus und den Propheten erschien, beruhigte sich sein Wesen zu einer friedlichen Heiterkeit. Es verharrte hierin, als er mit Ruth in dem Bretterwagen des Bauern holperige Feldwege, lange Chausseen und bei leidlichem Märzwetter durch eine Anzahl von Dörfern und Marktflecken fuhr.
In den letzten zwei, drei Ortschaften an der Landstraße, die vor Miltzsch lagen, wußte man von dem Verschwinden Ruths und Quints, denn es war nach Ruth überall gesucht worden, und so erregte die Fahrt der beiden, denen ein Bund Stroh zum Sitz diente, wie sie mit ihrem mageren Pferd, ihrem groben Kutscher und klappernden Brettwagen daherkamen, lebhaftes Aufsehen.
Waren die beiden im ersten Flecken hie und da durch Johlen begrüßt worden, in den nächsten eilte die Nachricht ihrer Annäherung voraus, und es bildeten sich bereits größere Aufläufe. Quint hatte eben den Vorschlag gemacht, das Bäuerchen, das übrigens große Augen ob der Empfänge machte, die seinem Gefährt zuteil wurden, möge ein wenig, etwa bis ans Ende des Dorfs, den Braunen frisch ausgreifen lassen, dort wolle er aussteigen und mit Ruth, unauffällig, quer über Feld die letzte halbe Meile bis Miltzsch zu Fuße gehen.
Da rollte hinter ihnen, in lebhaftem Tempo, eine offene Kutsche, sehr herrschaftlich, mit zwei jungen feurigen Schimmeln heran.
In dieser Karosse saß Herr von Kellwinkel.
Ohne daß der betreßte Kutscher das Tempo mäßigte, stachen die Schimmel, Schaumflocken von den Kandaren schleudernd, zunächst an dem Armesünderwägelchen Quintens und Ruths vorbei. Aber Kellwinkel, dessen grauer Schnauzbart noch eben, träumerisch, ziemlich tief im breiten Kragen seines Fahrpelzes selbstgeschossener Füchse gesteckt hatte, fuhr plötzlich aus dem Fond der Kalesche empor, bog sich herum, erkannte Quint, und während er und der Wagen kleiner wurden, sah man, wie er seinen Kutscher heftig am Ärmel zog.
Der Wagen hielt an, und Herr von Kellwinkel stieg, den Fuchspelz im Sitze zurücklassend, höchstselbst auf die Straße heraus.
Der Kutscher empfing eine Instruktion, drehte und folgte in langsamem Tempo dem energischen Schritte seines Herrn, der weniger als eine Minute brauchte, um hochrot und wütend vor Ruth und Quint zu stehen.
Natürlich waren die Worte nicht sanft, mit denen er Ruth von der Angst ihrer Eltern verständigte. Auf sein kurzes, scharfes Gebot mußte sie Hals über Kopf von ihrem Bund Stroh über das Ortscheit auf die Straße herab und ebenso in die Kalesche einsteigen. Er duldete keinen Widerstand. Sie mußte wie eine Puppe bald sitzen, bald wieder aufrecht stehen, bis er die wirklich ein wenig vor Kälte klappernde kleine Heilige fast gänzlich in seinem Fuchspelz verborgen hatte.
Jetzt erst nahm er Quinten aufs Korn, den er zunächst nicht beachtet, ja scheinbar nicht eines Blickes gewürdigt hatte, und begab sich an sein Gefährt, neben dem der Narr, nun ebenfalls umgeben von einer Menschenmenge, auf der Straße stand.
»Lümmel, infamer!« schrie er ihn schon von weitem an, »Schmarotzer, verfluchter, nun, denke ich, wird es doch selbst bei denen, die nicht alle werden, mit deinem Kredit zu Ende sein! Schurke! Wenn es noch mit rechten Dingen zuginge in der Welt: dir müßte man auf gut russisch kommen. Jede Viertelstunde fünfundzwanzig auf den bloßen Hintern gezählt! Blödian! Lümmel! Infamer Halunke! Du gehörst in ein Idiotenhaus! Dir wollte ich schon die Flausen austreiben!« Emanuel schwieg, und Herr von Kellwinkel wandte sich. Es hatte den Anschein, als wolle er in die Kalesche einsteigen. Er kehrte indessen wieder um.
»Kretin!« So begann eine neue Kette von Schimpfworten. »Bube! kriechender, feiger, hinterhältiger, schmarotzerischer, geiler, arbeitsscheuer, schleichender Schuft! Warum lassen wir keine Galgen aufrichten, daß ein solch schandbarer Affe und öffentlicher Schänder unseres Heilands kurzer Hand daran aufgezogen wird! Dummkopf! Esel! Blödes Kamel! Du bildest dir ein . . . du wagst es, dir in deinem Drei-Unzen-Sperlingsgehirne einzubilden . . . du Vogelscheuche willst uns weismachen, daß du Gott weiß was: Apostel, Prophet, womöglich der Heiland selber bist? Ein Gauner bist du, ein Anarchist! Du gehörst hinter Schloß und Riegel!«
Emanuel hatte mit einer schmutzig-blassen Gesichtsfarbe dagestanden. Der Lärm des wütenden Landedelmannes lockte noch immer mehr Weiber und Kinder aus den Häusern und Arbeiter von den nahen Feldern herbei. Da sagte zu seinem Schaden der Narr: »Habe ich denn eine Sünde begangen?«
»Das wirst du wissen!« schrie Herr von Kellwinkel. »Du wirst wissen, was du an der Familie deines Wohltäters, was du an diesem betörten Mädchen begangen hast! Welche Mittel, welche Schliche, welche niederträchtigen Lügen, welche Lumpereien und Betrügereien mußt du angewandt haben, nichtsnutziger, fauler, arbeitsscheuer Rumtreiber du, bis dieses wohlerzogene Bürgerkind so weit gebracht war, Anstand und Sitte so weit außer acht zu lassen, daß sie mit dir, bei Nacht und Nebel, das Haus ihrer schwergeprüften Eltern verließ und so vollkommen in die Gewalt deiner schmutzigen Pfoten geriet.«
Bei diesen Worten nahmen die Bauernweiber und Landarbeiter gegen Quint eine drohende Haltung an.
Ein gewisser Tagelöhner, mit dem Quint zuweilen bei Gelegenheit seiner Feldgänge einige Augenblicke philosophiert hatte, benutzte jetzt die Gelegenheit, um sich bei Kellwinkel einzuschmeicheln. Indem er hervortrat, behauptete er: Quint halte die Leute vom Arbeiten ab. Er mache sie unlustig, mache sie aufsässig, indem er Weiber und Kinder gewöhnlich frage, ob denn das Zuckerrübenhacken oder das Heil ihrer Seele wichtiger sei.
Diese Frage hatte Quint allerdings im Verlaufe gelegentlicher Gespräche mit diesem und jenem geplagten Feldarbeiter zuweilen getan, und gerade sie war es, die man Kellwinkel zugetragen und die ihn besonders aufgebracht hatte. Jetzt nun, beim Anblick des ihm, wie Emanuel meinte, befreundeten Arbeiters, der ihn mit frecher Stimme verriet, fühlte er, wie Judas nicht etwa ein gestorbener Mensch, sondern eine lebendige, furchtbare Macht in der Menschengesellschaft ist.
»Kerls wie du verdienen den Galgen«, brüllte nun in verdoppelter Wut fast erstickend der Edelmann. Dies schien ein Merk- oder Stichwort gewesen zu sein, das viele wütend geschwungene Fäuste dicht vor das Antlitz Quintens heranführte.
Er aber sagte mitten in diesen seltsam durcheinanderfahrenden, knotigen Schlegel aus schwieligen Menschenhänden mit bebender Stimme: »Welcher unter euch Menschen kann mich einer Sünde zeihen?«
Man stutzte. Man brach bei diesem Heilandszitat, in dem man eine Probe der besondren Verrücktheit des Narren zu haben glaubte, in ein allgemeines, wildes Gelächter aus. Und dieses Gelächter war seine Rettung.
Der Gerechte muß Schmach leiden, dachte Quint. Und als er es dachte, bemerkte er noch, wie Herr von Kellwinkel Ruth, auf dem halben Wege zu ihm, Quint, zurück, energisch mit beiden Armen fing und das weinend widerstrebende Mädchen in die nahe Kalesche brachte, die sogleich vom Flecke weg in schnellster Gangart von dannen fuhr.
Der Bauer, der Quinten und Ruth gebracht hatte, schimpfte auf beide und schlug dabei am Wegrand sein Wasser ab. Er sagte, er sei um sein Fuhrlohn geprellt worden: denn er hatte vergeblich versucht, von Kellwinkel mit der Frage zu stellen, wer seine Unkosten tragen würde. Quint, angewidert durch so viel Häßlichkeit, so viel Sinnloses um ihn her, verwies ihn nach Miltzsch an Heidebrand und verbürgte sich, daß er beim Herrn Obergärtner sein Geld, und zwar Heller für Pfennig erhalten würde.
Dann ging er mit festem, eiligem Schritt, nicht weiter verfolgt von dem abergläubischen Dorfpöbel, über Feld davon.
Begreiflicherweise hatte das Verschwinden der kleinen Ruth Heidebrand – wie man glaubte, in Gemeinschaft mit Quint – in der ganzen Gegend bis hinein zur Kreisstadt starke Erregung hervorgerufen. Besonders hatten die Eltern in der begründeten Angst um ihr Kind den Vorfall ganz allgemein bekanntgemacht. Nahezu vierundzwanzig Stunden lang waren nicht nur die Eltern selbst, die Krauses, die Familie Scheibler, ganz zu geschweigen von Pastor Beleites und seinem Sohne, auf das furchtbarste aufgeregt, sondern es bildeten sich auch in solchen Köpfen, die dem Ereignis ferner standen, Gerüchte von Blut und Verbrechen aus.
Als es sich dann zum Glück herausstellte, wie die kleine Ruth mindestens noch am Leben war, drückte sich doch noch immer in den kasernenmäßigen Worten und Urteilen eines Mannes wie Herr von Kellwinkel das allgemeine Urteil aus, das über Emanuel Quint gefällt wurde.
Dieser war entschlossenen Mutes und mehr als furchtlos in sein ehemals so geliebtes Asyl zurückgekehrt. Es hatte sich damals in ihm schon längst, obgleich in der Stille, jener Umschwung vollzogen, der ihn unaufhaltsam, um im Bilde zu reden, aus den stillen Seen des Friedens gegen die schnellen, ja reißenden Strömungen seichterer, aber breiter und wilder Flüsse trieb.
So war ihm seltsamerweise bereits jene rüde Mißhandlung durch Herrn von Kellwinkel trotz allen Ekels, den er dabei empfunden hatte, eine erwartete, ja willkommene erste Prüfung zum Beginn einer neuen Bahn.
Man hatte Emanuel Kaffee, Butter und Brot auf sein Zimmer gebracht, und er war eine Stunde und länger allein geblieben, ehe der Obergärtner bei ihm erschien. Natürlich machte der Vater ihm Vorwürfe. Und weil es auf eine herzzerreißend bittere und dabei mehr klagende als scheltende Art und Weise geschah und die Stimme des braven Mannes zuweilen von Tränen gehindert wurde – und endlich, weil er das Ganze zum Teil als selbstverschuldete Strafe des Himmels auffaßte, so fühlte Emanuel eine peinvoll schmerzliche Liebe zu ihm.
Der Gurauer Dame war auf ihren telegraphischen Wunsch die Rückkunft Ruths sogleich nach Berlin depeschiert worden. Das Fräulein, mit der in gewissen Fällen schlecht Kirschen essen war, hatte auf die Anfrage Heidebrands: Muß ich Quint im Hause behalten, wenn er wiederkommt? die lapidare Antwort gegeben: Setzt ihn auf der Stelle hinaus!
Aber was die schlimmste Befürchtung anbetraf, so war doch Heidebrand durch den reinen Freimut im Wesen des Narren in Christo beruhigt worden, und so fühlte er bald, wie die Flucht der kleinen Ruth ohne seinen Willen, wahrscheinlich auch ohne sein Wissen geschehen war, und mußte sich sagen, wie eigentlich, wenn dies sich wirklich so und nicht anders verhielt, eine Schuld Emanuels nicht zu erweisen wäre.
Aber es kamen fortgesetzt viel entrüstete Freunde ins Haus, deren bestimmte Meinung, Quint sei verbrecherisch oder wahnsinnig und müsse sofort aus dem Hause hinaus, nicht zu beschwichtigen war. Und wenn nun der immerhin einsichtsvolle Heidebrand den Befehl der Gurauer Dame zunächst nicht ausführte, so sah er doch ein: der arme Mensch hatte irgendwie sein Asylrecht verscherzt.
Es kam hinzu, daß der Landarzt, den man ans Bett der erkrankten Ruth gerufen hatte, aufs strengste jedes Wiedersehen zwischen dem Mädchen und Quint verbot. Sonst, sagte er, könne er für nichts einstehen. Frau Heidebrand selber hatte indessen so furchtbare Stunden während des Suchens nach der verschwundenen Tochter durchgemacht, daß sie von sich aus nach einem Wiedersehen mit demjenigen, der ihre Schmerzen verursacht hatte, durchaus kein Verlangen trug.
So ward denn Emanuel fallen gelassen. Der junge Beleites hatte Tag und Nacht in einem verzweifelten Krampfe von Wut, Angst, Eifersucht und Beschämung zugebracht. Er hatte im Gärtnerhause geweint und weder gegen Frau Heidebrand noch den Gärtner selbst ein Blatt vor den Mund genommen. Er hatte dabei, ohne alle Umstände, seine Liebe bekannt, sein verletztes Recht hervorgekehrt und Vorwürfe über Vorwürfe über die eingeschüchterten künftigen Schwiegereltern ausgeschüttet.
In der Familie des Lehrers Krause gab es Emanuels wegen Tränen und Kämpfe, denn auch Krause wollte nun, im Widerspruch zu Marien, nichts mehr mit dem Narren zu tun haben. Maria dagegen verteidigte ihn. Bei ihrer Verteidigung blieb sie nicht gerade gerecht in ihrem Urteil über Ruth Heidebrand, die sie ein überspanntes Mädchen nannte. Sie fügte hinzu: die krankhafte Überspanntheit der kleinen Ruth wäre ja doch viel mehr etwas Altbekanntes als eine Neuigkeit.
Alle ihre Einwände halfen Marien indessen nichts. Ihr Vater hatte im Schrecken der Nachricht von Ruths Verschwinden den festen Entschluß gefaßt, nun ebenfalls von dem gefährlichen Narren abzurücken. Ob er trotzdem noch etwas für ihn fühlte, wußte man nicht.
Übrigens hatte der arme und außergewöhnliche Dorfschulmeister, dessen friedliche und behagliche Existenz in dem Wohlwollen vieler Freunde wurzelte, nach dem, was vorgefallen war, keine Wahl mehr in seinem Verhalten zu Quint. Es war nicht ratsam, ja überhaupt nicht tunlich, sich dem allgemeinen Urteil, das ihn richtete, entgegenzustellen. Man lief Gefahr, mit dem Narren als eine Person genommen, gebrandmarkt und aus der Gesellschaft verstoßen zu werden.
Emanuel wurde nicht empfangen, als er am Gründonnerstag – wo die Kinder in allen Dörfern in Scharen mit ihrem Bittgesang und ihrem Gründonnerstag-Bettelsäckchen von Tür zu Tür herumliefen – an die Tür der Krauseschen Schule kam. Dagegen sah er, als er sich annäherte, Nathanael Schwarz aus der Türe gehn, von dem es bekannt war, daß er vor einigen Jahren um die Hand Mariens geworben hatte.
Schwarz machte einen großen Bogen um Quint und verschwand in Eile durch ein Quergäßchen. Emanuelen wurde nun von der Magd der kurze, ihn von der Schwelle weisende Bescheid überbracht; sie hatte eben die Tür vor seiner Nase zugeschlossen, da fiel aus einem Mansardenfenster, von unsichtbarer Hand geworfen, ein Umschlag mit einem Kärtchen herab, das Quint erst draußen im Feld entzifferte; es trug die Worte: »Ich glaube an dich!«