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Die Polizisten hegten Emanuels wegen Fluchtverdacht. Wahrscheinlich war ihnen das Auftauchen und Verschwinden Quints und sein Entweichen mit dem böhmischen Josef von preußischer Seite mitgeteilt worden. Deshalb wurden dem armen Sünder, den man mit den Worten: »Da ist der Verführer!« in der Kammer gegriffen hatte, Handschellen angelegt.
Den beiden Scharfs, die mit großer Heftigkeit forderten, daß man sie ebenfalls binden möge, gelang es indessen nicht, Fluchtverdacht zu erwecken, und sie mußten, mit Qualen im Herzen, ohne Fesseln und in großem Abstand von Quint, der vorangeführt wurde, mit dem zweiten Polizisten den Weg nach der preußischen Grenze antreten.
Obgleich man belebtere Pfade und Steige soviel wie möglich zu meiden versuchte, kam man doch bald an einigen Bauden vorbei, in denen das Feiertagsleben, im Nahen des Abends, lebhaft bemerklich war: mit Türenschlagen, Rufen der Kellnerinnen und Fiedelmusik. Dort aber konnte ein solcher Transport eines langen, mageren, seltsam giraffenartigen Menschen, der gefesselt vor einem Gendarmen herschritt, nicht unbemerkt bleiben. Der Weg war weit und im ganzen beschwerlich, und als eine Stunde verflossen war, fand sich der Österreicher mit seinem Delinquenten keineswegs mehr allein. Es hatten sich Kinder angeschlossen, die loszuwerden nicht möglich war. Es hatten sich Weiber und Männer aus dieser und jener Baude zugesellt, die zu denen gehörten, deren Aberglauben dem armen Gefesselten günstig war. Es liefen auch schwitzende Trupps von Ausflüglern hinterher, solche zum Teil, die den gleichen Weg hatten, und andere, denen ein Umweg um des Verbrechers willen lohnend erschien. Der zweite Gendarm mit den Brüdern Scharf blieb weit zurück und fand auch mit seinen ungefesselten, sichtlich ungefährlichen Leuten weniger Publikum.
In der Seele des Narren regte sich eine schwere und qualvolle Bitterkeit. Er war von dem reinen Geiste der Schrift und nebenher von reiner Menschenliebe erfüllt gewesen, und wiederum brach, wie so oft, die ganze Verachtung der Welt über ihn herein. Sie war diesmal für ihn noch unbegreiflicher, je weniger die Entehrung, in die man ihn durch die Fessel gestoßen hatte, irgendeinen begreiflichen Sinn zu enthalten schien. Man führte ihn wie ein reißendes Tier. Seine Empörung wollte aufwallen, wenn er hinter sich Getrappel, Gespräch und Geschrei vernahm und Worte, die Vermutungen ausdrückten, ob Diebstahl, Totschlag oder Raubmord die Ursache seiner Verhaftung sei. Die Mitläufer nahmen kein Blatt vor den Mund, und der arme Quint, dessen ärgster Fehler – man weiß allerdings, daß Müßiggang aller Laster Anfang ist – vielleicht eine gewisse Scheu vor der Arbeit war, mußte Proben eines Freimuts mit jeder Minute hinnehmen, die seine etwas zu hohe Stirn, seine spitze Nase, seinen roten Bart, seine langen Arme und Beine, ja sogar seine Sommersprossen betrafen. Einige meinten, er sei ein Giftmörder.
Da aber fühlte er, sofern er schreien wollte: ich bin es nicht!, würde der Schrei wie von Steinen zurückhallen. Wenn er zu sagen unternähme: ich bin ein friedlicher Heilandsjünger, sonst nichts!, würde damit nur ein gräßliches und wüstes Gelächter entfesselt sein. Sofern er aber die ganze Wahrheit nicht verschwieg und jenen etwa zu eröffnen anfinge, daß er, mit ihnen verglichen, der Freie und nicht der Gefangene sei, der Begnadigte und nicht der Verfluchte, dann, wußte er, würden rings im Geröll von rasenden Händen kaum spitze Steine genug zu finden sein, Gott damit zu steinigen.
Deshalb ward er allmählich froh, und es überkam ihn der unvergleichliche Friede einer tiefen Gelassenheit. Das Trappeln und Reden hinter ihm drein berührte ihn auf keine andere Weise, als etwa das Geräusch einer langsam rinnenden Steinlawine, eines Baches, eines Pferdegetrappels oder sausenden Windes berührt. Es kam ihm vor, als wanderten hinter ihm Gebilde aus Erz, aus Stein oder aus Ton, Tote, die in sich kein Leben hatten! Vergessene, Verlassene und Begrabene, die irgendwann einmal vielleicht dazu bestimmt sein könnten, durch den Liebesodem des Schöpfers geweckt und zu dem gemacht zu werden, was er war.
Und immer heller strahlte in seiner Seele ein göttliches Glück, bis er manchmal unwillkürlich den bläulichen Gottestischrock an sich zog, wie um das innere Leuchten zu verbergen. Und dann dachte er sich: Ich bin ein Licht! Warum sehen sie eigentlich nicht, daß ich leuchte? Doch wohl, weil sie unrettbar mit dem schwarzen Star des Todes behaftet sind. Warum sehen sie eigentlich nicht, daß sie mir in unaussprechlicher Weise Gutes tun, indem sie mir Ähnliches zu erfahren geben wie ihm, dem Heiland, dem ich nachleben, den ich von innen her immer besser ergründen will? Machen sie mich nicht mit ihrer Härte, mit ihrem Hohn, mit ihrer Unwissenheit und Gleichgültigkeit dem Heiland ähnlicher, so daß ich in einem Gebiet meines Wesens, meiner Erfahrung, meiner Schmerzensempfindung ihm gleich geworden bin? Erkennen sie nicht, daß er diesen ihm bekannten, öffentlichen Marter- und Kreuzesweg greifbar nahe neben mir hinwandelt? Möchte ich doch dem Gendarmen die Hände küssen, der mich diesen und keinen anderen Weg geführt! Ja, bemerken sie denn nicht das Unerhörte, wodurch ich während ganzer nicht kurzer Zeitspannen so in den Heiland versunken war und er in mir, daß er selber, in meiner Gestalt, vor ihnen mit Handschellen an den Knöcheln hinwandelte?
Der deutsche Gendarm, dem Quint in der Nähe der Pichlerbaude übergeben werden sollte, brach, als er seiner ansichtig wurde, in ein joviales Gelächter aus, in das sogleich die Herren aus Böhmen sowie die Menge der Mitläufer einstimmten. Er sagte dabei mit Bezug auf das lange Haar des Toren, das in der Zeit des Einsiedlerlebens nicht gekürzt worden war, es sei aber nun wirklich die allerhöchste Zeit für das Haareschneiden, und diese Worte riefen deshalb eine noch lautere humoristische Wirkung hervor, weil es fast so schien, als ob der vierschrötige Kavallerist als Barbier und nur zum Zwecke gekommen wäre, Emanuel Quinten das Haar zu schneiden, und dieser wiederum nur zu dem Zweck, eben diese Arbeit von ihm verrichten zu lassen.
Noch war das Gelächter nicht gänzlich verstummt, als plötzlich ein Knabe, der etwa elf Jahre alt sein mochte, sich dicht vor Quint hindrängte und ihm einen Keil Roggenbrotes, der mit Fett bestrichen war, zureichte. Der grübelnde Tor sah ihn an und, wie es schien, erwachte nun erst ins Leben zurück. Als er die Absicht des blassen, hager aufgeschossenen Jungen begriffen hatte, vergaß der Narr, daß er Handschellen um die Knöchel trug, und wollte, merklich gerührt, wie segnend die Rechte auf seinen Scheitel tun. Die somit entstandene Bewegung, die kläglich genug zu sehen war, konnte von dem Jungen nicht anders gedeutet werden, als habe der arme Sünder das Brot entgegenzunehmen vergeblich versucht, und es ward ihm zugleich zu Gemüte geführt, daß er in seiner herzlichen Aufwallung gerade den Umstand, nämlich die Fessel um Menschenhände, vergessen hatte, durch den sein Mitleid besonders erregt worden war. So erlitt die gute Tat eine unerwartete, kurze Verzögerung und erregte das von dem Jungen gefürchtete Aufsehen. Jäh schoß ihm das Blut ins Angesicht. Aber nur einen Augenblick beherrschte ihn Ratlosigkeit, dann hatte er bereits die zerlumpte Seitentasche im Rock des Sträflings bemerkt und blitzschnell den Kanten Brot dort festgesteckt. Jetzt sah man zwei braune, nackte Füße, eiligen Laufs, die Sohlen nach rückwärts geworfen, über die Kammwiese sich entfernen und schließlich verschwinden.
Über das neue Gelächter, das nun entstand, suchte man doch mit einer gewissen Beschämung hinwegzukommen. Einige aus der Menge entfernten sich. Andre begannen sogar etwas Geld zu sammeln, das sie Quint einhändigen wollten, nachdem die Gendarmen ihre Papiere gegenseitig geordnet hatten. Aber Emanuel regte sich nicht. »Zum Donnerwetter, so nimm's doch, dummes Kamel!« schrie der deutsche Gendarm ihm zu und löste danach, scheinbar unwirsch, die Handschellen. Aber sei es nun, daß die Seele Quints noch von dem Lichtstrahl der ewigen Güte geblendet war, den Gott ihm durch einen Knaben gesandt hatte, und er darum nicht sah, was man ihm bot! Oder glaubte er, seine Hände zu beflecken, wenn er Geld von diesen wandelnden Leichen nahm? Kurz, seine freien Hände fielen nur schlaff herab und hingen offen und still zur Erde.
Während des Abstiegs ins Hirschberger Tal hinunter hatte Emanuel die Brüder Scharf neben sich. Der Gendarm hegte kein Mißtrauen. Er hatte sich eine von den Zigarren angezündet, die er aus freundlichst präsentierten Zigarrentaschen zu sich gesteckt hatte, und indem er sein schweres Pferd behaglich am Zügel mit sich zog, ließ er die Häftlinge unbesorgt voranschreiten.
Natürlich waren die Brüder froh, wieder mit Quint vereint zu sein, zugleich aber zitterten sie vor großer Entrüstung über das, was ihnen, und vor allem, was Quint widerfahren war. Besonders war es Anton Scharf, der, kaum auf den abschüssigen Weg achtend und oftmals ausgleitend, mit fast immer geballter Rechten Drohungen und Verwünschungen wider die Weltkinder von sich gab. Er sagte: »Sie wollen nicht Gutes tun! Sie haben Augen und sehen nicht! Sie haben Ohren und hören nicht! Der Fluch Gottes, der über ihnen ist, macht sie blind und taub!«
Martin Scharf, der während des Ganges über die Berge bereits vieles mit seinem Bruder durchgesprochen und hin und her erwogen hatte, was wohl gegen die Mächte der betörten Welt für Maßregeln zu ergreifen seien, erbat nun für das, was sie tun wollten, Emanuels Sanktion. Es war, wie sie meinten, unmöglich, sie beide und Quint lange in Haft zu behalten. Demnach wollten sie sich, sofern sie freigelassen wären, zu einer gewissen frommen und adligen Dame begeben, die sehr alt, sehr reich, sehr wohltätig und in der ganzen Provinz als die »Gurauer Freele« bekannt und geachtet war. Bei diesem alten Gurauer Fräulein wollten die Brüder um Schutz für Quint bitten, und nachdem dies geschehen und der große Einfluß der Dame dahin gewirkt haben würde, daß man die friedlichen Bahnen Quints fortan ungestört ließe, wollten die Scharfs eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten zusammenrufen, eine Gemeinschaft der Würdigsten, um Quint geschart und diesen als ihren Führer verehrend.
Die Nachfolge Jesu, sagte Quint hierauf, müsse ein jeder für seinen Teil aufnehmen und durchführen und es könne und müsse hierbei nur einer, der Heiland selbst, der Führer sein. Er aber, Quint, werde sich niemals so weit vermessen und vergessen, irgendwo in der Welt der Erste zu sein, wo der Heiland der Letzte gewesen wäre.
Sie waren bis an eine Stelle gelangt, wo der Gendarm auszuruhen beabsichtigte, und plötzlich erklang sein donnerndes: »Halt!« Die Häftlinge standen still und erwarteten den Beamten, der prustend und gutmütig fluchend näherkam, um sich auf einer Bank niederzulassen, die man zum Gebrauch fremder Touristen hier aufgestellt hatte. »Ruht euch aus, Kerls«, sagte er, »wir haben noch weit! Wenn euch nun nicht der Teufel geritten hätte, so brauchte ich jetzt, an den Feiertagen, nicht in den Bergen herumkriechen, was bei meinem Speck nämlich kein Vergnügen ist. – Na, ihr macht allerdings auch Gesichter wie neun Meilen schlechter Weg. Das weiß Gott!« Dies sagte er mit einem seltsam forschenden Blick seiner kleinen Augen, zugleich breit lächelnd und seinen behelmten Kopf schüttelnd. »Wenn man nur wüßte, was euch in die Kaldaunen gefahren ist? Ich glaube, ihr seid verrückt geworden. Ich hab' auch mal einen Kerl transportiert, der kam aber wirklich später ins Irrenhaus, der wollte mir immer einreden, daß er es schwarz auf weiß, ich weiß nicht von wem, bescheinigt in Händen habe, er werde lebendigen Leibes mit Wagen und Pferden gen Himmel kutschieren. Schließlich sollte der Wagen ja wohl, hol' mich dieser und jener! noch feurig sein. – Was ist denn los? Was habt ihr denn? Hol' mich dieser und jener! Glaubt ihr vielleicht, daß in drei Tagen die Welt untergeht? Bis dahin, o weh! da wird noch mancher Kognak getrunken werden! – Macht doch die Menschen nicht verrückt! Ihr macht ja das Gesindel in den Häusern da oben richtig wahnsinnig! Wer redet euch denn solchen Unsinn ein? Ich war doch wahrhaftig oft genug in der Garnisonskirche. Was Religion und was unser Herr Christus ist, weiß ich doch wahrscheinlich besser als ihr! Aber so 'n Blödsinn ist mir doch noch nicht vorgekommen.«
»Herr Gendarm«, sagte Martin Scharf, »wir haben nichts getan, als wozu der Geist des Herrn uns getrieben hat. Wir sollen Zeugnis ablegen von Christo! Wir sollen es heute tun und nichts auf morgen verschieben, Herr Gendarm! Ja, wenn wir es eine Stunde verschieben wollten, wer weiß, die wäre vielleicht versäumt für die Ewigkeit.« – »Herr Gott ja, Mensch, glaubt ihr, wir haben auf euch gewartet? Wird nicht in allen Kirchen Sonntag für Sonntag für Jesum Christum Zeugnis abgelegt? Sonntag für Sonntag, in allen Kirchen! Bin ich ein Heide? Bin ich denn nicht ebensogut wie du ein Christ?«
Anton Scharf aber, der die Zähne zusammenbiß, sah den Wachtmeister grimmig an, bevor er etwa dieses unüberlegt und heftig hervorbrachte:
»Es gibt auch solche, die falsch Zeugnis reden von Christo Jesu, es gibt solche genug und zu viel, die Christen heißen und andere Christen nennen und sind doch nichts als eitel Kinder der Welt.« Quint aber winkte ihm mit der Hand. Er sagte, als er des Wachtmeisters Auge nicht ohne Interesse auf sich gerichtet sah und Anton verstummt war, mit ruhiger Stimme: »Wir wollen uns lieber nicht vermessen, keiner von uns, zu sagen, er sei ein Christ. Der Christ ist der Christ. Es ist nur ein Christ: Christus der Heiland, wo aber sonst Christus ist, dort ist er verborgen! Was wäre die Welt, wenn Christus in dir, in Tausend und Hunderttausend, ja in Millionen anderer wäre? Sie wäre das Reich! Christ heißt nichts anderes als Christus sein. Wer kann sich vermessen und sagen: ich bin es?«
»Vorwärts, keine Müdigkeit vorschützen«, sagte nicht ohne eine gewisse Betretenheit der Gendarm, den sein Pferd schon mehrmals ungeduldig mit der Schnauze gestoßen hatte, stand auf und gab das Zeichen zum Aufbruch. »Ihr redet verkehrtes Zeug durcheinander, und was ihr quatscht, wißt ihr selber nicht. Steckt eure Nase in euer Handwerk hinein und macht die einfachen Leute nicht aufsässig! Es wird euch auch niemand hindern, wenn ihr Sonntag für Sonntag zweimal meinethalben – mir wär's zuviel! – zur Kirche geht.«
»Ich sage Ihnen aber, Herr Gendarm, daß hier unter uns einer ist, der auch größer ist als die Kirche und der Tempel!« Hiermit zitierte Anton Scharf eine der vielen Schriftstellen, die ihm geläufig waren: zugleich aber leuchtete in seinen krankhaften Augen wiederum jener wahnwitzige Glaube auf, der hauptsächlich die Ursache alles späteren Unheils war. Der Gendarm sah den groben und bärtigen Menschen an, wie man eben nur jemand betrachtet, an dessen gesundem Verstande man zu zweifeln berechtigt ist. Wenn es bei jemandem so zu rappeln begönne, meinte er, so finge es eben meistens im Kopfe an.
Den Rest des Weges legten sie in der alten Ordnung zurück. Wieder versuchten die Brüder Scharf, Quint für eine Gemeinschaft zu gewinnen, die sie begründen wollten. Emanuel aber, der durch die seltsame Flamme des Glaubens, die aus den Augen Antons wiederum aufgeleuchtet hatte, beunruhigt war, sträubte sich mehr wie je wider den Gedanken, das Haupt irgendeiner Gemeinde zu sein. Er wurde sogar überaus zornig, indem er betonte, daß ihm nichts ferner liege, als die Legionen von Wortmachern um einen zu vermehren oder irgendeinem Aberglauben dieser Welt Nahrung zu geben. »Ich bin versöhnt mit Gott. Durch Jesum Christum bin ich versöhnet. Und wenn ich etwas durch die Tat zu bezeugen auf dieser Erde gehalten bin, so ist es eben diese Versöhnung mit meinem Gotte und dann die Versöhnung mit den Menschen. Ich bin versöhnt mit ihnen, ich zürne meinen armen Brüdern und Schwestern auf dieser Erde nicht. Sorget, daß auch ihr euch versöhnet. Wer versöhnt ist, der nur kann Versöhnung predigen. Was sorgt ihr um mich? Bin ich etwa nicht wert zu leiden, was meine Brüder und Schwestern leiden? Bin ich etwa nicht wert, Mensch unter Menschen zu sein? Des Menschen Sohn ist ein Mensch unter Menschen. – Gehet heim, folget Jesu nach, und wenn ihr meiner gedenket, so gedenket nicht meiner, sondern des Menschensohnes! Gedenket des Heilands und bittet, daß er eins mit euch werden möge! Nach mir aber fraget niemanden fortan!«
Die Häftlinge wurden für diese Nacht im Polizeigewahrsam zu Hainsdorf untergebracht, die Brüder gemeinsam in einem Raum, der Narr in Christo dagegen allein. Und als dieser nun bei Wasser und Brot in der feuchten und dunklen Zelle lag, hatte er einen Traum, aus dem er nach kurzer Zeit erwachte, um dann, bis zum Morgen, in einem Zustande tiefer Beseligung zu verharren.
Quint hatte geträumt, der Heiland selber sei in sein Gefängnis zu ihm gekommen.
Alle verschiedenen Arten und Grade der Träume erforscht zu haben würde bedeuten, in einem weit tieferen Sinne als irgendeinem heutigen, Kenner der menschlichen Seele zu sein. Der Traum Emanuel Quints gehörte zu denen, die in nichts weniger real als irgendwelche Ereignisse des sogenannten wachen und wirklichen Lebens sind. Wenn also etwa der Polizist, der den Schlüssel der Zelle hatte, wirklich bei Quint erschienen wäre, er hätte nicht können deutlicher, körperlicher und wirklicher als der Heiland sein. Man träumt Gerüche, man träumt Gesichte, man träumt Berührungen. Man träumt Gedichte, Worte, man hört Erzählungen, hört Musik. Man behält an solche sinnlichen Eindrücke eines Traums jahrzehntelang eine Erinnerung: eine Erinnerung, die scharf und lebendig ist, während viele gleichzeitige und wichtigere Geschehnisse des wachen Lebens unwiederbringlich vergessen bleiben. So hatte Quint den leisen Tritt des Heilands gehört, er hatte ihn, mit leicht gebeugtem Kopf, durch das knarrende Pförtchen eintreten sehen. Er hatte bemerkt, wie ein matter, seltsamer Schein das feuchte Mauerwerk, den Kalkbewurf des Türbogens, nicht stärker als der Reflex eines Öllämpchens, um den blonden Scheitel des Heilands herum beleuchtet hatte. Er wußte: so und nicht anders sah der Heiland, der Menschensohn, der Sohn Mariens, der König unter der Dornenkrone aus, der weder Gestalt noch Schöne hatte und für den gehalten werden mußte, der von Gott geschlagen und gemartert würde. Er kannte in seinem Gesicht jeden einzelnen Zug: so blickten die eingesunkenen Augen, so waren die rötlichen Brauen darüber gelegt, so saßen um die Winkel der Lider und um den Ansatz der feinen Nase, deren Flügel leise bebten, die Sommersprossen. So ging der Arm, so hob sich die Hand und strich mit mageren, länglichen Fingern leise durch das Gekräusel des Spitzbartes, und dabei zeigte sich auf dem Rücken dieser Hand ein furchtbares Mal, wo die rostige Nagelspitze heraus und in den Kreuzesbalken gedrungen war. Die Wunde quoll von schwärzlichen Blutstropfen.
Und auch auf den rauhen und bestaubten Füßen des Heilands, der barfuß von einer langen Wanderung zu kommen schien, waren die Male zu erkennen. Es ging eine Kraft von ihnen aus, die Quint wie ein Sturm des Mitleids und der Liebe zur Erde riß. Er konnte nicht anders, als immer wieder unter einer Sintflut von Tränen die beiden geliebten Füße küssen. Und nun war es, daß über Emanuel Quint eine weiche und ernste Stimme erscholl: »Bruder Emanuel, hast du mich lieb?« – »Ja«, sagte Emanuel, »mehr als mich selber!« Und wieder erklang die Stimme, genau wie vorher: »Bruder Emanuel, hast du mich lieb?« Und als der Träumende es beteuerte, setzte die Stimme weiter hinzu: »Emanuel Quint, so will ich für immer bei dir bleiben!« Hatte Quint vor einigen Augenblicken gemeint, als das Schloß des Gewahrsams sich knirschend umdrehte und auch als Hand und Kopf des Kommenden im Türspalt erschien, daß ein neuer armer Sünder hereingeführt würde, so fand er sich jetzt, kaum daß Sekunden verstrichen waren, bis in den siebenten Himmel verzückt, und indem er sich aufrichtete und seine Arme weit ausbreitete, geschah endlich das, was seinem Traume für ihn die Weihe des Wunders gab.
Nämlich, indem Quint und die Gestalt des Heilands, wie Brüder, die sich lieben und lange vermißt haben, mit geöffneten Armen einander entgegenkamen, schritten sie ganz buchstäblich einer in den andern hinein, derart zwar, daß Quint den Körper des Heilands, das ganze Wesen des Heilands in sich eintreten und in sich aufgehen fühlte. Dieses Erlebnis war zugleich so unbegreiflich und wunderbar durch seine vollkommene Realität: denn es schien nicht anders, als daß wirklich fühlbar in jedem Nerven, jedem Pulsschlag, jedem Blutstropfen zuinnerst und innigst die mystische Hochzeit stattfand und Jesus in seinen Jünger einging und in ihm sich auflöste.
Am Morgen wurden die beiden Webersleute Martin und Anton Scharf durch den Amtsvorsteher in Freiheit gesetzt, Quint dagegen wurde in Haft behalten, um per Schub nach seiner Heimatsgemeinde gebracht zu werden. Die beiden Freigelassenen trafen in der Gaststube einer nahen Herberge den böhmischen Josef und den ehemaligen Schneider Schwabe an, die den Spuren des Gendarms bis hierher gefolgt waren, und alle vier, von dem Schneider Schwabe geführt, begaben sich nachher querfeldein in ein etwas entlegenes Dorf hinüber, wo viele arme Weber und Korbflechter wohnten und wo von altersher ein pietistischer Sektengeist, unbeachtet von der umgebenden Welt, sein Dasein fristete. Hier hatte der Schneider Schwabe Freundschaft, wie die Leute in jener Gegend zu sagen pflegen, das heißt, eine Schwester von ihm war dort verheiratet. Doch als er mit seinen Begleitern das Haus der Schwester betrat, blieb die bleiche und sorgenvoll blickende Frau wortkarg, und es machte den Eindruck, als hielte sie etwa im Hausflur Wache und dürfe niemand ins Stübchen hineinlassen.
Die Wahrheit war: ein Mann, ein Hufschmied namens John, aus dem Oberdorfe, hielt Betstunde ab, und es hatte sich ein Häuflein guter Christen und Betbrüder am Morgen des sogenannten dritten Feiertages im Stübchen zusammengefunden. Das aber hatten Schwabe und der böhmische Josef vorausgewußt. Sie waren im allgemeinen geneigt gewesen, über diesen kleinen Kreis ihre Späße zu machen, bis sie seit der Begegnung mit Quint ein neuer Geist überkommen zu haben schien. Nach einigem Hin- und Herreden wurde der Schwager, ein gelbliches und halbnacktes Männchen, herausgeholt, der denn nach wenigen Augenblicken die vier Ankömmlinge in die kleine Gemeinde einführte.
Eben lag alles auf den Knien in einem langen und stummen Gebet. Die Morgensonne, die durch drei kleine Fenster hereinleuchtete, ließ ihre Stäubchen über altersgraue, jugendlich blonde und kahle Scheitel tanzen, und plötzlich erhob sich ein zahnloses altes Weib und fing, in einer unverständlichen Sprache, fast unverständliche Worte zu sprudeln an. Und jene Ekstase, in die sie geriet, wurde für das »mit Zungen reden«, von dem die Apostelgeschichte berichtet, in dieser Schwärmergemeinde gehalten. Nach einiger Zeit, als sich die Alte mit vielem Weinen, Klagen und Jesusrufen erschöpft hatte, ward sie von einem Manne abgelöst, der laut zu beten und Gott um den Heiligen Geist zu bitten begann. Als jener schwieg, erhob sich Martin Scharf von der Erde, auf die er sich, gleichwie sein Bruder, der böhmische Josef und Schwabe, geworfen hatte, und sprach in einem so neuen Ton, daß die ganze Gemeinde aufmerkte.
Er ward nicht laut, aber was er sagte, geschah im Ton einer sicheren Mitteilung. »Singet«, sagte er, »jubilieret! der Herr, der Heiland ist unter uns! Es ist nicht mehr Zeit, die Brust zu schlagen, zu seufzen, zu wimmern und um Erhörung zu bitten. Die Verheißung erfüllet sich! Haben wir nicht seine Stimme gehört? Haben wir den Bräutigam nicht mit Augen gesehen? Die Braut, solange der Bräutigam ferne ist, hat sie Traurigkeit! Ist aber der Bräutigam nahe, so wird sie voll Freudigkeit. Ich bringe euch eine frohe Botschaft. Es ist nie irgend jemand zu euch gekommen mit einer solchen Botschaft wie wir: Jesus Christus ist auferstanden!«
Es war niemand in der kleinen Gemeinde, den der Inhalt seiner Rede verwundert hätte. Zu oft war ihnen die frohe Botschaft verkündigt worden. Was sie indessen alle erbeben ließ, war die bebende Überzeugung in der Stimme des Redenden. Sie war so stark, daß man sich dadurch, wie von einer ungeheueren Neuigkeit, bei den altbekannten Worten erschüttert fand. »Fraget nicht weiter«, sagte Scharf, seine Mitteilung abbrechend, »aber halte sich ein jeder bereit! Jeder ziehe ein hochzeitlich Kleid an! Jeder horche bei Tag und Nacht und sorge, damit er nicht etwa im Schlafe liege, wenn der Ruf des Gerichts erschallt!«
Und er hieß Kinder und Frauen heimgehen und behielt die verständigsten Männer zurück, um sich mit ihnen über jenes Geheimnis auszusprechen, das er bisher nur andeutungsweise verraten hatte. Bald saß er mit den Zurückgebliebenen um den Tisch herum und eröffnete ihnen nicht ohne Feierlichkeit, wie seiner Meinung nach in Emanuel Quint ein Mann, mit der vollen Kraft des apostolischen Geistes ausgestattet, auf der Erde erschienen sei. Er vermied zunächst, aus einem instinktiven Bewußtsein heraus, an die Gutgläubigkeit dieser neuen Genossen einen noch höheren Anspruch zu stellen, und erwähnte nicht, was seine und seines Bruders Ansicht war von dem armen Narren in Christo, Quint. Dagegen erzählte er Wunderdinge. Durch Antons und seinen Mund ging die Chronik der letzten Tage, seit sie den verlaufenen Sonderling wieder getroffen hatten, auf höchst phantastische Weise ausgeschmückt. Er glaubte die volle und schlichte Wahrheit auszusagen und log natürlicherweise ebensowenig wie Anton bewußt, der alles noch wunderbarer darstellte. Auch Schwabe und der böhmische Josef mischten sich ein, die, was sie mit Quint erlebt hatten, aus Freude am Außergewöhnlichen mit lebhafter Übertreibung darstellten.
Nach Verlauf einer Stunde war es in diesem Kreise ausgemacht, Quint habe den Vater Scharf durch bloße Berührung von seinen argen Schmerzen befreit und den Teufel vertrieben, der Martha Schubert gepeinigt hatte. Es war erwiesen, daß eine gelähmte Frau vor der Hütte der Schubertleute seinen Rock berührt und darauf mit beweglichen Gliedern, frisch und gesund den Heimweg genommen hatte. Niemand zweifelte, daß die hundertjährige Greisin, die mancher kannte, durch Quint Vergebung der Sünden erhalten hatte und vom Leben erlöst worden war.
Natürlich war der Schwager des Schneiders und Schmugglers Schwabe, Weber Zumpt, mitsamt seinem Häuflein Gleichgesinnter das Bild der äußersten Leichtgläubigkeit. Es lag in den Augen dieser Leutchen der Ausdruck eines endlosen, langen, vergeblichen Hungerns und Dürstens nach der Gerechtigkeit, der Ausdruck eines endlosen Wartens: er wurde von dem des Staunens und Grübelns über das Leben, das ihnen beschieden war, abgelöst, dem wieder der herzergreifende Ausdruck des Wartens nachfolgte. In diesen Ausdruck mischte sich Angst. Denn es ist zu bedenken, wie der geringe Erwerb dieser armen Leute kein gesicherter und nur durch angstvoll beschleunigte Arbeit zu erzwingen ist. Wie mit der Geißel erbarmungslos vorwärtstreibend, steht hinter diesen Leuten das grausenvolle Gespenst der Not. Sie sehen Fremde und Feinde ringsum, die meistens drohend, bestenfalls mit kaltem und hämischem Blick der Überanstrengung ihrer Kräfte zuschauen. Und also nimmt schließlich die Angst ungeheure, mystische Formen an. Überall, nicht mit Unrecht, sehen die Armen raubtiermäßig verderbliche Mächte lauern und des Augenblicks warten, wo die Belauerten etwa auch nur vorübergehend Müdigkeit überfiele, wo denn sogleich immer ihr Schreckensschicksal entschieden ist.
Angstvoll also, willenlos und gejagt, waren die Leutchen den überspannten Einbildungen der Brüder Scharf vollkommen preisgegeben und hatten ihren starken Beteuerungen weder im Guten noch im Bösen Widerstand entgegenzusetzen. Sie, die gewohnt waren, beständig um ein Leben zu ringen, das schon verloren war, unterließen es ebensowenig jemals, nach dem Strohhalm zu greifen, sooft er ihnen, statt des rettenden Balkens, geboten wurde, in ihrer dunklen Lebensflut. Jemand sagt, daß Hoffnung die andere Seele des Menschen ist. Wer dieser zweiten, höheren, lichteren Seele solcher Menschen Nahrung bot, war ihnen stets – wie konnte es anders sein? – aufs höchste willkommen: sogar der Verbrecher, der Lügner, der Scharlatan! Hier aber standen zwei Männer auf, die mit wilder Kraft und einem unverkennbaren heimlichen Freudenrausch von einem Ereignis zu reden wußten, das beinahe die Erfüllung aller Hoffnung selber war.
Im Volk, das heißt bei der ungeheueren Mehrzahl der Menschen, besonders vielleicht in der bodenständigen Schicht, lebt, unaustilgbar, nicht immer eingestandenermaßen, die Hoffnung auf einen Menschen oder auf einen Tag: und dieser Mensch, dieser Tag wurden hier als erschienen oder in nächster Nähe verkündigt. Mit bleichen Gesichtern und zitternden Kiefern saßen die frühgealterten Männer um die Erzähler herum und nahmen ihnen das Wort von den Lippen. Die Welt außer ihrem Dorf und außer den Bildern der Bibel war für sie keine Realität, sondern nur eine Stätte für alpdruckartig empfundene Gespenster: über ihr aber thronte in reinen und unberührten Höhen, erst nach dem Tode erreichbar, Christus der Heiland. Hier aber glaubte man wirklich an ihn. In diesen markanten alten Weberköpfen war Glaube noch Glaube, seinem innersten Wesen nach: das heißt etwas anderes als Forschung, Zweifel oder Erkenntnis. Und zu den Dingen, auf die sich ihr Glaube fest bezog, gehörte auch die Wiederkunft Jesu auf diese Erde und die Errichtung eines tausendjährigen, irdischen Gottesreichs: es sollte nun also wahrhaftig und wirklich nach den überzeugenden Worten der beiden fremden Brüder nahe bevorstehen.
Das kleine Weberstübchen sah einen wahrhaft rührenden Freudenrausch. Nachdem er vorüber war, sagte Martin Scharf, mit jener Entschlossenheit, die auf einen früher gefaßten Vorsatz hindeutete, man möge nun aufmerken und sich bereiten, etwas in Erwägung zu ziehen, was er vorschlagen wolle. Und er entwickelte ihnen die Absicht einer festen Vereinigung, wie er sie am Tage vorher Emanuel Quint, ohne dessen Beifall zu finden, mitgeteilt hatte, einer Gemeinschaft, die eben jenen Narren in Christo als ihr Haupt anerkennen und ihm werktätig und praktisch dienen solle. Es war natürlich, daß man sich auf der Stelle zu einer solchen Gemeinschaft bereit erklärte.
Aber es war auch dann keine Trübung der Einigkeit zu bemerken, als Martin eine Kollekte eröffnete: Kisten und Kasten wurden sogleich umgekehrt, Pfennige und sogar Markstücke aus ihren Verstecken in den Sparwinkeln hervorgezogen und in die Hände der Brüder gelegt, die alle Gaben gewissenhaft in ein blaues, abgegriffenes Büchelchen einzeichneten.