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An einem Sonntagmorgen im Monat Mai erhob sich Emanuel Quint von seiner Lagerstätte auf dem Boden des kleinen Hüttchens, das der Vater mit sehr geringem Recht sein eigen nannte. Er wusch sich mit klarem Gebirgswasser, draußen am Steintrog, indem er die hohlen Hände unter den kristallenen Strahl hielt, der aus einer hölzernen, vermorschten und bemoosten Rinne floß. Er hatte die Nacht kaum ein wenig geschlafen und schritt nun, ohne die Seinen zu wecken oder etwas zu sich zu nehmen, in der Richtung gegen Reichenbach. Ein altes Weib, das auf einem Feldweg ihm entgegenkam, blieb stehen, als sie von fern seiner ansichtig wurde. Denn Emanuel ging mit seinem langen, wiegenden Schritt und in einer sonderbar würdigen Haltung, die mit seinen unbekleideten Füßen, seinem unbedeckten Kopf sowie mit der Armseligkeit seiner Bekleidung überhaupt im Widerspruch stand.
Bis gegen die elfte Stunde hielt Emanuel sich fern von den Menschen in den Feldern auf. Alsdann überschritt er die kleine Holzbrücke, die über den Bach führte, und ging geradezu bis zum Marktplatz des kleinen Fleckens, der sehr belebt war, weil die protestantische Kirche sich eben leerte. Der arme Mensch stieg nun auf einen Stein, wobei er sich mit der Linken an einem Laternenpfahl festhielt, und nachdem er sich so und durch Zeichen der Menge bemerklich gemacht hatte und alles erstaunt, belustigt oder neugierig herzukam oder wenigstens von fern herübersah, begann er mit lauter Stimme zu sagen: »Ihr Männer, lieben Brüder, ihr Frauen, liebe Schwestern! Tut Buße! Denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.«
Diese Worte, denen viele andere nachfolgten, ließen sogleich erkennen, daß man es mit einem Narren oder Halbnarren zu tun hatte, von einer so eigentümlichen Art, wie sie in dieser weitgedehnten Talgegend seit langem nicht vorgekommen war. Die guten Leute verwunderten sich. Aber als der einfältige und zerlumpte Mensch nicht aufhörte zu reden und seine Stimme mehr und mehr über den ganzen Marktplatz erschallen ließ, da entsetzten sich viele über den unerhörten Frevel des Landstreichers, der gleichsam das Heiligste in den Schmutz der Gasse zog, liefen aufs Amt und zeigten es an.
Als der Amtsvorsteher, mitsamt dem Gendarmen, auf dem Markt erschien, herrschte dort unglaubliche Aufregung: die Hausknechte standen vor den Gasthäusern, die Kutscher der Droschken schrien einander mit lauter Stimme zu und wiesen mit den Stöcken ihrer Peitschen auf einen Knäuel Menschen, den Quint, predigend, überragte und der mit jeder Sekunde zunahm. Die Jungens gaben einander Zeichen durch laute Signalpfiffe, und wüstes Gebrüll und Gelächter übertönte zuweilen auf lange die Stimme des seltsamen Predigers, der noch immer eifrig und eindringlich sprach.
Er hatte soeben den Propheten Jesaia genannt und gegen Reiche und Herrscher gedonnert, »die die Sache der Armen beugen und Gewalt üben im Recht der Elenden«. Er hatte gedroht, Gott werde die Rute der Herrscher zerbrechen, und dann zuletzt rührend und flehentlich alle Welt immer wieder zur Buße gemahnt. Da faßte die unentrinnbare Faust des sechs Fuß hohen Gendarmen Krautvetter ihn hinten am Kragen fest und riß ihn, unter Gejohl und Gelächter der Zuhörer, von seinem erhabenen Standorte herab.
Quer über den Markt ward nun Emanuel von Krautvetter, unter dem Hohngejauchze der Menge, abgeführt.
Der Amtsvorsteher, ein durchgefallener Jurist und Mann von Adel, hatte einen protestantischen Pfarrer der Nachbarschaft bei sich zu Tisch. Und als er ihm, während sie sich zum Essen niederließen, den skandalösen Vorfall mitteilte, äußerte jener Pfarrer den Wunsch, den Verrückten zu sehen. Der Geistliche war ein Mann von gesundem Schrot und Korn, herkulisch gebaut und mit einem Luthergesicht, dessen lutherisches Wesen nur durch den pechschwarzen, geölten Scheitel und durch listige schwarze Augen beeinträchtigt wurde. Er liebte die außerkirchlichen Schwärmer nicht. »Was bringen die Sekten?« sagte er immer: »Spaltung, Verführung, Ärgernis!«
Emanuel hatte kaum eine Stunde im Polizeigewahrsam verbracht, als er herausgeholt und dem Pfarrer vorgestellt wurde. Außer Quint, dem Gendarm, dem Pfarrer und Amtsvorsteher war niemand in der Amtsstube. Emanuel stand da mit herabhängenden Armen und einem unbeweglichen Ausdruck seines blutlosen Gesichtes, der weder herausfordernd noch verschüchtert war. Durch das dünne, rötliche Bartgekräusel um Oberlippe und Kinn sah man die feine Linie seines Mundes, gegen die Winkel herabgezogen, und die, bei Quints Jugend, in auffälliger Weise ausgeprägten Falten von den Nasenflügeln seitlich zum Munde herab. Die Augenlider des jungen Menschen waren entzündet, und die etwas hervortretenden Augen, obgleich groß aufgetan, schienen im Augenblick nichts von dem zu bemerken, was um ihn war. Über die ganze, mit Sommersprossen bedeckte Gesichtshaut, von der klaren Stirn bis zum Kinn herab, gingen die inneren Bewegungen des Gemütes, wie unsichtbare Winde über einen ruhigen, den gelblichen Abendhimmel widerspiegelnden See.
»Wie heißt du?« fragte der Pfarrer. Quint sah zu dem Pfarrer hin und sagte, mit einer hohen, klangvollen Stimme, seinen Namen.
»Was ist dein Beruf, mein Sohn?«
Quint schwieg einen Augenblick. Alsdann begann er, Satz um Satz ruhig hervorbringend, durch kleine Pausen der Überlegung getrennt:
»Ich bin ein Werkzeug. Es ist mein Beruf, die Menschen zur Buße zu leiten! – Ich bin ein Arbeiter im Weinberge Gottes! – Ich bin ein Diener am Wort! – Ich bin ein Prediger in der Wüste! – Ein Bekenner des Evangeliums Jesu Christi, unseres Heilands und Herrn, der gen Himmel ist aufgefahren und welcher dereinst wird wiederkehren, wie uns verheißen ist.«
»Gut«, sagte der Pfarrer – sein Name war Schimmelmann –, »dein Glaube ehrt dich, mein Sohn. Aber es ist dir bekannt, daß in der Bibel steht: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen. Was hast du denn sonst für einen Beruf? Ich meine, welches Handwerk betreibst du denn?«
Der Wachtmeister Krautvetter räusperte sich, rückte den Säbel ein wenig, so daß es klirrte, und sagte, als Emanuel schwieg, er habe in Erfahrung gebracht, daß Quint in seinem Dorfe als Nichtstuer gelte und seiner armen, fleißigen Mutter zur Last liege. Im übrigen habe er sich schon früher durch ähnliche Streiche wie den von heute bemerklich gemacht. Nur daß in den Dörfern die Leute an ihn gewöhnt seien und über seine Torheiten sich nicht mehr wunderten.
Jetzt erhob sich der Pfarrer in seiner ganzen Länge und Breite vom Stuhl, auf dem er gesessen hatte, sah Emanuel scharf an und sagte mit Ernst und Gewicht: »Bete und arbeite, heißt es, mein lieber Sohn. Gott hat die Menschen in Stände geteilt. Er hat einem jeden Stand seine Last und einem jeden Stand sein Gutes gegeben. Er hat einen jeden Menschen nach seinem Stand und seinem Bildungsgrad in ein Amt gesetzt. Das meinige ist, ein berufener Diener Gottes zu sein. Nun, als ein berufener Diener Gottes sage ich dir, daß du verführt und auf Irrwegen bist. Ich sage es dir als berufener Diener Gottes. Verstehst du mich? Als einer sage ich das, der in die Pläne und Absichten Gottes durch Amt und Beruf einen tieferen Einblick hat als du. Soll ich vielleicht deinen Hobel führen, mein Sohn, und wolltest du etwa an meiner Statt auf die Kanzel treten? Nun sage mir doch: was hieße denn das? Das hieße Gottes Ordnung mit Füßen treten. – Da haben wir's, lieber Baron« – und hiermit kehrte er sich an den Amtsvorsteher –, »man kann sich gar nicht bestimmt und energisch genug dagegen auflehnen, daß Laien in ungesunder Geschäftigkeit den Dienern am Worte vorgreifen und eigenmächtigerweise das Volk beunruhigen. Der Laie ist unverantwortlich. Herrnhut in Ehren! Aber ob der Schade, der von dort ausgeht, den Segen nicht überwiegt, bleibe dahingestellt. Man darf nicht Keime in die Volksseele tragen, die ohne das treue Auge des Gärtners wucherisch auswachsen müssen. Wie leicht saugt so ein Wuchertrieb alle edleren Säfte aus der Seele, um schließlich oben in eine Giftblume auszulaufen. Denken Sie an die gefährlichen Schwärmer zu Luthers Zeit! Denken Sie an Thomas Münzer! Denken Sie an die Wiedertäufer! Und wie viele verirrte Schafe, die reißende Wölfe wurden, gab es in allen Ländern, auch während der jüngst verflossenen Zeit. Denken Sie an den Zündstoff, der heut, überall aufgehäuft, gleichsam nur auf den Funken wartet, um mit einer furchtbaren, ganz entsetzlichen Explosion in die Luft zu gehen. Da heißt es, nicht mit dem Feuer spielen. Um Gottes und Christi willen nicht! Ein Pflänzchen gibt es, der zartesten eins, der edelsten eins, das es geben kann, und dies Pflänzchen vor allem sollen wir gießen und nähren in der Volksseele: Gehorsam gegen die Obrigkeit. Und darum lies in der Bibel, mein Sohn, tue das, wenn deine ernste Arbeit dir eine halbe Stunde am Abend übrigläßt! Tue das, wenn du des Sonntags aus der Kirche kommst, tue es, falls du nicht vorziehst, hinaus in Gottes freie Natur zu gehen, aber vergiß nicht, immer und immer wieder die Stelle zu lesen, wo da geschrieben steht: Jedermann soll untertan sein der Obrigkeit. In geistlichen Dingen bin ich deine Obrigkeit, in weltlichen Dingen ist es der Herr Baron, der neben mir steht, ich also, als deine geistliche Obrigkeit, ich sage dir: Bleibe in den dir von Gott gezogenen Grenzen, und zwar bescheidentlich! Das Predigen ist nicht deines Amtes. Das verlangt einen klaren, gebildeten Kopf. Einen klaren, gebildeten Kopf hast du nicht. Den kannst du nicht haben. Den hat man in deinem niedrigen Stande nicht! – Du scheinst mir im Grunde kein böser Mensch zu sein, deshalb rate ich dir aus ehrlichem, gutem Herzen, verblende dich nicht. Überspanne die unentwickelten Kräfte deines schwachen Verstandes nicht. Bohre und verbeiße dich nicht in die Schrift, eine Sünde, deren du mir verdächtig scheinst. Es ist besser, wenn du sie eine Zeitlang beiseitelegst, als daß der Teufel Gelegenheit findet, dich wohl gar durch das lautere, liebe Gotteswort selbst zu verführen und ins Verderben zu ziehn.«
Nachdem er diese Worte alle mit der sicheren Technik des Kanzelredners gesprochen hatte, schien er einige Augenblicke auf Antwort zu warten. Aber der Zurechtgewiesene, der, ohne einen Gemütsanteil zu verraten, zugehört hatte, bewahrte ein sinnendes Stillschweigen. Darauf sagte der Amtsvorsteher mit einem übelgelaunten Gesicht zum Pastor: »Was tu' ich mit ihm?« Worauf der Geistliche durch einen Seufzer seiner Ungehaltenheit erst nochmals kopfschüttelnd Ausdruck verlieh, alsdann den Baron beim Ärmel faßte und ihn in ein anderes Zimmer zog. Hier legte er seinem Freunde mit wenig Worten dar, wie er der Ansicht sei, man dürfe einen Vorfall wie diesen nicht weiter aufbauschen, und beide Männer einigten sich, Emanuel nur mit einem strengen Verweis zu entlassen. Es sprach vieles in ihnen zugunsten des einfältigen Menschen, der ja doch höchstens des Guten zuviel tun wollte.
Demnach verfügten sie sich wiederum in die Amtsstube, und der Baron, an Stelle des Pastors tretend, brachte nun eine andere Tonart zur Anwendung, mit einer jener scharfen und schneidigen Abkanzelungen, um derentwillen er bei der Behörde in Ansehen stand. Er sagte: »Wehe dir!« – Und: »Ich warne dich!« – Er sagte: »Steck deine Nase in den Leimtopf, wenn du Tischler bist, und stiehl nicht dem lieben Gott seine Tage ab!« Er sagte: »Wenn dieser Unfug noch einmal vorkommt – das ist Kinderei, das ist Lästerung! –, dann wird man dich ohne Gnade ins Loch stecken. Jetzt marsch! Verstanden! Verkrümle dich!«
Als Emanuel Quint auf die Straße trat, hatten sich dort Müßige aufgestellt, die ihn mit Gejohle empfingen. Ihm ward dabei wohl zumute. Durch sein ganzes Wesen verbreitete sich ein stolzes Gefühl der Genugtuung darüber, daß er nun ernstlich gewürdigt wäre, für das Evangelium Jesu Christi zu leiden. Denn Quint, wie alle Narren, nahm seine Torheit für Weisheit und seine Schwachheit für Kraft. Mit leuchtenden Augen, die von Tränen des tiefsten Glückes feucht waren, ging er mitten durch die rohe Menge dahin und bemerkte nicht, daß zwei Männer, die unter den Leuten verborgen gestanden hatten, sich loslösten und ihm nachfolgten. Diese beiden, ein Brüderpaar namens Scharf, noch jung und ehrsame Leinweber, hatten der Predigt auf dem Markt beigewohnt. Aber während alles in ihrer Umgebung lachte und Possen trieb, hatte der ganze Vorgang auf sie einen tief bewegenden Eindruck gemacht. Man nannte die beiden in ihrem Dorfe die Betbrüder. Und auch sie, ähnlich wie Quint, weil sie mit ihrem alten Vater ein Sonderlingsleben führten und in ihrer verfallenen Hütte öfters laut sangen und beteten, galten nicht für ganz richtig im Kopfe. Emanuel Quint schritt seines Weges, ohne sich umzublicken. Sobald er aus dem Städtchen heraus über die Bahngleise auf die Landstraße gelangt war, traten die Brüder Scharf ihn an. Sie fragten ihn, ob er nicht derjenige sei, der vor einigen Stunden auf dem Markt von der Buße gepredigt habe und von dem Nahen des himmlischen Reiches. Emanuel bejahte das alles, und nachdem alle drei eine Zeitlang stumm durch die öde Tallandschaft gewandert waren, fing der ältere von den Brüdern, Martin Scharf, an, allerhand ängstliche Fragen zu tun und mit sichtlicher Bangigkeit, indem er zuweilen die grauen, drohenden Wolken des Himmels betrachtete, danach zu forschen, was man tun müsse, um, vor den Schrecken des Letzten Tages geschützt, der künftigen ewigen Wonnen sicher zu sein.
Anton Scharf, der zur Linken neben dem Narren ging und ebenso blaß und rothaarig wie sein Bruder war, streifte, wie dieser, Quint gespannt mit Blicken. Der seltsam gravitätische Mensch, der den meisten ein Lachen abnötigte, hatte vom Augenblick seiner Predigt an auf die ihm in geistiger Armut und Not verwandten Brüder eine ernstliche Macht ausgeübt und, ohne davon zu wissen, beide mit Banden der Liebe an sich gefesselt.
Als er nun zwischen den fremden Männern dahinschritt, vom Gefühl seiner göttlichen Sendung berauscht und ob seiner Erstlingstat triumphierend, hörte er ihre Worte und Fragen gleichwie im Traum. Ihm war nicht anders, als müsse es nur so sein, daß, wenn er nach Gottes Gebot den Hamen auswürfe, sich Fische fingen. Aber ohne sich zu verwundern, empfand er darüber doch Glück. So sagte er denn, mit dem Klange der Liebe in der Stimme, zu den beiden nach Gottes Worte hungrigen Seelen gewendet: »Wachet!«
An einem bestimmten Punkte des Weges, schon zwischen Bergen, in die sie aufstiegen, brachte nach einigem Zögern und Stottern Martin Scharf eine Bitte vor. In der rauhen und rohen Mundart der Gegend und sich, wie alle im Volke, des Du zur Anrede bedienend, legte er Emanuel nahe, er möge doch mit ihnen gehen und ihren alten Vater womöglich gesund machen, der das Fieber habe und bettlägerig sei. Emanuel sagte, das stehe bei Gott. Aber an dem Kreuzwege, obgleich in seiner Antwort etwas gelegen hatte, was einer Abweisung glich, folgte er doch den Brüdern auf vieles bittliches Drängen hin und weil ein sonderbares Zutrauen aus ihren Blicken und Bitten sich auf ihn übertrug und seine nun einmal vom Schwarmgeiste in Besitz genommene Seele fast widerwillig zum Rausche des Wunders zog.
Während sie sich zwischen Granitblöcken auf einem holprigen Wege dem Wohnort der Brüder näherten, betete Emanuel innerlich. Nach seiner ersten Prüfung sah er sich plötzlich vor eine zweite, größere hingestellt. Er war dem Rufe des Heilands gefolgt. Er hatte öffentlich Zeugnis abgelegt für die Wahrheit des Evangelii, jetzt aber sollte er den Beweis dafür antreten, daß er der vollen Nachfolge Jesu durch Gott gewürdigt sei, indem er Kranke gesund und Tote lebendig mache.
Man kann nicht sagen, der törichte Mensch habe solches zu tun sich aus Hochmut vermessen. Er war voll Demut. Auch seinen stillen Gebeten, die mit Inbrunst durch seine Seele gingen und darin er den Heiland bat, ihn ganz zu heiligen, fügte er immer die Worte: »Nicht wie ich will, sondern wie du willst!« an. Und deshalb, ohne Bewußtsein davon, daß er Sünde tat, von starker Erwartung innerlich bebend, wandelte er der Stätte zu, die es ihm klar enthüllen sollte, wie hoch er bereits in die Gnade Gottes gedrungen, wie nahe er schon seinem Herrn und Meister sei. In seiner Verblendung dachte er auch der Worte des Pastors nicht, geschweige daß er des Amtsvorstehers und seiner Warnungen sich erinnert hätte. Er hatte am Bibelbuch lesen gelernt. Die unrechte Art, mit der er sich in die heiligen Schriften vertieft hatte, wochen-, monate-, jahrelang, hatte ihn gegen die äußeren Übel der Erde leider ganz abgestumpft, weshalb ihm nicht leicht mit einer Waffe zu drohen war, die aus der irdischen Rüstkammer stammte.
Der alte Scharf, ins Stroh seiner ärmlichen Bettstatt gekrümmt, stöhnte, als seine Söhne hereintraten. Mühsam die kleinen, tränenden, rotgeränderten Augen aufmachend, bewegte der Greis den zahnlosen Mund, und ohne, wie es schien, zu erfassen, wer zu ihm kam, griff er mit den vertrockneten und erstarrten Händen irr in die Luft, aufs neue wimmernd, röchelnd und stöhnend.
Der Jüngere, Anton Scharf, trat nun zu dem Vater heran, und nachdem er eine lange Weile in ihn hineingeredet hatte, was mit außergewöhnlich erregter Stimme geschah, schienen die Schmerzen des alten Mannes sich zu verdoppeln, und bange, hilfeflehende Laute entrangen sich seiner Brust, die rasselnd und krampfhaft auf- und abwogte. Auch Emanuel trat nun hinzu. Aber ihn hatte der alte Scharf kaum ins Auge gefaßt, als er mit gurgelnden Lauten des Schreckens und Grausens auf- und zurückfuhr und, wie versteinert den Narren anblickend, ein »Hilf, Herr Jesus Christus!« hervorstieß. Er schien den leibhaftigen Satan zu sehen. Und soviel auch immer die Brüder sich mühten, den Alten von seiner Angst zu befreien: er schob sich nur immer zitternd zurück, bis endlich die Angst in Entsetzen umschlug, das Entsetzen in Wut und er, erst gleichsam eine Erscheinung wegwischend, am Ende verzweifelt nach Emanuel schlug.
Aber dieser, die langen, brandroten Wimpern über die Augen gesenkt, blickte nur in sich hinein. Er hob seine lange, blasse, nicht unschöne Hand ein wenig empor, und wie der Alte nach seinem Ausbruch wider Erwarten schwieg und starr der Bewegung seiner Rechten zu folgen schien, legte er diese ihm weich und leise auf die mit Runzeln und Falten bedeckte Stirn: darunter entschlief der Alte sogleich.
Vor dieser Wirkung – an sich nicht wunderbarer als irgendeine in dieser Welt – verstummten die Brüder Scharf vor Schreck. Sie, die doch selber, von einem jähen Aberglauben gepackt, den fremden Burschen ans Bett des Vaters genötigt hatten, waren in ihrer Einfalt nun ganz entsetzt, als das vermeintliche Wunder sich wirklich vollzogen hatte. Der Alte schlief, wie es schien, einen ruhigen Schlaf. In tiefer Betäubung ruhte der schon seit Wochen schlaflose Mann, der seine Tage mit Stöhnen und Jammern, seine Nächte mit Schreien und Wimmern hingebracht hatte, und atmete gleichmäßig aus und ein. Je mehr sich die Brüder dieser erstaunlichen Wendung bewußt wurden, die mit dem Vater zugleich sie selbst von einer höllischen Folter losband, um so heftiger wurde in ihnen der Drang, überreizt wie sie waren durch Arbeit und Nachtwachen, dem Bringer der Hilfe die Hände zu küssen, der ihnen nun ganz ein göttlicher Bote schien.
Auch Quint, durch das vermeintliche Wunder, und zwar noch mehr als die beiden Brüder, bewegt, konnte, wie sie, nur mühsam des Aufruhrs Herr werden, den es in seinem Innern erregt hatte; aber während es laut in ihm schrie, weil seine Beseligung bis zum physischen Schmerze ging, und während er um sich und in sich das Brausen des Heiligen Geistes zu hören glaubte, stand er doch aufrecht und stumm am Bett des Kranken still, nur daß er, den Kopf ein wenig nach rückwärts geneigt, die Augen nach oben gegen die Decke, wie gegen den Himmel, gerichtet hatte, wobei eine große Träne ihm langsam die Wange herunterrann.
An diesem Abend ließen die Brüder Quint nicht von sich gehen. Da sie am Tage vorher ihre Webe zum Kaufmann gebracht hatten, so war ein wenig gebrannter Roggen und Brot im Hause, ein Feuer konnte im Herd entzündet und Quint bewirtet werden. Nach einer Weile, indessen der Alte immer ruhig geschlafen hatte und nachdem Martin Scharf soeben das dürftige Mahl, Kartoffeln, Brot und eine Brühe aus Korn, auf den Tisch gestellt hatte, nahmen alle drei zugleich die übliche Stellung von Betenden ein, und Martin sprach das »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast«. Alsdann aber, miteinander essend und trinkend, hatten sie alle drei ein klares Gefühl davon, daß nun der Heiland wirklich zugegen wäre. Und dadurch begreiflicherweise bis auf den innersten Grund ihres Wesens entzückt, saßen sie miteinander in ihrer Dürftigkeit am wackligen, gleichsam schwarz verkohlten Tisch, bei Brot und Salz, wovon jedes Körnchen sauer erarbeitet war, von einem festlichen Licht umstrahlt, geborgen wie an dem Tische des Herrn.
Erwachsene Kinder und Unmündige, von Jugend auf an die Balken des Webstuhls gefesselt, dessen Pedale sie ununterbrochen treten mußten, wie einer das Wasser tritt, wenn er darin nicht ertrinken will, war ihnen die Erde ein wirkliches Jammertal: als solches hätten sie es gekannt, auch wenn man es ihnen in Schulen und Kirchen nicht fortgesetzt so bezeichnet hätte. Und deshalb, aus Pein und Not heraus, ergriffen sie auch die frohe Botschaft des Evangelii mit jener Kraft, die dem Ertrinkenden eigen ist, und klammerten sich an ihren Retter.
Der Weber in seinem Stübchen für sich, nur an den Umgang mit vertrauten Menschen, meist Gliedern der eigenen Familie, gewöhnt und darum empfindlich und leicht verletzt bei Berührung mit Fremden – ein Stubenhocker, durch sein Gewerbe zum Träumer gemacht, in dem der Hunger, die Sorge, die Not zum Dichter wird und, nicht zu vergessen, die Sehnsucht nach allem, was draußen ist: nach Sonne, nach Luft, nach Himmelsblau –, der Weber, in sich zurückgedrängt und gleichsam in eine zweite Welt, entschädigt sich in der Welt der Träume für seine irdische Trübsal und Not: und wenn er, an ein nach innen gekehrtes Dasein gewöhnt, zum Buche gleichwie zum Hausbrunnen hingedrängt, aus ihm den Durst des Geistes zu stillen gewohnt ist und die Bibel das einzige Buch des Webers ist, so kann es nicht fehlen, daß seine Seele die biblische Welt mehr als die wirkliche Welt erfüllt.
Emanuel Quint erschien diesen beiden Männern nun deshalb als geradezu aus dem Bibelbuch hervorgestiegen. Schon auf dem Markte zu Reichenbach, obwohl als Christen gewarnt vor falschen Propheten, gerieten sie doch sogleich in Emanuels Bann. Kein Narr in der Welt, der nicht Narren macht! Leichtgläubig und in dem steten Gefühl, ihre Not sei zu mächtig, um sich nicht bald zu enden, warteten sie mit ungeduldigeren Herzen auf Erfüllung der Verheißungen des Himmels, als sie auf Brot warteten, ihren irdischen Hunger zu stillen. In ihrer Einfalt hatten sie, ach wie oft, vermeint, das schreckliche Ende der Welt sei nahe und alles stünde unmittelbar vor dem Untergang. Sie waren zu ihren Konventikeln gelaufen, sommers und winters, stundenweit, und hatten dabei, den letzten Blick auf die ärmliche Hütte werfend, aus der sie gingen, für sich gemeint, es könnte vielleicht zum letzten Abschied sein. Denn jedesmal, sobald sie mit anderen Sektierern ihrer Art betend, singend und Bibel lesend vereinigt waren, hatten sie das Gefühl, dem Rätsel der letzten Stunde ganz nahe zu sein. Da schien es ihnen, als lägen vielleicht nur Minuten zwischen jetzt und dem letzten Augenblick. Und oftmals, während des stillen Gebetes, wenn draußen die Nacht und innen im Zimmer der kleinen Gemeinde die Stille des Grabes herrschte, wurden die Brüder jählings blaß, und während sie einer den anderen entsetzt und beglückt zugleich ins Auge faßten, hatten sie draußen die ersten Posaunenstöße des Jüngsten Gerichtes dröhnen gehört.
Nachdem sie gegessen hatten und in der seltsamen Erregung, worin alle drei sich befanden, nur wenig gesprochen worden war, erhob sich der jüngere Scharf, um die Reste des Mahles abzutragen, wobei ihm der ältere Bruder behilflich war: dann wurde von diesem die Heilige Schrift – sie hatte auf einem Balken der Decke gelegen – herbeigeholt, und während er sie vor Emanuel, auf dem gesäuberten Tische, aufschlug, sah er den neuen Apostel bittend an.
Dieser hatte die Hand nicht sobald auf das teure Buch gelegt, als es den Brüdern vorkam, wie wenn seine Augen überirdisch zu leuchten begännen und als verbreite sich, von dem göttlichen Talisman aus, ein himmlisches Feuer durch seinen Leib, aber es zeigte sich nur, daß der verstiegene Mensch eine größere Sicherheit wiedergewann und, trotz aller Schwärmerei, in dem Augenblick fest auf den Füßen stand, wo er den Urgrund göttlicher Weisheit wieder berührte, darin, wie er meinte, sein Irrtum, den er für Wahrheit hielt, begründet lag.
Er hub nun zu lesen, das heißt, nur immer flüchtig die Schrift betrachtend, mit leiser, innig-heimlicher Stimme zu sprechen an: »Selig seid ihr, dieweil das Reich Gottes euer ist. Ja, ich komme zu euch, ihr Armen! Euer, ihr Armen, ist das Reich. Selig, die ihr hier hungert, ihr werdet satt. Selig, die ihr hier weinet, euch wird man trösten, ihr lacht dereinst. Der Geist des Herrn ist bei mir«, fuhr er dann fort. »Er hat mich gesandt, wie er viele gesandt hat. Ich bin hier. Ich verkünde das Evangelium. Ich komme, zerstoßene Herzen zu heilen. Die Gefangenen sollen ledig werden, die Zerschlagenen heil, die Blinden gesund.« Und weiter sagte er: »Seht mich an« – und dabei schien der Jammer verborgenen, schweren Leides auf seine verhärmten, plötzlich verfallenen Züge getreten zu sein –, »ihr werdet am Ende zu mir sagen: Arzt, hilf dir selbst! Wenn ihr mich kennt, wie euer Vater mich kannte, was er durch seinen Ausruf bewiesen hat, so wißt ihr, daß ich ein von den Menschen Verstoßener bin. Ich war verachtet von Jugend auf. Ich war mit Schwären behaftet als Kind. Ich habe längere Zeit auf dem Stroh des Krankenlagers gelegen, als euch, da ich lebe, möglich scheint. Aber die Schmach hat mich nicht erniedrigt, und die Krankheit hat meine Seele lebendig gelassen. Fand ich doch auch, daß geschrieben steht: Selig seid ihr, so euch die Menschen hassen und absondern, euch schelten und euren Namen verwerfen. Sie nennen mich einen Narren. Mögen sie's tun. Sie haben sich auch von dem Heiland gewendet und haben ihm alle Namen gegeben. Sehet, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt. Hatte er doch auch weder Gestalt noch Schöne, sie aber hielten ihn für den, der von Gott geschlagen und gemartert würde. Wenn ihr nun heut wolltet zu mir sagen: Arzt, hilf dir selbst, so sage ich euch, daß ich das Kleid der Schmach und der Krankheit dieser Welt nicht eher will ausziehen als bei Gott. Auf dieser Welt hier ist Leiden Glück. Ich segne den Vater für jede Qual, die er mir geschenkt, für jede Marter, die er mir bescheret hat. Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid. Ich will das Kleid der irdischen Drangsal nicht von den Schultern lassen, bevor der letzte von meinen armen Menschenbrüdern es abgelegt. Denn wisset ihr auch, wer der letzte, der ärmste und elendeste unter den Menschen ist? Der Kränkste, der um Gesundheit fleht? Unter den Durstenden der Verschmachtende? Der, den der Hunger am meisten plagt? Der unterm Mangel am bittersten leidet? Ja? Wißt ihr auch wirklich, wer das ist? Er! Jesus Christus von Nazareth.«
Emanuel war mit seiner Rede bis hierher gekommen, als einige übermütige Bauernburschen, die, an der Hütte vorübergehend, im Innern das Licht und die Schwärmer darum bemerkt haben mochten, ihre betrunknen Gesichter an eines der kleinen Fensterchen drückten und so, die Nasen und Mäuler zu schlimmen Grimassen breitgequetscht, wüstes Gebrüll und Drohungen ausstießen. Erblassend sahen die Brüder sich an. Anton aber, dem plötzlich das Blut zu Kopf stieg, noch eben von Andacht ganz übermannt, sprang auf, vom Zorn heftig gepackt, bereit, die Störenfriede zu züchtigen.
Mit einer gelassenen Milde, vielleicht nicht ganz ohne Wohlgefallen, betrachtete Quint den seine Wut nur mühsam beherrschenden Mann. »Selig sind die Sanftmütigen«, sagte er zwar, streckte ihm aber zugleich die Rechte entgegen, und als er die Hand des Erregten in seiner spürte, drückte er sie und sagte dabei: »Wohl dir, daß dir Mannheit und Mut von Gott gegeben sind. Brauche sie. Diene dem Evangelium. Die Diener am Wort sollen Männer sein. Aber brauche deine Kraft zur Demut, deinen Mut zur Duldung, und deinen Eifer verwandle in Liebe zu Gott. Dann wirst du ein Fels wie Petrus sein.«