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Als Sieger kehrte Johann Sebastian heim. Festlich empfing ihn der »Blaue Herrgott«, um den der Herbst mit roten und gelben Fahnen gar lieblich winkte. Im Hintergrunde spann der Oktoberhimmel seine blaue Seide.

Alle taten den Gram von sich, der ihre guten Herzen klein und verzagt machte, und lachten dem Vater fröhlich entgegen. Der Zuckerbäcker Williguth hatte einen besonderen Einfall, so daß seine runde Person eine Lücke in der Festschar ließ und er lieber die Orgel zu einer Bachschen Fuge einheizte.

So dröhnte ein gar seltsames Tongewoge dem heimkehrenden Meister ins Ohr, daß er den Handkoffer achtlos aufs Pflaster fallen ließ, das Schloß aufsprang und der ganze Inhalt davonwirbelte. Mit beiden Fäusten drohte er in die Luft, woher der gutgemeinte Willkomm ächzte und knarrte, wie Rabenschrei um einen verfallenen Turm. »Das kann nur der ›Torten-Robert‹ sein,« schluchzte der dicke Mann und mischte Lachen, Zorn und Tränen höchst wunderlich durcheinander.

Während er dann im Musiksaal mit wichtiger Miene die kleinen Geschenke unter sein Volk verteilte und seiner Frau eine wohlgespickte Brieftasche reichte, rann das Glück in milden Bächlein von seinen Lippen. Gar stolz erzählte er von Goethe, von Johann Sebastian Bach und von der Feierlichkeit dieser Tage, die seinen Namen den Leuten ins Herz geschrieben hatten, daß sie jetzt auch im hohen Norden nach Meister Williguth verlangten und die Stadt Bremen ihn für das Frühjahr zu einem Orgelschmaus geladen hatte.

»Bülow hat mir die Hand gedrückt,« berichtete er schmunzelnd und warf Kundry ein Korallenhalsband in den Schoß.

Karl Maria schien er ganz vergessen zu haben in dem späten Glück, das rot und hell in seine Seele eingekehrt war. Erst beim Essen stützte er beide Fäuste auf und fragte vergnügt: »Nun, Lisbeth, wie ist's denn deinem Jungen ergangen?«

Es wurde recht still, weil keiner den Mut zur Wahrheit hatte.

Nur Gundl sagte leise: »Es ist nicht gut gewesen.«

»Was?« schrie Johann Sebastian und schob einen tüchtigen Bissen in den Mund, als wollte er sich noch ein Gutes tun, ehe der Zorn ihm das Essen verdarb.

Frau Apollonia rückte die Schüssel vor ihren Eheherrn und meinte gleichgültig: »Iß erst, Bastian!«

Und das tat der Orgelmeister. Nur war jetzt ein banges Schweigen in dem Klappern und Rasseln von Messer und Gabel.

Karl Maria saß mit trotzigem Mund und geballten Fäusten. Denn sein Schicksal hatte schnellen Lauf getan und Schatten nach Schatten geworfen.

Nach Tisch verlangte Vater Williguth die Zeitungen zu sehen, die über das Konzert berichteten. Gundl legte einen Pack vor ihn und hockte dann treu und furchtsam in der Ecke, stets bereit, dem lodernden Zorn ihres Vaters als Blitzableiter zu dienen. Johann Sebastian las, und die wenigen Locken auf seinem Musikerschädel wogten grimmig auf und nieder. Endlich schlug er mit der Faust auf den Tisch: »Also nichts, rein gar nichts!«

Und ein ehrlicher Schmerz riß Furchen um den weichen Mund.

»Er war krank,« entschuldigte Frau Lisbeth und lächelte, als sei sie ganz glücklich, wie alles gekommen war, weil sie trotz allen Mißgeschickes ihren Jungen behalten durfte.

»Du bist eine Affenmutter,« grollte der Bruder und trank sein Glas aus.

Starr und steif stand Karl Maria auf und sprach wie ein Mechanismus, der sein Sprüchlein abschnurrt: »Ich habe einfach schlecht gespielt. Du hast dich umsonst mit mir geplagt, Onkel. Vielen Dank für deine Liebe.«

Und dann zögernd: »Die Nacht vorher konnte ich nicht schlafen. Da war ich dann todmüde und willenlos. Vielleicht war das an allem schuld.«

Johann Sebastian schnaufte heftig und bekam dicke blaue Adern auf der Stirn.

»Ich will jetzt fort,« murmelte der Junge, als wollte er alle Schmach und Qual auf einmal abtun.

»Wohin, mein Wunderkind?« höhnte Johann Sebastian, dem die Galle überlief vor dieser traumhaften Sicherheit.

Karl Maria zuckte stumm und trotzig die Achseln.

»Dageblieben! Du bist ein Schulbub, der lernen muß. Jetzt heißt es festsitzen und ein kleines Schreiberlein werden. Schnalle die Engelsflügel nur ab!«

Gundl hob entschlossen den Kopf. »Er geht nicht mehr in die Schule.«

Frau Apollonia, die alle Schulmeisterei in der Seele haßte, warf hilfreich ein: »Sein Professor ist ein Esel, Mann.«

Gewitterwolken grollten um das Haupt des Gewaltigen, doch er fragte mit unheimlicher Ruhe: »Was heißt das?«

Da krähte die jüngste Williguth in ihrer neunjährigen Begeisterung für solche Großtat: »Sein Professor hat ihn verspottet, und da –«

»Habe ich ihn ins Gesicht geschlagen,« bekannte Karl Maria und stand jetzt demütig vor dem Onkel.

Frau Lisbeth und Gundl drängten sich zwischen ihn und Johann Sebastian, der mit schweren Armen durch die Luft fegte, als müßte er den »Blauen Herrgott« reinigen von all dieser Schmach.

»Laßt mich mit ihm allein!« herrschte er mit seltsam rauher Stimme. Als die beiden Frauen zögerten und bittende Blicke wagten, sagte er verächtlich: »Habt keine Angst. Ich schlage ihn nicht. Meine Hände sind mir zu lieb dazu.«

Da gingen sie und ließen das Jungenschicksal hinter sich.

Gundl aber lief noch zum Vater und flüsterte ihm ins Ohr: »Tu' ihm nichts! Ich habe ihn lieb.«

Zitternd senkte sie den blonden Kopf und wartete auf des Vaters Zorn. Aber es kam nur ein Ächzen aus der breiten Brust. Johann Sebastian griff nach der Hand seiner Tochter, legte sie an seine Wange und sagte ganz sanft: »Ich will dran denken, Kundry.«

Karl Maria stand trotzig in der Mitte des Zimmers. Er hielt seinen Blick hart an sich und wußte keinen Dank für Gundls Opfer. Nur ein Gedanke war jetzt in ihm: Auf den Füßen bleiben! Die Zähne zusammenbeißen. Und seinen Weg finden. Am besten war ein rascher Schnitt, der alles Liebe und Traute von ihm tat. Wie ein Schwerthieb, klar und scharf.

Johann Sebastian aber litt unter diesem neuen Schlag, wie in jener Stunde, als sein Giacomo ihn und seine liebgewordene Hoffnung schnöde auf den alten Strohsack wälzte. Er hatte Karl Maria gehalten wie sein eigenes Kind und heimliche Sehnsucht an diesem Geigenspiel genährt. Nun ging der Junge vor die Hunde, das schlimme Blut des Vaters erwachte in ihm und ließ ihn sein Leben vertrödeln wie eine verspielte Stunde.

Und die Gundl bat für den armen Sünder, schenkte ihr armes Glück fort und stand jetzt zitternd hinter jener Tür.

In dem starken Glauben dieses Mannes geriet etwas ins Wanken, aber seine Lippen murmelten: »Wie Gott will, ich halt' still.«

Er hob den Blick.

Aus Karl Marias Augen kam ihm ein verzweifelter Trotz entgegen. Da wurde auch Johann Sebastian wieder hart und kalt. Der Bub rannte ja nur seinem Wirbelkopf nach und kümmerte sich keinen Pfifferling um die Kundry.

Wie Unkraut wucherte Karl Maria in Johann Sebastians gottgefälligem Garten. Freilich war Meister Williguths biederes, doch etwas täppisches Wesen nicht klug, in Menschenherzen zu lesen, weil er zu versonnen und versponnen in seine eigene Art war und die übrige Welt nur als ein artiges Puppentheater für seine Einbildungskraft betrachtete. So nahm er für Trotz, was nur Jungenschmerz in unklarer Keimzeit war.

»Ich habe geglaubt, du kannst dankbar sein, Karl Maria.«

Verzweifelt wehrte sich der Knabe gegen die kindische Wehmut, die ihm würgend in der Kehle saß. »Ich kann nichts weiter sagen, Onkel.«

Jetzt grollte Johann Sebastian in dem Grimm des Alters, das aufbraust, wenn irgendeine Jugend zum erstenmal ihr Eigenrecht fordert.

»Das sind faule Fische, mein Bub. Dir sitzt allerhand dummes Zeug im Kopf, und der ›Blaue Herrgott‹ hat nichts dagegen vermocht. Meine besten Träume habe ich vor dich hingestellt und gesagt: ›Bitte, greif zu!‹ Gefreut hab' ich mich, als es so hell und licht in dir wurde. Ich kann es mir nicht zusammenreimen. Sage, Karl Maria, ist's ein Weib? Du bist ein schöner junger Kerl, und da lächeln sie Verderben und lispeln Süßigkeit, wie Delila über Simson kam. Ich bin ein alter Mann und kein Mucker. Kannst es mir ruhig sagen.«

Aber Karl Maria schüttelte stumm den Kopf. Das Geheimnis mit der Trix durfte er nicht preisgeben, schon um der Kundry nicht wehzutun.

Onkel Williguth deutete seine Befangenheit ganz anders. War das von der verspielten Nacht vielleicht nicht die ganze Wahrheit? Konnte nicht da die Gundl im Spiele sein, ein herzlich dummes Tändeln im ersten Frühling, das matt und hilflos machte? Dann hatte ja gar sein eigenes Mädel dem Buben das Konzert verdorben.

Ein wehmütiges Lächeln ging durch Johann Sebastians Zorn. Hatte nicht er selbst um die rundliche Jugend der Jungfer Apollonia einen aussichtsreichen Kapellmeisterposten ausgeschlagen und seine Hoffnung im »Blauen Herrgott« alt und zag werden lassen?

Mit ungelenken Händen tastete er so in die Seele Karl Marias und holte doch nur seine eigenen Kinderträume hervor. Und jetzt hatte er wieder seinen hellen, frohen Glauben. Vielleicht blühte da im geheimen ein großes Glück, das er nicht zerstören durfte. Wie in Schöpferfreude blickte er auf den blassen Jungen, dessen Trotz er nur mehr schmunzelnd belächeln konnte. Es war so zart und hübsch, daß Karl Marias Lippen stumm blieben vor dem Vater des Mädchens, dem seine Liebe galt. Meister Williguth begrüßte dieses Schweigen als einen Sieg, den das Blut der Williguth über das der Tredenius gewann.

Gar nicht mehr zornig ließ er sich jetzt über Karl Marias Schulkrach Bericht erstatten, und seine Augen verbargen mühsam ein inniges Behagen, als er hörte, wie der Junge die Kränkung so bitter gerächt hatte. Ja, Johann Sebastian murmelte sogar wohlwollend: »Wie kann auch so ein Schulmeister die Musik begreifen?«

Auf seinem Steckenpferde ritt er so wohlgemut an dem schweren Schicksal vorbei, das Karl Marias allzu schnelle Hand sich selbst bereitet hatte.

Die Schamröte, die dem Jungen ins Antlitz stieg, weil hinter dieser unendlichen Güte doch nur ein schrecklicher Irrtum liegen konnte, deutete Johann Sebastian als Freude über die glückliche Wendung dieser zornigen Stunde. In seiner Unbesonnenheit fragte er ganz arglos: »Hast du die Gundl lieb?«

Karl Maria prallte zurück.

»Ja,« stammelte er dann und floh in diese Lüge, weil er keinen anderen Ausweg sah.

»Es ist keine Schande, Bub. Mein Mädel ist ein heiliges Ding.«

Voll philosophischer Bedachtsamkeit sann Johann Sebastian jetzt auf gute Wege, in die er die Zukunft des verunglückten Gymnasiasten retten könnte. Vorsichtig klopfte er noch einmal an verschlossene Türen: »Mit der Schule ist's also aus? Ist eigentlich schade. Abbitte willst du dem Professor nicht leisten?«

»Bitte nicht, Onkel. Ich habe das so mitgeschleppt, aber es ist immer schwerer geworden. Statt an Latein habe ich an meine Geige gedacht. Das Graue Gymnasium ist nichts für mich.«

Johann Sebastian bedachte das jammervolle Ende der Gymnasiastenzeit seines Giacomo, der jetzt aus Paris voll Stolz das erste selbstverdiente Geld geschickt hatte, bedachte Kundrys wehleidiges Kriechen unter dem Schulmeisterbakel und nickte gnädig Beifall zu der raschen Tat seines Neffen. Dann spendete er einen bibelfesten Trost: »Du hast dein Glück zu schnell stehlen wollen, jetzt mußt du es eben langsam in emsiger Arbeit verdienen. Und ist vielleicht deshalb ein besseres Glück.«

Karl Maria schwieg und schämte sich, daß seine Gedanken abseits gingen von der treuen Liebe der Gundl und von der herzguten Sorgfalt Onkel Williguths. Schlecht und verlogen kam er sich vor. Fast haßte er diese Güte, die in einem Irrtum wandelte. Alle Brücken wollte er abwerfen, wie er die Schule hinter sich zugeschlossen durch die rasche Zorntat. Und jetzt lockte wieder das behagliche Leben im »Blauen Herrgott«, und die Dankbarkeit mahnte mit leiser Stimme: »Bleib da!«

Karl Maria verzog den Mund zu einem kargen Dank.

Meister Williguth spürte das wortlose Widerstreben und warf schnell noch das Opfer seiner eigenen Eitelkeit in die Wagschale: »Nun heißt es ein Sonnenplätzchen für dich suchen. Schulmeister magst du aber keine leiden. Also ist auch der Johann Sebastian nichts für dich.«

Als Karl Maria jetzt die hellen Tränen in die Augen traten, sagte Williguth schnell: »Sorge dich nicht! Für die Musik ist mir nichts zu schwer.«

Sein Herz hielt wieder einmal Feierabend. Die Sonne machte sich davon und brannte noch im Scheiden in den Fenstern des »Blauen Herrgott«, daß ein rosenrotes Leuchten durchs Zimmer ging.

Mit verschmitztem Augenwandern entwickelte Johann Sebastian seinen Plan: »Bei den Neun Chören der Engel ist ein neuer Chormeister, ein eisgrauer Kerl, voll Schrullen und Ecken. Ist noch nicht lange dort. Spielte vorher mit Lumpengesindel in einer Art Quartett. Sein Name ist häßlich und dumm: Andreas Katzenkopf.«

Karl Maria schloß die Augen, als der Onkel so an eine schon farblos gewordene Erinnerung rührte. So hieß doch der alte Klavierspieler im Ministerpalais, der so lieben Trost für Karl Marias Armut gefunden hatte. Schnell traten die traurigen Worte des Alten vor ihn hin: »Bin auch ein Wunderkind gewesen.«

Ja, dort paßte er hin. Dort begrub man zertrümmerte Hoffnungen und lebte in einer dummen Sehnsucht, die niemals wahr wurde.

Johann Sebastian aber freute sich über diese rasche Bereitwilligkeit und sprach würdevoll: »Sollst also beim Katzenkopf erster Geiger werden. Horch nur nicht auf sein wildes Schwatzen! Seine Musik ist gut. Ist das Feuer, an dem er seine alten Knochen wärmt.«

Noch einmal rang die Ehrlichkeit Karl Marias um den Mut zur Beichte: »Ich will dir alles sagen, Onkel.«

Aber Johann Sebastian schloß ihm den Mund: »Ich weiß alles, mein Kind. Halte nur heilig, was heilig ist.«

Er meinte die Liebe der Kundry und wollte Karl Maria die ungelenke Scham ersparen. So schwieg der Junge und sagte zu allem Ja und Amen, erdrückt von der Schuld der Dankbarkeit.

Und Onkel Williguth war höchlich zufrieden mit seiner Geschicklichkeit, in jungen Herzen den Weg blank zu kehren.

Schmunzelnd gönnte er später der Kundry einen liebevollen Blick und verkündete der ganzen Sippschaft feierlich seinen Entschluß.

»Bist du es zufrieden?« fragte Frau Lisbeth, als sie Karl Maria zum Gutenachtgruß küßte.

»Ja, Mutter.«

Und so beschloß er diesen Tag mit einer Lüge, in einem willenlosen Geschehenlassen, das sich von den Dingen treiben ließ, statt selbst ihnen Richtung und Ziel zu geben. Erst als Karl Maria allein war, hielt er erstaunte Umschau. Sein Leben lief in sonderbaren Kreisen, jetzt wieder zu Andreas Katzenkopf zurück. Diese Nacht wurde ein flackerndes Hin und Her zwischen Traum und Wachen. Ein Wunder schien es, daß ihm die schwere Niederlage seiner Wunderkindschaft viel leichter wog als der Verlust der Trix, die wie ein rotes Licht am dunklen Himmel stand, wie der Sonnenstreif an jenem Abend, als er seine Kindergeige zerschlagen hatte, um im »Blauen Herrgott« bleiben zu müssen.

Dann erlosch der rote Schimmer, und es war kein Glanz in dieser Nacht. Regen peitschte um das Haus.

Plötzlich richtete sich Karl Maria auf und streckte die Faust ins Dunkel. Ein Lachen kam, daß alles wieder frei und leuchtend wurde. Und wie fernes Locken zog es durch den schlafenden »Blauen Herrgott.«

 


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