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Und dieses Fest dauerte den ganzen Mai.
Die Bienen ließen sich durch sein armes Spiel nicht stören; sie summten fleißig und wohlwollend, als wollten sie Karl Maria weisen, wie er es machen müsse. Die Mücken tanzten ihr Sonnenballett und musizierten dazu ganz zart, wie Harfenspiel. Der Bub plagte sich, es den Mücken und Bienen gleichzutun, seine Finger waren fein und geschickt, nur mit dem Bogen blieb es ein mißliches Ding. Im Fliederstrauch nistete jetzt ein Amselpaar. Das Männchen setzte sich oft neben den winzigen Musikanten und schmetterte sein Liedlein aus dem gelben Schnabel. Manchmal, wenn sein Mut stark und keck ward, spielte Karl Maria der kleinen Miriam vor, die gerne zu seinem Spiel tanzte. Sie und ihr Bruder Jacques waren die einzigen, die um Karl Marias Geheimnis wußten. Nicht einmal die Mutter weihte er ein. Immer hatte er Angst, man könne ihm seine einziggeliebte Geige rauben.
Als einmal gerade die Amsel sang und er geigte, kam plötzlich seine Schwester Martha in den Garten. Sie brach keck die allererste schüchterne Rosenknospe, die Karl Maria seit Tagen voll heimlicher Freude bewunderte, von dem alten Stock und steckte ihre Stupsnase in die gelbe Blütenpracht. Zu Tode erschrocken schob Karl Maria seine Geige ins Gras und legte den Fiedelbogen unter den Fliederstrauch, dann rupfte er schnell Löwenzahn und blies eifrig die Blütenfedern ab.
Aber Martha sah ihn gar nicht, sie ging gemächlich auf und ab, wiegte sich kokett in den Hüften und trällerte vor sich hin. Karl Maria drückte sich sachte immer tiefer unter den Fliederbaum, bis er ganz darin verschwand.
Da erschien Herr Jacques, blickte sich vorsichtig um und legte spitzbübisch die Hand an den Mund. Dann zeigte er Martha etwas, worauf diese in die Hände klatschte und ihm einen Kuß gab. Mit beiden Händen faßte sie das Geschenk und breitete es vorsichtig auseinander. Die Sonne fiel darauf, und Karl Maria sah ein rotseidenes Garibaldi-Hemd. Er atmete schwer, als sei vor seinen Augen eine Sünde geschehen.
Am Abend schon trug Martha das rote Jäckchen, das sie in einem Räumungsverkauf überraschend billig erstanden haben wollte.
Frau Lisbeth biß die Lippen aufeinander und schwieg.
Der Vater aber lachte und bewunderte Martha: »Die hat es weg!«
Karl Maria saß steinunglücklich und hatte Todesangst, daß jetzt etwas Furchtbares geschehen müsse.
Aber es geschah gar nichts.
Als er am nächsten Morgen alles der Miriam erzählte, lachte diese ihn aus: »Unser Jacques ist ein Lump.«
Doch Karl Maria wußte nicht einmal, was ein Lump sei. Er schämte sich bloß, daß er diesem Jacques seine Geige verdankte.
Die Miriam aber hüpfte durchs Gärtlein, flocht einen Kranz aus den gelben Löwenzahnblüten und drückte ihn ins Haar.
»Gib acht, Dummerl!« rief sie und tanzte vor ihm auf dem frühlingsgrünen Gras, wunderhübsch mit dem gelben Schmuck im goldhellen Haar. »So tanz' ich Mittwoch in der Oper im neuen Ballett. Meine erste Solopartie!«
Sie überschrie sich fast: »Und alle werden klatschen. Siehst du, so und so.«
Laut schlug sie die schmalen, festen Hände zusammen.
»Darf ich auch hin?«
Sie stand auf einem Bein, beschrieb mit dem anderen kunstvolle Kreise in der Luft, hielt den Kopf schief und dachte nach: »Hübsch wär's schon. Die Ermattinger könnte dich in die Künstlerloge nehmen.« Nach einer Weile aber entschied sie: »Nein, du bist noch zu klein. Später vielleicht.«
Karl Maria nickte betrübt. Die Welt war so groß, und er so klein. Wie eine schwere dunkle Wolke zog dieser Gedanke über ihn hin.
Später machte sich Miriam an ihren Bruder Jacques, blinzelte ihn von untenher an und fragte sanft: »Was bekomme ich geschenkt, wenn ich schweige?«
»Freches Ding!« brummte der Auslagenarrangeur und schob seine Krawatte zurecht.
»Mutter ist vielleicht neugierig, Jacques –.«
»Was weißt du denn schon wieder?«
»O, nichts.« Sie tat gekränkt und strebte nach der Küchentür.
Da packte er sie an beiden Armen: »Farbe bekennen, du Giftkröte!«
»Ist das Jäckchen wirklich so schön, Jacques?«
Er fixierte sie drohend, doch sie lachte nur.
»Hast du es teuer bezahlt?«
Er war wütend: »Ist eine Schachtel Bonbons genug?«
»Aber Schokolade mit süßer Füllung, das bitte ich mir aus!«
»Sollst sie haben, kleines Luderchen,« antwortete Jacques Italiener und überzählte in Gedanken seine knappe Barschaft. Sollte Martha geplaudert haben? Ach nein, die Miriam war ein Ekel, das in allen Ecken sich verbarg und einfach das Gras wachsen hörte. Das Häkchen krümmte sich beizeiten. Auch Jacques bewunderte das frühreife Kind, wie die ganze Familie Italiener.
Wie keck sie nur nach der kleinen Solopartie gehascht hatte!
Jacques mußte lachen. Aus dem Nichtsnutz konnte etwas werden. Der Ballettmeister hatte in der Übungsstunde gefragt, ob eines von den Kindern den Mut zu der Rolle im Ballett »Blaubart« hätte.
Alle schwiegen, nur die Miriam trat resolut vor: »Ich!«
Der Gewaltige lachte spöttisch: »Du Knirps? Unsinn.«
Die Miriam jedoch warf sich in Positur und fragte kurzerhand: »Was habe ich zu tun?«
Und jetzt sollte das siebenjährige Ding wirklich als kleinste Koryphäe die Kinderrolle tanzen. Jacques ward beinahe weich bei dem Gedanken. Die war kein Schlemihl.
Frau Charlottens Blick streifte in diesen Tagen oft in schlecht verhehlter Verachtung den armen Joseph, der nach seiner mißglückten Konzertreise nach Laibach im Operettenorchester untergekrochen und so aus dem ehemaligen Wunderkind ein richtiger Schlemihl geworden war. Frau Charlottens fette, aber energische Hände begruben die Hoffnung, die sie vor zehn Jahren an den ältesten Sohn gehängt, und bauten ein neues Haus für die kleine Miriam, die es so mutig mit dem Leben wagte. Voll Stolz besetzte die Mutter ihr gelbseidenes Festkleid mit schönen cremefarbenen Spitzen und erstand bei einer Nachbarin in der Judengasse ein paar elegante Schuhe, in die sie mutig ihren Fuß zwängte, als der bedeutungsvolle Abend da war.
Der starke Gideon mußte im Laden bleiben, weil der alte Isaak, der für die Firma Italiener abgelegte Kleider einkaufte, gern mehrere Schnäpse zu sich nahm und deshalb nicht ganz vertrauenswürdig erschien. Auch fürchtete Frau Charlotte, dem Herzblatt Miriam könnte Übles zustoßen, wenn ein solcher Tunichtgut wie ihr Eheherr, der sechs lebendige Kinder hatte und nun tatenlos in den blauen Himmel guckte, am Geburtstage von Miriams Ruhm mit dabei säße.
Joseph küßte die kleine Schwester. Ihm war ganz seltsam zumute. Vor zehn Jahren ging er hinaus wie heute die Miriam und lief dem Ruhme nach. Jetzt saß er tagsüber bei dem Vater im dunklen Laden und mußte abends die Geige streichen zu dem Blödsinn, der wie ein Mechanismus sich zum 150. Male abhaspelte. Der unbeholfene, schwere Mund des Joseph zog sich in bittere Falten: »Werd' glücklich. Kleine!«
Die Miriam aber blickte ungeduldig auf die alte Rokokouhr, die vorn im Laden stand.