Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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Der erste Akt von »Kabale und Liebe« war zu Ende. In der »Alhambra« gab es stets lange Pausen, weil der geschäftskundige Wirt diese Bedingung stellte, und gar erst an Sonntagen, wenn Kleinbürger und genußhungrige Dienstboten das winzige Theater füllten. Zuerst schlang man gruselige Tiraden und dann Speis und Trank hinab, wie es die Romantik der Vorstadt liebte. Schaler Bierdunst verdarb die Luft, es roch nach billiger Seife und allzu reichlich verwendetem Haaröl.

Die Gasflammen blakten nur trüb durch den stockigen Zigarrenrauch. Heiße Gesichter lehnten sich aneinander, Lippen, noch feucht vom Bierschaum, suchten sich in der knapp bemessenen Gier der freien Sonntagsstunden. Die Kellner schwenkten schmierige Servietten und balancierten Tellerreihen über vorsichtig geduckten Köpfen.

Vier Männer saßen an einem Tisch. Graf Forcade blinzelte mißtrauisch in diesen groben Lärm. Schweigend rauchte er seine Zigarre, deren feiner Duft sich in dem beizenden Qualm verlor, der überall aus schlechtem Kraut dampfte. Gelassen wartete er nach seiner Art und reihte diese seltsame Stunde als neues Wunder in seine Sammlung ein. Hier und da nur lächelte er, daß Renate just sein Kind war.

Achatz Rothenwolff hatte die Lippen eingekniffen und die Hände über dem Leib gefaltet. So starrte er geradeaus, wo an einem Tisch unter kichernden Ladenmädchen und Kommis ein dicker alter Mann in Allongeperücke und Tressenrock das laute Wort führte und sich von allen Seiten Freibier reichen ließ. Präsident von Walther stärkte sich zum schlimmen Handwerk.

Sir S. Lewis speiste gemächlich und wischte mit dem haarigen Handrücken den Bratensaft vom Munde. Verschmitzt guckte er von einem zum andern, als wüßte er allein um alle verworrene Buntheit des Lebens.

Philipp Emanuel blieb steif und verschlossen, die Arme vor der Brust verschränkt. Und so saß er dann auch ganz hinten, allein unter lautem Volk, das sich in der Dunkelheit vergnügt knuffte und stieß. Er lächelte geringschätzig über das aufgedonnerte Pathos, das plump und unecht über die Bühne polterte.

Plötzlich kam ein zorniger Schrei, schrill sich überschlagend und ganz allgemach versinkend. Philipp Emanuel schloß die Augen und schlang die Finger ineinander, als liebkoste er ein unsichtbares Ding. Er lächelte über diesen dummen Ferdinand, der Himmel und Hölle anrief und die glockenstarke Stimme der Lady Milford überschrie. Das Publikum aber klatschte entzückt in jede Tirade, die der junge Walther der Fürstenmaitresse an den Kopf schleuderte. Der Geheimrat blickte auf. Der Rausch der Worte fegte Renate vor sich her, nur manchmal stockte sie, wie in geheimem Widerstreben vor dieser starren Wucht, die jedes Gefühl überlebensgroß an die Wand warf. Unreif und unsicher flackerte es dann auf, ein Erwachen ganz von innen her, ein dunkles Erraten tief verborgener Seelenheimlichkeit. Da gab es plötzlich einen erschrockenen Blick, eine zornige Bewegung, die aus dem Augenblick kam, kaum erkennbar in dem schulmäßigen Abhaspeln der überhitzten Sätze. Schmerzliche Augen blickten aus dem geschminkten Kindergesicht, als wäre alles Erleben voll Scham und Widerwillen.

Mit einem seltsam andächtigen Lächeln saß Geheimrat Williguth vor Renates heißer und trotziger Kraft, die in dieser Spelunke auf roten Stöckelschuhen auf und ab trippelte, deren herber Kindermund Geheimnisse einer reifen Frau ausplauderte, daß jedes Wort grotesk und unwirklich schien. Und doch der einzige Mensch unter diesen bemalten und geputzten Puppen.

Philipp Emanuel lächelte jetzt beinahe grimmig. Ihm war diese irrlichternde Kulissenwelt fremd, er selbst hielt Gefühl und Wort unter Schloß und Riegel, wie alle Williguths. Unbehaglich bewegte er den Kopf und lauerte auf ein derbes Wort, das Renates halbnackte Schönheit beleidigen könnte. Und doch leuchtete es stolz und selbstbewußt in den kalten grauen Augen. Die da grub sich rechts und links den Weg ins Leben. Jetzt beneidete er Miriam Forcade um diese Tochter, die alle Hindernisse zerbrach. Grämlich saß er und hatte einen schalen Geschmack im Munde. Dann nickte er ganz langsam dem Musikus Miller zu, der mit dem Rohrstock Ordnung in seiner Familie schaffen wollte, wie Johann Sebastian Williguth vom »Blauen Herrgott«. Der alte Narr da rannte durchs Zimmer, tobte und schrie und griff doch ins Leere.

»Esel!« zischte der Geheimtat durch die Zähne. Er starrte auf die giftgrüne Bluse einer dicken Schlächtersfrau, die in breitem Behagen schnaufte, die Arme aufgestemmt. Vielleicht hatte die auch Kinder, die nichts taugten, plagte sich und schaffte doch nichts Rechtes.

Da kamen von der Bühne die Worte: »Friß aus, was du einbrocktest!« und trafen ihn wie ein Stoß vor die Brust.

In plötzlicher Angst stand er auf und drängte rücksichtslos zum Ausgang. Man schrie und schimpfte.

Jemand packte ihn am Arm: »Na, was sagst du?!«

Im schmalen, halbdunklen Gang glänzten Nikolaus Forcades frohe Kinderaugen: »Euphrosine! Könnte sie nicht Goethes kleine Freundin sein? Sie wird ihn niemals heiraten wollen, den guten Achatz.«

Unwillig legte Philipp Emanuel den Kopf zurück. Was gingen ihn diese fremden Menschen an? Er wollte heim.

Aber da fuchtelte Sir G. Lewis ihm schon mit den fetten, rotbehaarten Händen ins Gesicht. Er hörte gar nicht, was der alte Routinier sagte. Verdrossen blickte er weg.

Und da stand Renate, noch geschminkt, kaum zu erkennen, das Haar hoch aufgesteckt, in weißer Kontusche mit gelben Bandschleifen, gespreizt und steif auf den roten Hackenschuhen. Sie ließ die drei andern und kam gerade auf ihn zu, mit großen, etwas furchtsamen Augen.

Philipp Emanuel lächelte und strich gütig über die heißen Mädchenhände. Und jetzt blieb er, aus Furcht vor dem Wechsel zwischen hier und dort. Zweierlei Gesicht hatten die Dinge.

»Ja, die Renate,« sagte er mit etwas unwilliger Bewunderung und tippte spöttisch auf das herzförmige Schönheitspflästerchen, das kokett über ihrem Kinn saß.

Und dann war ein stummes Grüßen von ihm zu ihr.

Lewis schwang sein rotes Notizbuch: »Donnerwetter, Kleine, noch etwas auf die Hobelbank, – und dann – – –.«

Er schnippte Daumen und Zeigefinger durch die Luft, als zählte er Geld.

Renate blickte wie ein Kind, das auf einmal alle liebhaben. Dann ballte sie die Faust wider das unsichtbare Publikum: »Wartet nur!«

Stand straff und stolz, ein grausames Lächeln um den jungen Mund.

»Ich bin auch da,« murmelte Graf Forcade.

Aber sie hörte ihn nicht.

Philipp Emanuel ging allein durch die Märznacht. Die Bogenlampen hingen wie bläulichweiße Kürbisse in der nebelerfüllten Luft. Es war kalt, aber nirgends lag Schnee. An Baum und Strauch froren die Knospen. Der Geheimrat machte lange Schritte, als gälte es, die Freude dieses Abends lebendig heimzutragen. Schier traute er jetzt wieder seiner Kraft, Krummes gerade zu biegen. Dann zögerte er und stieß verdrossen den Stock auf. Seine Nerven mißtrauten dem Zwitter von Lenz und Winter rundum. Im Fontainengarten knirschte der Nachtfrost, verbrannte manche Hoffnung und ließ doch genug übrig. Die Erde war grämlich in ungeduldiger Fruchtbarkeit. Wie eine laue Welle schlich es manchmal durch das Dunkel, aber der Frost blieb Herr. Nur das Starke kam heil aus seiner Faust.

Mit einer ihm sonst fremden Bangnis zögerte Philipp Emanuel vor den hellen Fenstern seines Hauses. Er warf die Hand aus und sah darauf nieder, als wäge er Ja und Nein. Dann schob er den Drücker ins Schloß.

In der Halle stand Heinz, zum Ausgehen bereit. Scheu wich er zurück. Aber Philipp Emanuel streckte beide Hände hin: »Grüß Gott. Ich war bei Renate.«

Jetzt sah er Jakobe auf dem Treppenabsatz und nickte ihr zu. Er legte den Pelz auf den nächsten Stuhl und lehnte sich daran, in breiter, herrischer Gebelaune.

»Kannst stolz sein auf deine Schwester, Jakobe.«

Und er sprach in hellen, frohen Worten, wie lange nicht. Mit weit offenen, glänzenden Kinderaugen wartete Jakobe auf das Wunder zwischen Vater und Sohn.

Heinz aber verzog nur den Mund und schwieg.

Da fuhr schon Philipp Emanuels Hand zornig steil aufrecht: »An dir habe ich solche Freude nie erlebt.«

»Freilich,« antwortete der junge Williguth und ging ohne Gruß.

Ergeben, mit gesenkten Schultern, schritt Jakobe dem Geheimrat voraus. Dann horchten beide auf die Tritte, die draußen über den frostharten Boden liefen. Willenlos ließ Jakobe die Hände fallen und starrte geradeaus.

Er drehte den Kopf nach den Schatten, die lange gierige Hälse aus dem Korridor reckten, blickte zu Boden und sagte langsam: »Ich wollte – ich wollte heute früher heimkommen.«

Einen Augenblick stand er mit vorgestrecktem Kopf und horchte in die Stille.

Dann klang sein schwerer Schritt weit hinten im Korridor, und eine Tür fiel scharf ins Schloß.

 

Man schwieg an diesem Abend und schwieg am nächsten Tag, trotzdem in allen Augen die Angst stand. Heinz Williguth war nicht heimgekommen. Aber sie änderten nichts an ihrem Gleichmaß, sprachen von Alltagsdingen und versuchten sogar zu lächeln, als wäre alles in bester Ordnung. Jakobe schien heiter und wie immer, als ihr Vater kam, und nicht anders, als später Gundl Tredenius zwei Enkel zu Witte brachte und das Haus bald vom frohen Lärm der Kinder erfüllt war. Man verbarg hier alles eigene Erleben, in einem schmerzlichen Stolz, der mit großen runden Gebärden einherfuhr und ganz Würde und Zurückhaltung war. Die Williguths brauchten kein fremdes Mitleid.

Dann aber stand Flora Schirlitz in der Halle vor Frau Tredenius und winkte bedeutsam mit den verwaschenen Altweiberaugen. Vorsichtig blickte sie um sich und streckte plötzlich die knotigen Finger in steifer, schier automatenhafter Bewegung.

»Ich fürchte mich, gnädige Frau!«

Sie allein brach das Schweigen, das bei Geheimrat Williguth als ungeschriebenes Gesetz galt.

 

Abends spielten die zwei Frauen mit Philipp Emanuel Karten, in einer fast freudigen Hartnäckigkeit, weil beim Whist jedes unnütze Wort verboten war. Während die Karten fielen, horchten sie auf die tausend pochenden, haarfeinen Geräusche der Stille. Aus entfernten Zimmern kam langsam und metallen das Schlagen von Uhren und warf das kleine Maß der Viertelstunden in die große Angst.

Mit schlanken, schnellen Fingern raffte der Geheimrat die Stiche an sich, welche die Unaufmerksamkeit der Frauen ihm gab. Er hielt ein Blatt hoch: »Impaß mit dem Buben.«

»Trick,« antwortete die Schirlitz.

Und wieder horchten sie in die Stille. Nur die Karten klappten trocken und biegsam. Ein schlaffer und dumpfer Geruch von Kreide und bunter, glattgefalzter Pappe war in der Luft.

Pedantisch zählte Philipp Emanuel und teilte die Karten aus, die weggelegte Zigarre brannte ein zackiges Loch in das grüne Tuch. Jakobe und die Schirlitz stierten darauf hin, ohne zu sprechen oder sich zu rühren, bis er selbst das kleine Flämmchen ausdrückte, mit einem harten, ungeduldigen Ruck, der seine versteckte Unrast verriet. Kurz und rauh lachte er über seine Karten weg und funkelte die zwei Frauen schier drohend an, als wollte er jedem unzeitigen Wort halt gebieten.

Wieder kam das Ticken der Uhren aus fernen Zimmern in die große Stille.

Die bunten Blätter knisterten und fielen überschnell auf das grüne Tuch, und mit einemmal wußten alle drei, daß sie dem Spiel gar nicht mehr folgten, daß sie Herz zu Treff und Carreau zu Pique warfen. Ihre Augen hingen ineinander in einer stummen, maßlosen Furcht. In diesem Augenblick haßten sie sich, weil jeder vom andern vergeblich Hilfe erwartete.

Plötzlich schleuderte Jakobe ihre Karten hin: »Nicht atmen können wir bei dir! Jetzt ist es genug.«

Ihre Hände zuckten und griffen krampfig in die leere Luft.

Blaß und geduckt saß Flora Schirlitz und rechnete mechanisch mit steifen, dicken Ziffern.

Philipp Emanuel verzog den Mund, daß tiefe Falten zu den Winkeln gruben, rauchte aber stumm weiter, in einer verbissenen Starrheit, die immer noch durch Schweigen siegen wollte. In seinen Augen lauerte Spott über Jakobes ohnmächtigen Zorn. Weil er selbst immer auf der Wacht vor fremdem Zusammenbruch stand, beobachtete er auch sein eigenes Erleben mit eiskalter Zurückhaltung, mit einer verwunderten, schwerfälligen Neugierde, ob das Schicksal, an dessen Unerbittlichkeit er blind glaubte, jetzt auch an ihn herantrat. Er schien meilenfern von dem schweren Willen dieser Stunde.

Jakobe aber schlug die Fäuste vor die Brust und kam ins Schreien, wie ein Tier, das plötzlich aus dem Käfig bricht: »Bitten will ich ihn, daß er mit mir aus deinem Hause geht.«

Höhnisch blickte er ihr gerade ins Gesicht: »Du kommst spät, Jakobe Williguth!«

Er schob langsam die Karten zusammen, in erzwungener Gleichgültigkeit.

Jakobe lehnte sich weit über den Tisch: »Warum hilfst denn du nicht?«

Ihre Stimme überschlug sich in einem schrillen Lachen.

Er legte bedächtig die Hände ineinander: »Laß das meine Sache sein!«

Und sah sie lange an. Verdrießlich wandte er dann den Kopf.

Stockend, mit geduckter Furcht, in der schon wieder die alte Hilflosigkeit war, fragte sie jetzt: »Glaubst du, daß er überhaupt kommt?«

»Wie?«

Ärgerlich fuhr er auf und warf die Hände hoch. In seinen Augen stand ein jähes Grauen. Er war am Ende seiner herrischen Gelassenheit. Mit schwerem Ernst wies er zur Tür: »Geht, das ist keine Weibersache!«

Gleich aber eilte er Jakobe nach und faßte ihre Hand: »Du mußt nicht denken, daß ich heute mit dir rechten will, Kind, ich weiß ganz gut – – –.«

Da brach ihm die Stimme.

»Geht, so geht doch!«

Mit angstvollen Augen blickte Jakobe zurück. In stiller Bitte tasteten ihre Finger.

»Kannst du uns nicht helfen?«

Es klang wie Kinderweinen.

Langsam kreuzte er die Arme vor der Brust und sagte voll widerstrebender Milde: »Er kommt, du kannst ruhig schlafengehen. Und dann, dann will ich mit ihm sprechen, morgen, wenn alle Dinge heller scheinen. Aber ich allein muß es tun. Es liegt nur zwischen ihm und mir.«

Und dann in schwer verhaltenem Groll: »Irgendwo muß doch der Williguth auch in meinem Sohn stecken. Nur finden mußt du es mich lassen.«

Müde, mit gesenkten Schultern, stand Jakobe, bereit, alle seine Gesetze wieder auf sich zu nehmen.

»Genug jetzt,« schloß er mit einem ganz leisen Lächeln in seiner tiefen Stimme, »du sollst uns morgen den Abend heiter machen.«

Johann Sebastian stieß den Sessel zurück und hieb mit der Faust auf den hübsch gedeckten Kaffeetisch, daß Frau Apollonias gute weiße Tassen mit dem blauen Zwiebelmuster in klirrendes Tanzen kamen.

»Wir erwarten es von dir, Philipp Emanuel.«

Puterrot wie ein Kampfhahn stand er dem Geheimrat gegenüber, seine zornigen kugelrunden Augen suchten unwillkürlich nach dem Rohrstock in der Ecke.

Hochmütig legte Philipp Emanuel den Kopf zurück und blickte mit verstecktem Spott von einem zum andern. Da saßen seine Brüder und Gundl Tredenius, breit und gewichtig, hatten die Arme aufgestemmt und das gewalttätige Kinn vorgeschoben. Er reckte sich auf. In uralte Zeiten, da der Vater über Leben und Tod der Kinder entschied, schien dieser Williguth zu wachsen, der Stärkste und Trotzigste unter diesem starken und trotzigen Volk.

»Was wisset ihr alle von ihm und mir?«

Seine Schwester Gundl hob die ruhigen blauen Augen: »Du hast ja selbst Angst, Philipp.«

Der Superintendent faltete nachdenklich die Hände und schaute darüber in das Flackern der Glut im grünen Kachelofen: »Auch mein lieber Eidam Schückedanz ist voll Unruhe um Heinz. Bedenke dich, Philipp Emanuel! ›Denn der Reiche kommt um mit großem Jammer, und so er einen Sohn gezeugt hat, dem bleibt nichts in der Hand.‹«

Johann Sebastian aber winkte würdig mit der welken Greisenhand, als gebührte ihm allein das Wort in dieser ernsten und beschwerlichen Sache: »Wir haben dich kommen lassen, damit wir ratschlagen, was am besten zu geschehen habe.«

Sie nickten alle, in unwilliger Verwunderung, daß so etwas in ihrer Familie notwendig war, und rückten enger um den Tisch. Der Geheimrat aber ging schweigend im Zimmer auf und nieder, aus einer Ecke in die andere, die Hände auf dem Rücken, und hatte ein grimmiges Lächeln um den Mund. Dann kreuzte er die Arme und stieß die Worte wie Steine: »Es gibt Dinge, die notwendig geschehen müssen.«

Hart und eckig stand er vor ihnen, in einer Grausamkeit, die ihm aus seinem Handwerk kam.

»Mit Bibelworten wird da recht wenig getan. Habe ich nicht sein Treiben gedeckt vor euch allen? War ich nicht fein stille um der guten Ruhe willen?«

Da warf Gundl ärgerlich die Hände durch die Luft, wie sonst der Geheimrat: »Aber du hast ihn nie von Herzen liebgehabt.«

Und zornig gab er die Antwort: »Ich bin nicht schwach genug für einen schwachen Sohn.«

Alle die grauen und blauen Augen der Williguths leuchteten ihm jetzt entgegen, in einer unausgesprochenen, starken Einigkeit ihres Wesens, und gaben ihm recht. Giacomo aber, der alle Dinge dieser Welt mit Griff und Kniff zu behandeln gewohnt war, stützte den klobigen Kopf in beide Fäuste, als spähte er nach einem letzten Ausweg.

Über die nachdenklich geneigten Gesichter der Männer ging Philipp Emanuels kurzes, verächtliches Lachen.

Bekümmert rückte Johann Sebastian das schwarze Samtkäppchen zurecht: »Man ist zu alt für allerlei Dinge und weiß es nicht.«

Und er hielt die Tasse zu frischer Füllung hin, aber Apollonia schob seine Hand zurück und trommelte mit zornigen Fingern auf den Tisch: »Ihr schwatzt alle nur Unsinn, ihr Männer.«

Und sie lächelte breit und siegessicher als eine Frau, die zwölf Kinder geboren und in allerlei Fährlichkeit zu wetterstarkem Volk erzogen hatte.

»Ja, Philipp Emanuel, du zuerst. Alles ist einfach und leicht zum Guten, wenn man nur richtig zupackt. Lies ihm tüchtig die Leviten und dann sieh' zu, daß er endlich mal an die Krippe kommt! Was kann denn so Großes an einem Haufen beschriebenen Papiers sein? Oft und oft habe ich dir bei deinen Schularbeiten geholfen, wenn du dahocktest und den Federstiel zwischen den Zähnen zerkautest. Und dein Junge hat ja schon einen dicken Stoß Papier verkritzelt, und wenn das nun noch immer nicht genug sein soll, gut, so mache du selbst ihm jetzt die Arbeit. Ist da so viel dabei? Vater und Sohn, das ist doch ganz einerlei.«

Vergnügt stimmte Giacomo ein: »Bravo, Mutter, so ist's!«

Die andern aber schwiegen.

Der Geheimrat hielt die Zigarre zwischen den Zähnen, stieß in schnellen Zügen den Rauch aus und zwinkerte spöttisch aus den kalten grauen Augen.

»Und wenn ich es tue – – –.«

Er brach ab und stampfte auf.

Johann Sebastian aber wandelte würdevoll auf Apollonia zu, küßte die unwillig und geschmeichelt Abwehrende auf den Mund und sagte stolz: »Ja, meine Affi, die hat es weg.«

Die Williguths lachten ihr herrisches und selbstbewußtes Lachen, in dem noch ganz zu unterst heimliche Sorge mitklang, und stießen mit lauten und zuversichtlichen Gebärden das hartnäckige Schweigen des Geheimrats von sich.

Johann Sebastian sah stirnrunzelnd rundum und fragte gemessen, wie ein Patriarch, der unbedingten Gehorsam erwartet: »Nun, Philipp Emanuel?«

Und bleckte zur Warnung seine drei letzten Zähne wider einem möglichen Widerspruch.

Der Superintendent trat langsam auf seinen Bruder zu und legte ihm die griffesten Hände auf die Schultern: »Mache deinen Stolz klein und reiße keinen Sparren aus dem Dach unseres Hauses!«

Eigensinnig sah er ihm ins Gesicht und wartete wie ein Gläubiger, mit der ein wenig angestrengten und lauschenden Kopfhaltung, hinter der er seine leichte Taubheit verdeckte.

Philipp Emanuel aber starrte über alle weg, hatte die Brauen zusammengeschoben und die Hände zu Fäusten geballt. Ein gewalttätiges Zucken lief um seinen Mund. Dann sagte er schwer und abwägend: »Ihr wisset nicht, was ihr da verlangt.«

Und er gab keine Antwort mehr, so sehr sie drängten und forderten, in der angeborenen Sucht, alle widerstrebenden Dinge nach ihrem Willen zu biegen. Als er mit Karl Maria Tredenius durch den Nebel schritt, der wie ein Leichentuch auf der Heide lag, wandte er den Kopf. Als lichte scharfe Vierecke blinkten die Scheiben des »Blauen Herrgott«, als füllte ein zuversichtlicher Glanz das Innere. Hinter der weißen Wand rollte der Lärm der Stadt als dumpfes Brausen. Im Nebel aber wühlte ein lauer Märzwind, riß formlose Ballen los und baute da und dort. Am Himmel rannten graue Sturmwolken unter den Fauststößen des Windes. Ein starkes Rauschen war über aller Welt, wie wenn alles abbricht und Neues ins Leben fährt.

Der Geheimrat streckte verdrossen die Hand zum Himmel: »Da glauben sie mit Worten alles zu richten und zu renken, und es sitzt doch tief drinnen, wohin keiner blickt.«

Der Wind warf seine Worte in den Nebel.

Tredenius tat einen schnellen Blick nach Philipp Emanuel. Der schien erregt und in mißtrauischer Erwartung, machte zögernde Schritte und hatte noch immer das Zucken um den Mund.

Dicht spann das brodelnde Weiß um die beiden Männer.

Der Geheimrat schlug den Rockkragen hoch: »Man riecht und schmeckt dies ekle Zeug. Ich liebe diese verhängten grauen Tage nicht. Leicht geht einer am andern vorüber und sieht ihn nicht.«

In seiner Stimme war eine unerfüllte Sehnsucht. Dann preßte er Karl Marias Hände mit zorniger Heftigkeit: »Warum greift ihr über die Grenzen meiner Art?«

Ein feines Rieseln und Rinnen ging hinter der weißen Wand, warm wehte der Wind, überall brach der Frost. Des Frühlings Vorhut stand im Kampf.

Beim Abschied sagte der Geheimrat: »Schicke bald deine Enkelkinder zu Witte und Elias! Es freut mich, wenn junges Volk in meinem Hause tollt!«

Grämlich blickte er geradeaus.

 

In der Halle stand Flora Schirlitz.

Philipp Emanuel schloß die Tür vor dem nachdrängenden Nebel und hatte ein schnelles Suchen in den Augen.

Die Schirlitz neigte den Kopf, als legte dieser Blick eine unsichtbare Last auf ihre Schultern: »Der Herr Doktor war da und ist wieder fortgegangen.«

Sie zwang sich zu einem zuversichtlichen Alltagslächeln.

»Wenn mein Sohn kommt, sagen Sie ihm, daß ich ihn erwarte.«

Es klang kalt und beherrscht wie immer.

Simon Gottesdank schnupperte mißvergnügt um die Ecke und wies mit dem Daumen dem Geheimrat nach: »Was hat der Alte?«

Die Hausdame setzte sich steif in einen roten Korbsessel und glättete das Kleid mit knotigen Fingern, dann richtete sie ihre farblosen Augen starr und abweisend auf den alten Schwätzer.

Aber der zündete eine Zigarre an und blies verächtlich den Rauch von sich: »Merkt Sie was, Frau Pastor? Die Jakobe mit den Buben bei den Eltern, der Alte da droben wartet, und der Junge kommt zwei Tage nicht heim. Tja!«

Die Schirlitz gab keine Antwort, nur in ihrem Blick stand die Angst von gestern abend.

Langsam und bedächtig schritt Philipp Emanuel durch die Zimmer seines Sohnes. Unter gefurchten Brauen gingen die Augen ruhelos auf und ab. Dann lächelte er trotzig und bohrte die Fäuste in die Taschen, als versteckte er seinen Zorn. Mit einem Ruck warf er den Kopf hoch. Jetzt war er stark genug, widerwilligen Dingen Zwang zu tun.

Er holte die Papiere und Zeichnungen zu seiner eigenen, unvollendeten Jugendarbeit, die Heinz achtlos hatte liegenlassen. Noch immer saß das grimmige Lächeln um Philipp Emanuels Mund. Die Blätter knisterten, als widerstrebten sie seinem Griff. Er aber ordnete und sichtete und kritzelte Anmerkungen an den Rand, um alles nur rasch in Lauf zu bringen, vergrub sich mit verbissener Hartnäckigkeit in seinen Zweck.

Als er dann in der Schreibmappe kramte, lagen zwei Briefe vor ihm. Er atmete schnell und lehnte sich abweisend zurück, strich mit zitternden Fingern über die Stirn und lächelte über seine plötzliche Angst. Zögernd streckte er die Hand und zog sie wieder zurück, starrte nur aus kalten grauen Augen auf die zwei Umschläge, die an ihn und an Aurelius Schückedanz gerichtet waren.

Dann las er.

Falten schnitten zu den Mundwinkeln, der Unterkiefer sank ruckweise herab.

Einer riß die Tür auf.

Philipp Emanuel bog den Kopf und saß wie zum Sprung. So fragte er langsam: »Wo?«

Und blickte mit steinerner Ruhe Schückedanz in das verzerrte Gesicht.

Der schaute wie ein treuer Hund, der seinem Herrn alles Schwere tragen hilft: »Ein Unfall – im Nebel –.«

Philipp Emanuel blieb starr und unbewegt: »Das mag für die andern gelten, zwischen uns aber braucht es keiner Lüge.«

Er zog mit der Hand eine herrische Gebärde, steckte die zwei Briefe zu sich, ohne sie Schückedanz zu zeigen, und knöpfte langsam den Rock zu, nur um seinen Fingern zu tun zu geben und so ihr Zittern zu verbergen.

Und dann, beinahe zornig: »Man schweige!«

 


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