Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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Tauwetter rann und tropfte im Fontainengarten. Nasse schwarze Stämme spiegelten sich in kleinen Teichen, die hell und rund aus weichem, verrußtem Schnee blitzten. Nur hoch oben im Astwerk saß noch ein wenig wolliges Weiß. Dünner Nebel stieg von dem vielen Naß zur warmen Wintersonne, Spatzen und Stare schirpten und lärmten, von der feuchten, dunklen Erde kam ein herbes Duften, als wollte es Frühling werden. Schokoladefarbener Schmutz überzog die Wege. Aber im Westen lauerten große, runde Schneewolken und rückten langsam vor am blassen blauen Februarhimmel. Der Strom war grau und polterte mit weißbraunen Schollen. Von den feinen blaßgrünen Türmen und den mächtigen schwarzen Kuppeln der Stadt waren die schweren Schneedecken tief herabgeglitten. Große und kleine Tropfen klatschten verdrossen nieder und sprangen lustig wieder hoch. In den vielen Lachen lag der Himmel wie blaues Glas.

Witte und Boabdil nahmen dem lieben Gott dies Tauwetter sehr übel, der Bub wegen der zerstörten Eisbahn, der Hund, weil jeder seine ewig schmutzigen Pfoten mit häßlichen Reibetüchern verfolgte. In ihrem Mißvergnügen stifteten die zwei wenig Nutzen. Jakobe hatte ihre liebe Not. Zudem war der Geheimrat gereizt und verschlossen, denn Heinz wich ihm aus, wo er nur konnte. Simon Gottesdank schüttelte den Fuchskopf und zog die Schirlitz in allerlei dunkle Winkel zu vertraulicher Mitteilung. Die graue Maus huschte wieder.

Philipp Emanuel Williguth machte seinen Morgenspaziergang. Scharf stampfte er auf, daß unter der dünnen Eishaut der Nacht das Wasser hochfuhr. Von den Hängen sickerten schmale Wässerlein, überall begann ein Rinnen und Rieseln, als die Sonne sich über den knofpenstarren Ästen hochhob. In lichthellen Winkeln stand das erste Grün. Winterlenz ging durchs Land.

Aber die großen grauen Augen Philipp Emanuels schauten verdrießlich in diese vorschnelle Geschäftigkeit. Der Frost hatte an einer uralten Linde die Borke gesprengt, daß der lichte Bast wie nacktes Fleisch aus Lumpen klaffte. Der Geheimrat stieß den Stock in den Spalt, wie in dumpfem Zorn, der blind anspringt. Um den Mund stand ein grimmiges Lächeln. Sein Wille griff jetzt rechts und links daneben. Grämlich hockte sein Junge im Haus und kapselte sich immer mehr in widerwillige Einsamkeit ein. Er tat knapp, was man von ihm verlangte, und verkroch sich gleich wieder in trotziges Schweigen, aus dem er mit seinem schwertscharfen Spott hervorstach, wenn man ihn aufrütteln wollte.

Philipp Emanuel trug das erste Grau an den Schläfen. Nachdenklich und vergrämt stand er in der blinzelnden Sonne und hörte das seine Lautwerden, das dem Frühling vorauslief.

Plötzlich zog er die Brauen hoch. Dort drüben saß ein seltsames Paar, die Knie hochgezogen, daß die Füße im Trockenen blieben, darunter gluckste das Schneewasser. Von den triefenden Bäumen fielen dicke Tropfen. Nikolaus Forcade schwang Renates schwere, unordentlich gepackte Schultasche zum Gruß und zog den schmalen Mund zu einem verlegenen Lächeln. Renate sprang auf und warf den Kopf zurück. Der Geheimrat schmunzelte und freute sich, daß er so bequem aus seinen dunklen Gedanken kam.

»Seid ihr beide verrückt?«

»Nicht ganz,« antwortete Forcade und strich die Tropfen aus seinem Bart.

Jung und stark stand Renate in der bleichen Sonne, ein schäbiges Pelzmützchen mit verblaßtem Veilchentuff flott in die Stirn gerückt, in einem alten dunkelblauen, längst wieder bedenklich kurzen Winterkleid, und warf vergnügt wässerige Schneebrocken nach den Baumstämmen. Die Augen hatte sie halb eingekniffen und überließ dem Vater das Wort. Wie eine große Katze streckte und reckte sie sich und stieß die hohen, sehr hellgelben Schnürstiefel in den braunen Brei.

Philipp Emanuel stützte sich auf den Stock: »Was treibt ihr da für Heimlichkeiten?«

Nikolaus Forcade legte den Kopf nachdenklich gegen die linke Achsel und seufzte: »Man hat sie aus der Schule gejagt.«

»Sieh' mal an!« lachte der Geheimrat breit und behaglich und hatte plötzlich Freude an diesem voreiligen Frühling.

»Das heimliche Theaterspielen wollten sie nicht leiden. Und frech ist sie auch gewesen.«

Behutsam baute er Wort an Wort und wartete dann auf Philipp Emanuels zorniges Besserwissen. Aber der blickte nur nachdenklich und legte sich fest auf den Stock.

»Und die Miriam?«

»Ja, siehst du, die Mama! Ihretwegen sitzen wir hier in der Nässe. Aber was willst du? Du kennst sie ja. Da führe ich eben das Kind in den scheußlichen Schulkleidern täglich vier Stunden spazieren. Leicht ist es gerade nicht!«

»Ich habe meinen Jungen anders kurz gehalten.«

»Freilich,« sagte Nikolaus Forcade ganz langsam und blickte dem Geheimrat fest in die Augen. Der wandte ungeduldig den Kopf: »Ja, die Renate!«

Und er lächelte ihr zu.

»Hat das dumme kleine Mädel auch schon Sorgen! Na, zum Glück sind es noch lauter Sorgen mit Goldrändchen!«

Er saß auf der Bank und stemmte den Stock zwischen die Knie. Dicke Knospen hockten an allen Astenden, und darunter stand Renate Forcade. Mit einem ganz weichen Lächeln, das allen an ihm fremd war, sagte er jetzt: »In acht Tagen ist Ball bei mir. Friedemanns Genesung wollen wir feiern. Da kommst du doch, Renate?«

Frohe Augen dankten ihm.

Forcade aber biß die Lippen und schüttelte bedenklich das philosophische Haupt: »Du lieber Gott, das auch noch.«

Scharf sprang ihm da Philipp Emanuels Stimme entgegen: »Freue dich doch! Die weiß, was sie will.«

Und sein Arm zeichnete einen großen Kreis, als wollte er allen Zweiflern zeigen, wie man sich durchsetzte.

 

Überall im Hause polierte man die Möbel, bohnte das Parkett und steckte frische Vorhänge auf. Die Schlüssel der Schirlitz rasselten treppauf, treppab. Selbst der Geheimrat griff mit an und wischte den Staub von den alten dunklen Holländern in den sonst versperrten Zimmern des Stockwerks. Diese frohe Geschäftigkeit machte seine Augen wieder blank. Er streckte die Hände und rückte aller Unordnung zuleib, nickte Jakobe zu und blinzelte schalkhaft.

Und einmal sagte er plötzlich: »Das ist alles für Heinz. Jetzt schiebe ich ihn ins Licht vor den Williguths und aller Welt.«

Aber sie gab das Lachen nicht zurück.

Da trieb er zornig einen lockeren Nagel tief in die Wand, hob das Bild des Johann Ambrosius Williguth ab und trug es stolz und besitzfreudig ins Speisezimmer, wo es für den Ball dem Apothekenschild aus Quedlinburg gegenüber Platz finden sollte. In der kurzen Hausjoppe stand er auf der Leiter und schwang den Hammer, dann hängte er sich an den Haken und prüfte die Festigkeit. Plötzlich kam er ins Wanken, glitt aus und stürzte samt der Leiter zu Boden.

Jakobe rannte schreiend hinaus und traf auf Heinz, der gelassen und faul Zigarrenkisten durcheinander schob. Sie lallte nur und griff in die Luft, packte ihn am Arm und zerrte ihn mit sich.

Ein rasches Licht sprang in seine Augen.

»Er wird doch nicht – – –.«

Er preßte das Kinn vor. Aber es war keine Angst in seinem Blick.

Wie von einem Mörder wandte sie sich ab. Mit schleppenden Schritten ging sie zum Vater und versuchte den Arm unter seine Schulter zu schieben.

Heinz Williguth stand in der Tür, die Fäuste gegen die Pfosten gestemmt, den Kopf vorgestreckt, schwer atmend, mit einem starren Zug, der fast ein Lachen war. Ein häßliches, feiges Lauern, schlimmer als Haß, saß um den Mund und in den halb furchtsam eingekniffenen Augen.

Weich strich Jakobes Hand über Philipp Emanuels Stirn. Zage Tränen tropften darauf nieder. Jetzt gab sie Heinz Williguth auf und wußte, daß sie es tat. Herrisch wie nach Simon Gottesdank wandte sie den Kopf.

Da sagte er feig, mit lässiger, nüchterner Alltagstimme: »Es wird doch nichts Schlimmes sein?«

Und griff endlich zu.

Mit einem Ruck richtete sich der Geheimrat auf, öffnete weit und erstaunt die Augen, blinzelte im Licht und murmelte: »Es ist nichts, Kinder.«

Er streckte die Arme, die Hände hatte er blutig von zerspelltem Holz und eine Beule auf der Stirn.

Jakobe beugte sich, wie man sich verschenkt, und küßte seine Hände.

»Aber Frauchen, liebes, ich bin ja ganz heil.«

»Gott sei Dank, Papa!«

Und Heinz hatte ein steifes Lächeln im Gesicht.

 

Gundl Tredenius schälte die weißen Schultern aus dem Pelz und ordnete das Haar vor dem hohen Wandspiegel. Die runden Gesichter ihrer Töchter standen neben ihr im Glas. Simon Gottesdank schmunzelte zufrieden. Er hatte Sinn für Frauenschönheit. Seine Hand öffnete und schloß sich in froher Erwartung der Trinkgelder.

Feiner Duft stieg von der nackten Haut der Frauen, Schleppen fegten über die roten Teppiche und streiften das Grün der Blattpflanzen. Feierlich wartete das Haus in lichter Pracht.

Auf der Treppe stand der Geheimrat und trug alle Würde der Williguths. Neben ihm Jakobe, in ihrer schlanken, sicheren Schönheit, die wie Licht durch Schleier schimmerte. Heinz aber war nicht da.

Und die ganze Familie wußte doch, daß der Ball nur dem jungen Williguth galt, der Friedemann vor dem Tod gerettet hatte. Es war kein kleiner Tag für das ehrgeizige Volk. Breit und wuchtig füllten sie die Zimmer und neigten huldvoll und abwartend die Köpfe, wenn einer herantrat, der nicht zu ihnen gehörte. Im Kreise umstanden sie Friedemann Williguth, ihre Augen leuchteten vor Stolz. Nur die drei Töchter des Superintendenten, in der strengen Einsamkeit des Pfarrhauses aufgewachsen, guckten scheu in das viele Licht und freuten sich doch in schamhafter Heimlichkeit über ihr nacktes junges Fleisch. In hochmögender Würde saßen Johann Sebastian und sein Weib, erspähten alles Ungewohnte und lobten und tadelten mit vernehmlichen Stimmen. Die erst halbflüggen Mädchen Robert Williguths brachten ihnen Naschwerk und Wein. Die sommersprossige Jüngste zog mißmutig die Spitzen über die mageren Schultern hoch und setzte vorsichtig die plumpen Füße auf das glatte Parkett.

Giacomos derbes Lachen ließ die jungen Frauen erröten und hinter ihren Fächern kichern. Friedemann drohte lustig mit dem Finger und verbarg geschickt seine leichte Taubheit, nebst der schönen braunen Perücke das einzige, was noch an die schlimme Krankheit mahnte. Und der Kardinal Eusebio, der über Albines bescheidenen Reizen heute ein ganz absonderliches rundes Schulterkrägelchen sittig feststecken mußte, sah steif und hochmütig aus grauen, verlebten Augen.

Wie ein Pfau schlug Miriam Forcade das Rad ihrer Eitelkeit. Sie war wieder einmal unheimlich jung. Ihre überreife Fülle lag frei vor allen Augen. Lässig ließ sie die Achselbänder gleiten und zwang die Blicke der Männer zu sich. In einem jammervollen Tanzstundenfähnchen saß Renate gelangweilt mitten unter den Backfischen. Ihre Augen funkelten vor Zorn.

Scharfgeschnittene Gelehrtenköpfe tauchten auf und steuerten eilig einer ruhigen Ecke zu. Im Stockwerk waren Spielzimmer eingerichtet und kleine Tische gedeckt. Dort hockte das Alter und teilte harterworbene Weisheit aus.

Aurelius Schückedanz aber machte große runde Augen und kam nicht los von Friedemanns blonden Töchtern, die wie junge Riesinnen über ihn wegragten. Schier hochzeitlich rumorte es in seinem Herzen. Er schwitzte arg und wechselte immer wieder in der Garderobe den Hemdkragen. Allzuschnell hüpfte sein Blut.

Dann neigten sich alle Köpfe vor dem Prinzen Elias, der geradewegs auf Heinz Williguth zuschritt und ihm kräftig die Hand schüttelte.

»Ganz der Papa.«

Ein steinernes Lächeln dankte ihm.

Da setzte die Musik ein, und der Tanz schwang biegsam und heimlich rauschend seine Kreise. Jakobe und Heinz traten als erstes Paar an, so wollte es der Geheimrat. Dann kam Miriam mit Karl Maria Tredenius, ihre Augen blitzten in wiedergewonnener Jugend. Ihre Leiber preßten sich aneinander, wie im Kampf um eine gemeinsame Sache. Nikolaus Forcade strich langsam den spitzgeschnittenen Bart und kniff die Augen ein. Gutmütig und belustigt gönnte er ihnen alles Glück.

Renate wies einen dicken, rotwangigen Williguth zurück und blieb ein Mauerblümchen. Und dachte voll Bitterkeit an die krampfhafte Jugend ihrer Mutter. Leise glitt ihre Hand über ihr junges Fleisch, und da lächelte sie plötzlich.

Miriam aber wußte nicht, war sie fast Fünfzig oder Fünfzehn. Sie war allein mit Karl Maria, fern von aller Welt, und hatte alles vergessen. Ihr Atem ging knapp, aber sie tanzte. Das Leben lief in lieben Wellen.

Margaret Williguth, Friedemanns Älteste, schwang den Fächer mit Elefantengrazie. Das fromme Türkisenkreuz schaukelte auf der weißen Brust. Klug prüften die grauen Williguthaugen den kleinen Schückedanz und hüllten ihn gleichsam in eine Wolke von Vertraulichkeit.

Verwundert und glückselig blickte er auf das starke blonde Mädchen, das an ihm Gefallen fand. Langsam erwachte seine Eitelkeit. Er blies die dicken Backen auf und sagte plump: »In Marburg ist eine Professur frei. Und der Geheimrat wünscht, daß ich annehme.«

Die Lider der Williguthtochter schlugen schneller, es zuckte vergnügt um den schweren Mund.

»Ach!«

Verschämt und habgierig maß ihr Blick den künftigen Ordinarius.

»Es ist nicht leicht für mich. Das ist kein alter Rock, den man ablegt.«

Unschlüssig trat er von einem Fuß auf den andern. Da sah sie unzufrieden über ihn weg. Verschreckt zog seine Junggesellenscheu die Fühler ein. Es war nach Tante Sabine die erste Frau, die sich wirklich um ihn bekümmerte. Lau blies der Tauwind übers Land, das Lenzen wollte kein Ende finden. Er seufzte und schielte nach dem Türkisenkreuz auf der ruhig atmenden weißen Brust, dann tat er alle Türen auf: »Der Chef will mich jetzt forthaben.«

»Warum?«

Unentwegt marschierte sie auf ihr heimliches Ziel los. Die Frauen ihrer Sippe wählten ihre Männer selbst und hatten keine Scheu.

»Es ist wegen Heinz.«

Da fiel eine derbe Hand auf seine Schulter, und Philipp Emanuel sagte mit leichtem Spott: »Ja, Margaret, meinen Schückedanz hier kann ich dir bestens empfehlen. Und Ordinarius wird er nun auch.«

In Wort und Bewegung lag ein zorniges Beiseitestellen. Und Aurelius wußte, warum.

Friedemanns Tochter saß still und nachdenklich und ließ den Fächer in Ruhe. Schückedanz bettelte mit den Augen, wie ein geprügelter Hund, aber Philipp Emanuel zog boshaft den Mund krumm. Er war ein harter Mann, wenn seine heimlichen Wünsche unerfüllt blieben. Mit kalter Stimme sagte er: »Man geht bald zu Tische. Vielleicht sehen Sie mal nach, lieber Schückedanz, wo Heinz wieder steckt. Er soll heute neben Bruder Friedemann sitzen.«

Er kniff die Augen und schob die Brauen steil, voll Angst, selbst zu suchen. Aurelius verbeugte sich in gekränkter Manneswürde und ging. Er war kein starker Mensch und trug das Schicksal dieses Hauses als schwere Last. Kerzen flackerten in seinen Weg, Puderstaub hing in der Luft, Lachen und Schwatzen sprang hinter ihm drein, und er allein wußte: alles war Lüge. Aber wie alle Jahre tat er auch jetzt seine Pflicht.

Durch ein offenes Fenster brach der Föhn und drückte die Kerzenflammen schief. In einer Herrengruppe plauderte Jakobe Williguth. Der Wind zauste ihr Haar. Schückedanz zögerte, wie einer, der überall Hilfe sucht. Sie wandte den Kopf und lächelte ihm zu.

Da war er schon in der Halle. Vor einer Zigarrenkiste hockte der alte Professor der Chirurgie, der alle Kliniken unsicher machte, und qualmte behaglich. Die dürre Greisenhand zerteilte den Rauch, zwei gekrümmte Finger winkten eifrig. Ein schadenfrohes Grinsen gab die zahnlosen Kiefer frei: »Was macht ihr jetzt mit dem jungen Williguth?«

Schückedanz wurde rot vor Zorn. Dann hatte er das spöttische Kichern im Rücken. Wieder brach der Föhn an die Fenster und sprang pfauchend zurück. Der vorzeitige Frühling klopfte an das Haus Williguth und an Schückedanz' bisher so gelassenes Herz. Verwirrt stand er auf einmal vor der Entscheidung über sein eigenes Schicksal. Er tat einen langen Blick rundum, zaudernd und schwermütig. Philipp Emanuel stieß ihn von sich. Er war und blieb eben ein Jammerkerl und begriff nicht, daß ein Mensch ihm so liebe Worte gab, wie Margaret Williguth. Aus einem Winkel kam der schwere Duft von Hyazinthen. Scheu schlich er zu und streichelte die kühlen, prallen Blütenschäfte.

Plötzlich aber setzte er die Lippen knapp und warf den Kopf zurück. Ja, er wollte fort, aber nicht allein.

Und er suchte jetzt nach Heinz Williguth. Türen klappten auf und zu, dann horchte er.

Glas klirrte, ein Kork knallte. Im Schlafzimmer stand Heinz Williguth vor einem offenen Schrank und kippte gerade einen Benediktiner in die Kehle. Da gab es breite und schlanke, bunt etikettierte Flaschen in Reih und Glied.

Jetzt griff er wieder zu und trank.

Schückedanz stieß heftig den Fuß auf.

»Ach, du kommst mir Gesellschaft leisten?«

Er warf die Hand hinter sich: »Ganz prächtige Kerle! Womit kann ich dienen?«

Aber heute gelang es ihm nicht, den kleinen Aurelius einzuschüchtern, ihn mit rollenden Worten in sein Schneckenhaus zurückzujagen. Zuviel Helligkeit war heute in Schückedanz. Zornig hieb er auf den Tisch: »Rechtfertige dich!« Und erschrak selbst vor soviel Entschlossenheit.

Der junge Williguth schlenkerte komödiantenhaft mit den Armen, das Hin und Her seiner Schwäche brannte im Blick.

»Ich mag nicht da oben sein, als Galapferd für einen Abend!«

Er lachte wie ein trotziges Kind.

Ein Walzer schwirrte durchs Haus. Ein feines Klingen sang in den Flaschen. Um Heinz' Mund lag mißtrauisches Lauern: »Warum will er mich zwingen?«

»Weil er dich lieb hat, Heinz, auf seine Art, weil er stolz auf dich sein möchte, auf seinen einzigen Sohn.«

Mit spitzen Fingern stieß er das Wort von sich.

Aurelius Schückedanz aber sagte steif: »Das ist Neid.«

»Ja, tausendmal ja! Neid und Haß, alles, was du willst. Jeder Esel guckt mich von der Seite an: der junge Williguth! Ist auch Chirurg. Was leistet er denn? Die Köpfe stecken sie zusammen: Mein Gott, er ist seines Vaters Sohn. Weißt du überhaupt, wie das demütigt?«

Mit geballten Fäusten stand er da.

»Überall wittere ich Mitleid oder Spott. Williguth! Williguth! Der Name ist mein Fluch, den schleppe ich mit mir, wie ein Sklave seine Kette. Und da bringt er mir Menschen ins Haus, schiebt mich hin zur gefälligen Bewunderung, zwingt sie dazu und lächelt gnädig. Glaubt er denn noch immer, daß er mir helfen kann? Aber seine Eitelkeit ist zu groß, er kann nicht dulden, daß sein Sohn im Schatten bleibt. Weißt du, Schückedanz, oft graut mir vor ihm. Wäre ich nach seinem Maß geschnitten, er ginge ganz gern zähneknirschend im Kampf mit mir zugrunde, wüßte er nur, daß ich die Fackel besser schwingen kann als er selbst. Aber so, siehst du, so denke ich, es wäre ihm lieber, er hätte gar keinen Sohn als mich. Er schweigt und würgt an seinem Groll. Ich aber spüre seine Blicke, die heimlich mir nachlaufen und grimmig betteln: ›Werde wie ich!‹«

Der Tauwind rüttelte an den Fenstern, die nackten Äste im Garten knarrten und klatschten. Schückedanz horchte. Sein Blut lief hell und schnell. Heute war sein Tag.

»Na, Junge, ich weiß ein Mittel. Geh' fort von hier!«

Der junge Williguth gab keine Antwort, starrte nur geradeaus und schüttelte fast verwundert den Kopf. Dann lachte er leise.

Schückedanz aber streckte sich voll bescheidener Wichtigkeit und scheuchte alle Zweifel mit beiden kurzen Armen: »Meine Berufung nach Marburg ist sicher, wenn ich will.«

Er schmunzelte vergnügt und schloß geschwind die Äuglein: »Und ich will jetzt.«

Er sah ein Myrthenkränzlein und allerlei andere holde und herzwarme Dinge.

Schier tief holte er Atem.

Da griff der junge Williguth nach seiner Hand: »Du lieber Kerl!«

Der kleine Schückedanz lachte zuversichtlich und stellte sich neben Heinz, wie unters Maß.

»Von mir hast du keine Konkurrenz zu fürchten.«

Und er wunderte sich, daß eine trauliche Stunde einen Menschen so reich zum Schenken machen konnte. Alle Dinge hatten auf einmal ihre Erdenschwere verloren und trugen kleine rosenrote Flügel.

Plötzlich stand da Flora Schirlitz, in ihrem eisengrauen Seidenkleid, mager und eckig, hielt ein Messer zum Öffnen der Champagnerflaschen steif vor sich und sagte mit mißtrauischem Vorwurf: »Aber meine Herren, was ist denn? Man wartet, und der Geheimrat hat schon den zornigen Blick.«

Schlaff stand der junge Williguth, mit hängenden und leeren Händen, wie einer, der seinen Glückstopf längst in Scherben schlug.

Wie ein Sbirre wartete die Schirlitz.

Aurelius blinkte mit den Augen. Die kleinen rosenroten Flügel schrumpften elendiglich ein. Scheu schaute er dann zu Heinz empor: »Da müssen wir nun wohl gehen?«

Der nickte bloß und warf zornig den Schrank zu.

Die Schirlitz rührte sich nicht. Nur in den verwaschenen Augen sprang die Angst auf.

 


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