Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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Witte Williguth saß im Gras und schaute nachdenklich in den Fall der gelben Kastanienblätter, die unsichtbare Hände wie zum Spiel herabstreuten. Witte ging jetzt in die Schule und war darob stolz und hoffärtig. Zudem hatte er eine Engländerin und lernte von ihr Vokabeln mit Williguthscher Verbissenheit und Wichtigkeit, die jede neue Weisheit überall anzubringen suchte. Auch Boabdil entrann dieser aufdringlichen Gelehrsamkeit nicht immer. Verdrossen hockte er in der Sonne und sah verspäteten Schwalben nach, die im Blau sich tummelten und zum Fernflug rüsteten. Wie Kiesel ins Wasser fielen Wittes Vokabeln spitz und eintönig vor ihm nieder: »Die Tür – the door.« Ein gekränkter Blick, weil niemand seinen Fleiß bewunderte, und dann: »Der Hund – the dog

Boabdil bellte anerkennend einer besonders behenden Schwalbe nach, und Witte hielt ihm erfreut sein buntes Merkbuch hin, wo unter jeder Abbildung das englische Wort gedruckt war.

»Der schwarze Hund – the black dog

Boabdil runzelte die kurze Nase und guckte stumpfsinnig sein Konterfei an. Witte seufzte ungeduldig und betastete fast ehrfurchtsvoll sein wackliges Zähnchen. Er fühlte dunkel, daß eine Veränderung mit ihm geschah. Irgend etwas wurde anders, er schaute an sich hinab, aber er fand nur, daß das weiße Höschen kürzer und die braunen Beine länger waren als bisher. Sorgenvoll blickte er wieder in das Fallen der Blätter, die wie gelbe Schmetterlinge in der blauen Luft schwebten. Dann zog er einen Briefumschlag hervor und musterte die Marken, die er jetzt emsig in der Schule gegen seine vielbegehrten Muscheln eintauschte. Er machte gute Geschäfte, ließ sich nicht betrügen und bildete sich nicht wenig auf seine Klugheit ein.

In einem Viereck weißgestrichener Bretter war weicher, trockener Flußsand aufgeschüttet. Dort kroch der kleine Elias und grub nach Herzenslust. »Er ist nicht gescheiter als Boabdil,« dachte der hoffärtige Witte und verachtete seinen Bruder. Der schrie gleich, wenn er hinfiel, und trug noch einen Weiberrock. Witte war entschieden das bedeutendere Geschöpf. Wohlgefällig schmunzelte er in sich hinein. Plötzlich turnte Elias auf allen Vieren über die niederen Bretter und saß erstaunt im Gras. Ganz langsam krabbelte er sich auf, hielt sich am Rand und stand auf einmal auf seinen kurzen Beinen. Witte wunderte sich sehr, Boabdil tat dies nur, wenn er um Zucker oder sonst etwas bettelte. Eine Weile blinzelte Elias und drehte das Köpfchen, ob die Kinderfrau auch in sicherer Entfernung war, dann tat er jauchzend die ersten Menschenschritte auf seinen Bruder zu. Die grauen Augen waren groß und rund, als Elias das erste Stück der weiten Welt eroberte. Wichtig wackelte er umher und lallte unverständliches Zeug. Auch ihn sollte man jetzt bewundern. Bescheiden war kein Williguth, auch der winzigste nicht. Er hielt sich an Witte fest, weil er ins Schwanken kam, tat aber sogleich, als wollte er den großen Bruder führen und leiten in der ersten Sicherheit seines aufrechten Menschentums. So zerrte er Witte bis zum Goldfischteich, die Lippen aufeinandergebissen in dem mutigen Entschluß, nicht hinzufallen. Dort hockte Aurelius Schückedanz mit einem kleinen grünen Handnetz und fischte nach seinem »Röschen«, das jetzt ins Winterquartier sollte. Wie eine Kugel, so rund und fett, erschien der gute Professor dem naseweisen Witte. »Ks – ks!« machte er unartig und trieb Schückedanz den dicken Goldkarpfen davon, der schon beinahe im Netz war.

Erstaunt schaute Aurelius auf: »Gotteswunder, unser Elias marschiert auf seinen kleinen, kleinen Beinchen!«

Er hob Hände und Netz zum Himmel.

Witte nickte stolz, weil er jetzt seinen Bruder beschützte und herzeigte und diese neue Wichtigkeit voll genoß. Elias aber ballte die Hand und streckte dann die Finger aus.

»Ham, ham!« krähte er. Was er sah, wollte er haben. Auch darin geriet er Witte nach. Schückedanz hatte jetzt »Röschen« endlich gefangen und setzte es behutsam ins Glas.

»Ham!« beharrte Elias puterrot und zog schon den Mund schief.

Schückedanz hielt »Röschen« vorsichtig in die Höhe und schmunzelte in der Erinnerung, daß noch im Frühjahr Witte denselben entschiedenen Wunsch geäußert hatte. Er selbst hatte als Knirps alles an andere verschenkt, sogar das dünn bestrichene Vesperbrot, und diese Zwerge griffen schreiend nach allem, was ihnen in die Augen stach. Einen Augenblick las er in diesen Kindern die Runenschrift ihres Blutes, den unbeugsamen Willen Philipp Emanuels und der ganzen starken Sippe.

»Dummer Elias,« sagte jetzt herablassend Witte, »der Fisch gehört doch Onkel Aurelius. Aber du bist noch so klein.«

Mitleidig hielt er den strampelnden Greifer mit beiden Armen fest.

Und Schückedanz dachte an den überlegenen Stolz, den der Geheimrat seinem eigenen Sohn entgegensetzte. Da wuchs dasselbe Kraut ins Blatt.

Verwundert schüttelte er den Kopf.

Die hübsche, blitzblanke Engländerin lief heran, Aurelius wurde rot und stellte schnell das Fischglas ab. Witte plapperte sofort seine Weisheit los und wurde belobt. Boabdil bellte, weil er das fremde Frauenzimmer nicht leiden konnte.

Überall griff man jetzt in sein Recht.

Elias kroch schon wieder auf allen Vieren und suchte ihn am Schwanz zu packen.

»Ach ja,«sagte die Miß und strich das blonde Haar zurück, »those children! I hope they didn´t bother you?« »Yes!« antwortete Aurelius sehr laut und rieb die Hände trocken. Er hatte keine Silbe verstanden.

Unter den Bäumen stand Jakobe Williguth. Zu ihr rettete er sich schnell aus seinem schlechten Englisch und seiner Junggesellenscheu. Jakobe war schöner und sicherer als je, sie wuchs jetzt voll in das Maß der Williguths hinein. Schückedanz dienerte vergnügt: »Gut, daß Sie wieder da sind!«

Die braunen Augen glitten ruhig an ihm vorbei: »Braucht man mich denn?«

Dann blickte sie mit müdem Lächeln auf die spielenden Kinder. Ihre schmalen Hände hingen steif und regungslos herab.

Schückedanz erschrak. Früher war sie anders, ging mehr aus sich heraus. Jetzt schien sie nur ein gelassener Zuschauer in dem Widerstreit dieses Hauses. Und er wußte auf einmal keinen Weg zu ihr.

Auch Flora Schirlitz stand überall vor kleinen Veränderungen. Zunächst schien ihr die Miß, die zudem eine Pastorentochter war, ein unnützer Eindringling. Sie hielt nicht viel von fremden Sprachen. »Schnack«, dachte sie ärgerlich, »Witte stößt nun glücklich mit der Zunge an. Aber das will keiner hören.« Dann war die junge Frau voll Unrast und schien ganz dem Teufel irdischer Eitelkeit verfallen. Die sah und hörte überhaupt nichts mehr. Kleider und Hüte wurden ins Haus gebracht, es gab stundenlange Anproben, und dann erschienen noch mehr Kleider und Hüte. Besuche kamen und gingen, Jakobe war bald da, bald dort, kaum, daß sie während der Mahlzeiten stille saß. Die Rappen des Geheimrats fielen schier vom Fleisch, weil sie plötzlich so strengen Dienst hatten. Aber es war keine Heiterkeit in dieser absichtsvollen Unruhe. Sie alle wollten das starre Schweigen aufrütteln, das wie zerrendes Blei an jeder Stunde zu dritt hing. Sie scheuten dunkle Stunden und leere Zimmer und haschten nach jeder fremden Stimme, die das weite Haus mit ihrem Widerhall füllte. Eine Gesellschaft jagte die andere. Mehr als je glänzte der Geheimrat mit seiner Schwiegertochter. Abend für Abend waren Gäste im Hause, überall brannten Lampen und gaben Licht und Wärme. Alle, die kamen, beneideten das Glück der Williguths und wußten nichts von dem rastlosen Unfrieden, der wie mit der Hetzpeitsche durch ihre Tage lief. Und mancher wunderte sich, daß hinter dem stattlichen Philipp Emanuel und der schönen, schmalen Jakobe manchmal ein mürrischer, starkknochiger Mensch auftauchte, der dann als der Mann der bezaubernden Frau vorgestellt wurde. So lebten die drei aneinander vorbei. Sie konnten nicht anders. Flora Schirlitz allein war voll Mißtrauen, ihr puritanischer Sinn begriff nicht, daß es ein bewußtes Abschließen gab, das wie eine Hingabe an jedermann schien, daß man lieber mit glitzernden Lügen Fangball spielte, als sich an der harten Wirklichkeit die Haut blutig ritzte.

Nikolaus Forcade wieder freute sich der bunten Geselligkeit, tat lächelnd mit und betrachtete die Hast seiner Tochter mit philosophischem Gleichmut. Zunächst schlug da die Art der Mutter einmal durch. Dies vielgeschäftige Hin und Her war ihm wohlbekannt. Und dann grübelte er, daß Jakobe eigentlich keinen rechten Frühling gehabt und nun ein wenig krampfhaft und eilig in den Sommer hineinlebte, als könnte sie wettmachen, was ungenossen und farblos hinter ihr lag.

Dann aber verließ ganz unerwartet die junge Engländerin das Haus. Sie hatte selbst darum gebeten. Der Geheimrat empfahl sie wärmstens an einen Kollegen in Kiel. Keiner im Hause verlor die Haltung. Sie schwiegen und besprachen gleichgültige Dinge, lächelten und machten ernsthafte Gesichter, alles zu seiner Zeit. Die Schirlitz wandte übellaunig den Kopf, wenn jetzt Simon Gottesdanks boshafte Blicke ihr den Weg versperrten und bedeutsames Räuspern den Alleswisser verriet. Nur Witte war betrübt und fand kein Ende mit Fragen, weil er um seine vielen neuen Vokabeln bangte.

Der Geheimrat saß gelassen am Teetisch und ließ sich von Jakobe die Tasse füllen. Wie beiläufig und scheinbar zum Dank für ihren willigen Eifer sagte er plötzlich: »Dir gefiel neulich der Manet in der Ausstellung, nicht wahr, liebes Kind?«

Langsam führte er die Tasse zum Mund und lauerte über den goldenen Rand weg. Erstaunt sah Jakobe auf und sagte nichts.

Am nächsten Abend, als sie todmüde heimkam, hing der wundervolle kleine »Garten an der Seine« in ihrem Schlafzimmer, eine Wildnis von bunten Blumen unter einem schweren grauen Himmel. Philipp Emanuel selbst hatte den richtigen Platz ausgesucht. Jakobe dankte herzlich und hatte das wehe Gefühl, daß diese Williguths allem ein Denkmal setzen mußten. Dann saß sie lange allein und grübelte. Vor ihr leuchtete der Manet im grellen Weiß der elektrischen Birnen.

Draußen kam ein Schritt. Jakobe sprang zur Tür und schloß lautlos ab. Eine Hand versuchte die Klinke. Ein zorniges Aufstampfen, und wieder war es still.

Nur im Garten rauschten die Bäume, der Oktoberwind ging durchs Land und streute welkes Laub vor sich her. Vom Fluß, aus weiter Ferne kam das Stampfen einer Baggermaschine, die Kübel nach Kübel hob, immer wieder, in stetem Gleichmaß, und es ward doch kein Ende.

Endlich einmal bei euch etwas, das nicht langweilig ist!«

Und Jakobe konnte steinern lächeln, als ihre Mutter, die Lorgnette vor den Augen, durchs Haus rauschte und sehr verwundert tat, die Miß nicht mehr zu finden. Miriam unterhielt sich glänzend: »Schade, Witte machte so hübsche Fortschritte! Also nach Kiel hat Philipp Emanuel sie spediert? Gott, nein, Jakobe, wenn ich mir vorstelle – –!«

Sie lachte ihr lautes, gesundes Lachen, ausgelassen und derb, wie eine kleine Choristin. Dann nahm sie die Tochter beim Ohrläppchen, zog die dicken Brauen hoch und guckte spöttisch durch die Lorgnette: »Na? Nicht mal neue Boutons? Wirklich nichts, gar nichts?«

Auf einmal lachte sie nicht mehr. Zornig schlug sie mit der Lorgnette gegen die schweren Brüste: »Nicht eine Ader hast du von mir! Bist nichts, weißt nichts, stehst da wie ein Haubenstock. Meinst du, das amüsiert ihn? Halten sollst du ihn und verscheuchst ihn mit deiner Hundeschnauze. Lehr du mich Männer kennen! Mach' Skandal, schrei', fall' ihm um den Hals oder in Ohnmacht, wie sich's gerade trifft, dann hast du ihn. Meine langen Smaragdtropfen da hab ich eurem guten Papa abgeluxt, als er mit weiland eurer Bonne, du weißt doch, die hübsche kleine Gilberte mit den grünen Augen, gar zu sehr auf sein elegantes Französisch bedacht war. Gott, war der arme Mensch damals außer sich! Ich habe mich krank gelacht!«

Vertraulich warf sie Jakobe die schöne weiße Grübchenhand auf die Schulter.

Dann stand die Gräfin Forcade mit eingekniffenen Augen vor dem »Garten an der Seine«.

»Da sieh mal an, du Duckmäuser! Von ihm natürlich?«

»Vom Geheimrat.«

Wieder lachte Miriam, laut und derb, daß Fenster und Lampen in ein feines Singen kamen. Ihr Theatersinn hatte lustigen Feiertag. Sie schnippte mit allen zehn Fingern: »Sapristi, das nenn' ich originell! Warum hast du eigentlich nicht den Alten geheiratet?«

Und wieder klirrten die Scheiben.

Jakobe senkte den Blick und machte die Lippen schmal.

»Ach so! Na, ja, weißt du was. Kleine, magst du mit mir reisen? Meran, Nervi, Mentone, wohin du willst. Halb Europa spaziert dort auf der Promenade.«

Gutmütig, wie eine Spießbürgerin, streichelte sie jetzt die Tochter.

»Ich war lange genug fort.«

»Gott, du bist langweilig, Jakobe!«

Zornig sprang sie auf, daß die Röcke raschelten. Die Lorgnette wirbelte im Kreis um ihre starken Hüften. Scharf schnappte ihre Stimme: »Du weißt einfach nicht, was du willst!«

Unbequeme Menschen schob sie gern auf das Nebengeleise.

Da kam der Geheimrat, stattlich, voll heiterer Würde, und Miriam und er versicherten sich, daß sie jung und frisch seien, wie noch nie. Jakobe blickte stumm dieser wechselseitigen Bewunderung zu, wie dem Spiel zweier Puppen, die an Drähten tanzten.

Als sie dann im Kinderzimmer die bereitgelegten Kleidchen der Buben für den nächsten Tag durchsah, kam ihr Mann herein und fragte ohne Gruß: »Die Sonntagskleider? Wozu?«

Wenn er unsicher und schuldbewußt war, gab er sich stets kurz und grob. Hinter halbgeschlossenen Lidern prüfte Jakobe Zug um Zug. Die Feinheit von einst war verwischt, alles schien derber und gewöhnlicher. Rote Flecken lagen unter den Augen, das Kauen der Kinnbacken kam kaum zur Ruhe. Und auch diese Gewaltsamkeit war nur eine Maske. Fast sah es aus, als äffte er den Vater nach.

»Du kannst antworten, Jakobe, wenn ich frage.«

Verwundert hob sie den Blick, in müder Gleichgültigkeit: »Es soll bleiben, wie jedes Jahr. Onkel Friedemann will das Reformationsfest mit allen Kindern feiern.«

Sie schob die dichten Brauen in gespannte Falten, wie um besser aufmerken zu können, und prüfte fast ängstlich Elias' gesticktes weißes Kleidchen und die Bügelfalten an Wittes langem Matrosenhöschen. Die Williguths hatten krittelsüchtige, scharfe Augen, auch wenn sie tafelten und Feste feierten.

Verdrossen mäkelte er weiter: »Friedemann ist krank. Wozu die Komödie?«

Sie legte die Kleider sorgsam zurück und gab keine Antwort.

»Mir kann es recht sein. Aber denk' an mich, Jakobe, in dieser Sache mit Friedemann wird der Alte seine Gottähnlichkeit noch ganz kurios in die Tasche stecken müssen.«

Höhnisch stand er da und hatte ein schlimmes Lauern in den Augen. Er war ein Williguth und wandelte sein Unrecht in Recht. Jakobe schwieg und lächelte nur zu ihrer neuen Kargheit. Und plötzlich lagen strenge, scharfe Linien um ihren Mund.

 


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