Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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An diesem Morgen läuteten die vielen Glocken der Stadt den Sonntag ein. Der Geheimrat aber nahm den erstaunten Witte, der in froher Erwartung auf Wiederherstellung der verdorbenen Eisenbahn schon mit den Schlittschuhen klapperte, an der Hand und führte den ganz in hochrote gestrickte Wolle verpackten Knirps auf den Speicher. Dort rasselte er mit rostigen Schlüsseln, die nur widerwillig einbissen, und Witte bekam sogleich große, runde Gieraugen. Philipp Emanuel war sehr bleich und handwerkte ungeschickt mit Schloß und Riegel. Jetzt standen sie zwischen altem Gerümpel, auf dem handdicker Staub lag. Im Luftzug wehten graue, verstaubte Spinnweben, das Dachfenster schnitt ein funkelndes blaues Viereck aus dem Sonntaghimmel. Witte hockte auf einem Balken, bohrte die Fäuste unters Kinn und wartete. Philipp Emanuel stieß die Luke auf, und schnurgerade goldene Sonnenbalken fuhren in den wirbelnden Staub. Dann griff er den Enkel auf und ließ ihn hinausgucken, daß er die frühen Baumknospen gerade vor Augen hatte. Gar mächtig schwangen die Glocken, als riefen alle Williguths ihre Andacht über die Stadt. Feierlich blickte der Geheimrat in den klingenden, frostblauen Sonntag und sagte dann mit einer Stimme, die selbst wie eine alte Glocke tönte: »Siehst du, mein Bübchen, da ist die heilige Frühe vor dir. Merke dir den Tag, Witte Williguth!«

Dann kramte er in Truhen und wackeligen Schränken, die hier in rußigen Winkeln ihr Gnadenbrot hatten. Witte schloß pfiffig die Augen, weil er sich überraschen lassen wollte.

Staub und Ruß fiel dem Geheimrat entgegen, als er so nach dem alten, wohlverschlossenen Spielzeug seines Sohnes suchte, um es Witte zu schenken. Es hatte keinen Sinn mehr, derlei Tand aufzuheben. Aber an jeder Kleinigkeit hing eine Erinnerung. Mit hartem Griff packte er zu und lächelte grimmig. Witte blinzelte verstohlen und zog den Mund breit. Er wußte nicht, daß diese Stunde für seinen Großvater ein Abschluß und ein Weiterrücken war, daß hier eine trotzige Hoffnung vom Sohn auf den Enkel sprang. Im Takt stieß er die Absätze auf die roten Ziegelsteine und ließ alles Gute gemächlich an sich herankommen, als wäre seine heimliche Gier nur eine lässige Gnade. Plötzlich aber packte es ihn, daß er Mund und Augen aufsperrte und kurz und schwer atmete. Der Großvater hob ein schmales Ruderboot aus einer Kiste und setzte es vorsichtig zu Boden. Aber schon saß Witte darin, stemmte die Knie und streckte die Hände nach dem kurzen Doppelruder. Mit trockener Sachlichkeit erklärte der Geheimrat, wie das Ding zu halten und zu gebrauchen sei.

»Großer Papa, jetzt muß schnell Wasser in unsern Teich, dann fahre ich mit Bobby und Elias!«

Fest lag der Kindermund, keck blickten die grauen Augen in die Welt. Darüber her kam das Sonnenlicht durch die Luke und das letzte Klingen der Glocken.

Philipp Emanuel lächelte. Wittes Vater hatte einst geweint, als er das Boot geschenkt erhalten, war zwei oder dreimal zaghaft darin gesessen, mit großen erschrockenen Augen, daß der Geheimrat in hellem Zorn alles auf den Speicher schaffen ließ. Witte war doch ein anderer Kerl. Mit plumper Freundlichkeit trug Philipp Emanuel allerlei andere Schätze herbei und legte sie vor dem Enkel nieder. Federkrone, Hüftschurz und Waffen eines Indianerhäuptlings, daß Witte bescheiden fragte:

»Bin ich jetzt so ein braver Junge?«

Und der sonst so strenge Großvater nickte gütig.

Von der Tür aber kam jetzt Jakobes Stimme: »Was tut ihr denn hier?«

Bedeutsam und mit leiser Bosheit antwortete der Geheimrat: »Ich schenke Witte die alten Spielsachen von Heinz.«

Seine Augen lauerten.

Witte griff nach der Indianerkrone, schmückte sich und guckte nach Bewunderung aus, da war er plötzlich allein.

Auf dem schmalen Gang zwischen den Speicherkammern schritt der Geheimrat mit Jakobe. Graues Dämmerlicht ließ die Gesichter im Halbdunkel. So fand man leichter den Mut zu den mitleidlosen Worten, die endlich gesagt werden mußten. Verschüchtert wartete Jakobe und hatte doch das Gefühl wundersamen Geborgenseins, weil dieser ernste und tätige Mann nichts von ihr forderte, was sie selbst nicht gerne zu geben bereit war.

Kampfgerüstet stand er jetzt.

»Hat Heinz mit dir gesprochen?«

»Ja, Papa.«

»Und du?«

»Ich fürchte mich.«

Wie im Krampf stieß sie die Hände nach vorn.

»Ich hätte Angst vor mir selbst, wenn ich von hier fort müßte.«

Ein unmerkliches Lächeln lag um seinen Mund.

»Das ist doch auch ganz ausgeschlossen. Er braucht dies Haus, das ihn deckt und immer decken wird. An mir hat er Halt und sonst nirgendwo.«

Er blickte über sie weg und sprach wie zu sich selbst: »Es gab ja auch bei mir Augenblicke, da ich arg empfindlich und mißtrauisch war. Damals, als ich meines Vorgängers Tochter heiratete. Jeder glaubte nur an mein gutes Glück und stach mit spitzen Nadeln nach mir. Aber man läßt sich von derlei nicht anfechten. Meinem Jungen freilich blieb diese Weisheit fremd.«

Er stampfte zornig und griff mit tastenden Fingern in die leere Luft, dann schloß er sie besitzstolz zur Faust.

»Wir haben Witte und Elias.«

Da wußte sie, daß er jetzt seinen Sohn preisgab. Sie hob den Blick, unwillig und erstaunt fand er darin ein verzweifeltes Fordern.

»Warum hilfst du ihm nicht?«

Er warf nur die Hand aus, als streute er etwas in alle Winde: »Glaubst du, daß es noch Wirkung täte?«

In seinen Augen aber stand die Angst.

Sie schwieg.

Er streckte ihr beide Hände hin: »Dagegen ist kein Mittel als ein stilles Ausharren. Wir sind ein tüchtig Stück zusammen gewandert, durch helle und dunkle Tage, liebe Tochter, und wollen uns nicht verdrießen lassen, es weiter zu tun!«

Und er stieß kurz die Tür zur Kammer auf, wo Witte mit dem neuen Ruder rumorte. Steif und stolz stand der Geheimrat in der hellen Sonne.

»Ja, unser Witte,« sagte er langsam.

Scheu schob Jakobe den Kopf zwischen die Schultern und haßte den Knaben, der unbekümmert nach Heinz' Spielsachen griff.

Mit breitem Lächeln aber grüßte Philipp Emanuel den Enkel.

Ums Dämmern klopfte der Geheimrat an Jakobes Tür.

Auf dem Teppich spielte gerade der kleine Elias mit roten und weißen Bällen, täppisch und ungeschickt, aber mit unverdrossener Ausdauer. Er war ein stilles Kind, das mehr an der Mutter hing als der eigenwillige Witte. Nachdenklich betrachtete Philipp Emanuel das Menschenfröschlein, das zwischen Kriechen und Aufrechtgehen noch ganz wunderlich schwankte. Hart klinkte er dann die Tür ein, als wollte er mit diesem Griff alles abschließen, was dahinter wartete und ins Wirken kam. Wuchtig und schwer stand er in dem dünnen grauen Licht, die Hände um ein schlichtes schwarzes Buch gelegt, und glich plötzlich seinem Bruder Friedemann, wenn der die Bibel auf den Kanzelrand stellte und Abrechnung mit seiner Gemeinde hielt. Mit steifen Schritten trat er zu Jakobe und legte das Buch in ihren Schoß. Ein ganz feines Zittern schwang in der altfränkischen Feierlichkeit seiner Stimme: »Vielleicht dient dir dies besser als viele Worte.«

Und sein ausgestreckter Finger wies ihr Stelle um Stelle in dem Tagebuch, das er vor fast dreißig Jahren an seines Sohnes Taufe begonnen hatte.

Wie eine Tochter, die der Vater in lange gehütete Geheimnisse schauen läßt, saß Jakobe Williguth. Und da las ihr Philipp Emanuel leise die Worte vor, mit denen die Eintragungen jäh abbrachen.

»»Ich glaube nicht mehr recht an ihn.««

Darunter war ein dicker Strich gezogen.

Sie blickten sich an und schwiegen.

Elias rollte die roten und weißen Bälle und stieß kleine vergnügte Schreie aus, wenn ihm sein Spiel gelang.

Und da starb das letzte Licht.

 

Beim Abendessen aber, an dem wie jeden Sonntag Aurelius Schückedanz und der verabschiedete Kollege von der Chirurgie teilnahmen, war der Geheimrat beweglich und mitteilsam, fast wider seine Gewohnheit.

»Du wirst nicht alt, Williguth,« brummte griesgrämig der Pensionist und hob mit beiden Händen einen Hühnerschenkel zum Munde.

»Nein, ich habe keine Zeit dazu.«

Philipp Emanuel lachte behaglich und goß rundum die Gläser voll. Dann trank er Jakobe zu: »Und wie immer, so fortan!«

Schückedanz spähte unbehaglich nach dem jungen Williguth. Der verzog spöttisch die Lippen und drehte Figürchen aus Brotkrume, was sonst wohl auch sein Vater im Zorn tat.

Boshaft grinste der alte Professor, der in enger Selbstsucht der jungen Welt alles Schwere gönnte.

Der Geheimrat aber brachte schnell allerlei Tabellen und Zeichnungen, schon vor Tisch bereitgelegt, Reste einer Arbeit, die er einst als ganz junger Arzt begonnen und nicht vollendet hatte. Mit beinahe gewalttätigem Eifer erklärte er, was noch zu tun wäre, schob die Blätter über den Tisch und ermunterte schließlich seinen Sohn, daran Hand zu legen. Es klang wie eine bekümmerte Bitte. Gutgelaunt machte er sich dann selbst über mancherlei Irrtümer lustig. Mit flinken Fingern zeichnete und schattierte er im Handumdrehen, wies Ziel und Zweck und fragte wiederholt Heinz um Rat, der freilich nur gleichgültig und zögernd gegeben wurde. Doch Philipp Emanuel ließ ihn kaum sprechen: »Ganz recht, mein Junge, so ist's.«

Sparte nicht mit Lob und zog ihn so nach und nach in das Netz, das er angstvoll und heimlich spannte. Auch Schückedanz, den der Geheimrat heute mal wieder absichtsvoll in den Schatten rückte, tat eifrig und verlegen mit, und selbst der alte Griesgram spundete das spinnwebigte Fäßlein seiner Weisheit an. Nur Jakobe saß stumm und ungewiß in der allgemeinen Betriebsamkeit.

Der junge Williguth ließ die Papiere unberührt liegen, weil er in seines Vaters hilfreich erhobener Hand nur den Schulmeisterbakel erblickte, den er seit Kindertagen haßte.

Der Geheimrat bog sich jetzt über den Tisch: »Na, Heinz, hättest du etwa Lust?«

Und er lachte voll kernfester Zuversicht in das verdrossene Schweigen seines Sohnes. Als er aber dann die Augen zu Jakobe wandte, kauerte darin die Angst wie ein krankes Tier. Die Köpfe der anderen waren gerade tief über Tabellen und Zeichnungen gebückt. Nur Jakobe sah diesen gequälten Blick, in dem Widerwille und Unruhe zugleich war. Flora Schirlitz trabte durchs Haus und klirrte leise mit den Schlüsseln. Das alte Holz knarrte unter ihren schweren Tritten. Ihre Kerzenflamme züngelte im Schattentanz. Wieder flog der Tauwind übers winterliche Land, pfauchte aus vollen Backen und drückte das Fensterglas in zitterndes Schwingen. Tat Stoß auf Stoß und holte dann Atem, wie der Wolf am Waldrand heult. Weiter wandelte das Licht, wie ein treuer Wächter, der vor Schlafenszeit noch einmal in alle Winkel guckt.

Eine Tür kreischte jetzt in den Angeln, irgendwo schlurften Schritte. Die Hausdame horchte, vielleicht schlug ein schlecht verwahrtes Fenster.

Aber aus dem Halbdunkel, in das die Kerze lichte Flecken warf, trat Philipp Emanuel Williguth, einen Pack Papiere unter dem Arm, hatte die Augen sinnend gesenkt und die Hand zur Faust geballt. Er streckte schnell die Finger und schlug daraus ein Dächlein über die Augen: »Ach, Sie sind es.«

Fast müde klang es. Tief in den Höhlen lagen die grauen Augen. Er nickte und schritt vorüber.

Draußen schwieg der Sturm.

Und da klappte wieder eine Tür, wieder kamen Schritte.

Starr blickte Philipp Emanuel die Schirlitz an, drohend und zornig zugleich.

Sie blendete die Flamme mit der Hand, daß er ihr Gesicht nicht sah. So blinzelte sie in den hellen Fensterausschnitt, wo mondbeschienene Wolkenfetzen vorbei schwammen, und zählte langsam die auf und zu fallenden Türen.

»Gute Nacht, Herr Geheimrat,« sagte sie dann still und stieg die Treppe hinab. In der Halle setzte sie ihr Licht auf den Kamin und versuchte Schloß und Riegel.

Als sie aufschaute, stand Philipp Emanuel drei Schritte von ihr auf dem letzten Absatz. Steif wies er auf die Stockuhr: »Die geht schon seit gestern sieben Minuten nach.«

Flora Schirlitz kniff die Augen ein: »Ich weiß nicht, täusche ich mich, aber ich höre da Schritte.«

Mitten in den plötzlich neu einsetzenden Sturm brach des Geheimrats Zorn: »Ja, wir Williguth sind Alles- oder Nichtsmenschen.«

Er stieß die Arme von sich: »Sagen Sie mal, Sie alte Frau, warum kann es nicht Alles sein?«

In seinem Blick war jetzt aller Wille und alle Sehnsucht dieser Stunde.

Zitternd drückte sich die Schirlitz in den nächsten Winkel, als erwartete sie einen Schlag.

Er aber tadelte nur verdrossen: »Es riecht hier nach Wachs,« deutete auf die Tropfen, die von der Kerze liefen, und stieg schon die Treppe hinan.

Im Garten zerbrach ein eiliger Fuß die Eishaut der Erde.

Über Haus Williguth kam die Nacht.

 


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