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Ein Kinderkreischen krächzte in die blaue Nachmittagstille. Im Vorgarten duftete der Flieder, und die Bienen krochen ein und aus. Ihr feines Summen hing wie das Verklingen meilenferner Kirchenglocken in der warmen Luft. Forcade nickte dem Frühling zu. Er hatte seine innere Freudigkeit wieder, die Williguths, Jakobes ein wenig befremdliche Ehe und Miriams stürmische Jugendlichkeit waren vergessen. Da hinten, im kleinen uralten Park, wo betäubend und süß der Faulbaum duftete, johlte jetzt sein Enkel. Eine große Gläubigkeit war in Nikolaus Forcade, so daß es eine Brücke gab zwischen seinem leisen Spott und der derben Orgelbiederkeit von Johann Sebastian, nur daß der Aristokrat in Gott ein blindes Schicksal sah, bald neidisch, bald gütig, der »Blaue Herrgott« aber einen himmlischen Musikprofessor, der keine Note ausließ.
Zwischen den Stiefmütterchen, die in allen Schmetterlingsfarben blühten, von Samtschwarz und Bronzebraun zu dunklem und lichtem Purpur, von Dottergelb und Porzellanblau bis zum reinsten Weiß, trieben zwei Tauben ihr amouröses Spiel. Der Tauber hatte sich zur Liebeskugel aufgeblasen und trug kollernd vor dem Kropf die stahlgrüne Hochzeitsweste. Die Dame trippelte schamhaft auf Korallenfüßchen. Plötzlich hoben beide die Köpfe, rannten mitten in die Stiefmütterchen hinein, duckten sich und setzten ihr Werben und Sprödetun fort. Dann aber schwang sich die kleine Dame erschrocken in die blauglitzernde Luft, daß ihr weißes Gefieder wie Silber leuchtete. Und der verliebte Herr mit der grünen Weste tat desgleichen.
Witte kam im Galopp um die Hausecke, guckte sich um und verbarg sich schnell im Fliederbusch. Und jetzt stob der Kies unter Renates eiligen Beinen. Johlend stießen die zwei verfolgten Hasen einander tiefer ins Gebüsch. Dann kam der Jäger nachgekeucht und schwang den runden Strohhut, als wollte er die stattliche Renate damit haschen wie einen dicken Schmetterling. Der etwas füllige Jüngling trocknete die heiße Stirn und zog würdevoll den blonden Schnurrbart in drohende Spitzen.
»Du bist noch ein fürchterlicher Kindskopf, Mädel,« sagte er behaglich mit einer hellen, freundlichen Stimme, die zu seiner kurzen Rundlichkeit trefflich paßte. Aber schon flog eine Handvoll Kies wider seinen Spott, und Renate schrie: »Fang' mich lieber, du dummer Achatz!«
»Na, warte!« Er hielt den Hut als Schirm vor die Augen und begann gefühlvoll zu singen: »Häschen in der Grube–.«
Da rief Forcade in lachendem Ärger hinab: »Lieber Achatz, wenn du schon mit den Kindern spielst, so tue es, bitte, hinten im Park, damit Renates Unarten wenigstens nicht von der Straße gesehen werden!«
Renate rupfte verdrossen Stiefmütterchen und aß sie gedankenvoll auf. Witte Williguth kam herangeschlendert, sah ihr mißgünstig zu und sagte kurz: »Ihr seid langweilig.«
Von oben aber dröhnte es wie Orgelrollen: »Was ist das heute wieder für ein blödsinniger Lärm?«
Eilig verschwand Graf Forcade vom Fenster. Ein dunkelbrauner Arm drohte hinab, eine derbe, fleischige Faust, an der ein blutroter Stein blitzte. Braungeschminkt, ein Büschel Granatblüten hinter dem Ohr, dicke Kämme mit funkelnden roten Steinen in der nachtschwarzen Perücke, den kostbaren, papageienbunt gestickten Schal eng um die zornig atmende Brust gestrafft, schrie Miriam über den kleinen Vorgarten hin, baß die mächtige Stimme weit und klingend in die stille Straße hinausschlug.
Hinter ihr wirbelte aufreizend und toll die Habanera und lockte die ergrimmte Carmen zurück in die gelben, sonnenheißen Gassen von Sevilla.
»Ach bitte, bitte schnell,« flötete irgendwo die Orlakoff, »das Licht wartet nicht, und wir müssen noch die Aida und die Gilda aufnehmen.«
Noch einmal drohte Miriam mit der braunen Faust, dann wiegte sie sich leise nach der Melodie, griff die Spielkarten auf und sprang mit dem jähen, federnden Satz eines großen Raubtiers vom Fenster weg, mitten hinein in die düsterbunte Welt der Schmuggler und Stierkämpfer.
Renate ließ Achatz' Strohhut fallen, den sie sinnig mit bunten Stiefmütterchen schmückte. »Das war die Dirne von Sevilla, die um Blumen und Zigaretten ihre Küsse verkauft! Hast du sie gesehen, Achatz?«
Die junge Stimme schmetterte hell hinaus, und doch hing ein schamhaftes Zittern darin. Fast verlegen sah sich Achatz Rothenwolff um.
»Mama ist groß, groß,« keuchte Renate, »warum mag sie mich nicht?«
Das graue Barockpalais lag ganz still in der breiten, warmen Nachmittagsonne. Nichts rührte sich, selbst die Bienen im Flieder summten und brummten nur träge. Kastanien und Platanen träumten in den Abend hinein, der weit im Westen behaglich heranschritt und die Hand nach der müder werdenden Sonne ausstreckte.
»Du, Achatz!«
»Ja?!«
»Wie das alles mit mir noch werden mag?!«
»Ach, wo!«
Faul und nachdenklich dehnte er sich in der Nachmittagwärme, die wie ein wohliger Strom durch seine Glieder rann.
»Die Miranda im ›Sturm‹ kann ich jetzt ganz.«
Renate schob die kurze Oberlippe hoch und lächelte ihren eigenen Träumen zu. Ein Funkeln war in ihren Augen, wie wenn sie plötzlich einen Schatz in sich entdeckte.
Achatz kam zu ihr in den Schatten.
Langsam, wie mitleidig faßte er nach ihren zuckenden Händen. Duftend sanken schwere Faulbaumblüten herab. Der Wind stand plötzlich auf und bog das Laubwerk. Ein großes Rauschen war jetzt in dem Garten. Und mitten darin Renate Forcade in ihrer heißen Jugend.
Am Abend kam Jakobe wieder, um Witte nach Hause zu bringen. Aber Achatz Rothenwolff, der in seiner beschaulichen Einsamkeit gelernt hatte, klug und schnell in Menschengesichtern zu lesen, schlug einen Abendbummel vor. Nur widerstrebend gab Jakobe nach. Der Geheimrat war schlimmer Laune gewesen und hatte mit scharfen Worten nicht gespart, weil Kleider und Orden nicht rechtzeitig bereitlagen. So fuhr Achatz mit Witte durch den Fontainengarten und lieferte den Jungen bei Flora Schirlitz ab. Als er zurückkam, wartete man schon auf ihn, Graf Forcade mit den beiden Töchtern und Miriam, die jetzt ganz die in sich gekehrte Königin war, den Kopf hoch trug und drei paar Handschuhe zerriß. Ein spinnwebdünner Mantel floß um ihre Schultern, das jetzt bleiche Gesicht lag im Schatten eines riesengroßen Hutes, der im Abendwind auf und ab klappte. Schweigend ging sie mit Achatz voran und nahm seinen Arm.
Blaßgrün war der Himmel, wie Glas auf goldenem Grund. Nur im Westen, über den Rebenhügeln, schwammen rote Federwolken und warfen ihren Widerschein auf den Asphalt. Über dem Fabrikviertel hing schwarzer Rauch, wie Trauerfahnen an der hellen Pracht des Himmels. In allen Fenstern funkelte kupferrot das Abendglühen. Die vielen Kirchenglocken läuteten nur leise, da der Wind den Klang zerriß. Einmal wandte Miriam den Kopf. »Du hast ja heute das Haar aufgesteckt, Renate,« sagte sie unzufrieden und beschrieb mit der rechten Hand eine königliche Geste, als klagte sie die Eigenmächtigkeit ihrer Tochter vor aller Welt an. Renate duckte sich unter diesem Blick und lächelte trotzig.
Wie eine schöne Frau im Fenster lag der Abend über der Stadt. Die Brückenpfeiler warfen ihre tiefen Schlagschatten weit hinaus in die fließende Helligkeit des Stromes, der nur an den Ufern dunkler schien, weil dort die Mauern alles Licht verschluckten. Hohe Pappeln vor dem blassen, silbernen Himmel gingen in ewigem Schwanken. Schwere, goldgelbe Staubwolken schoben an ihnen vorbei. Die kupfergrünen Dächer der Kirchen und Paläste wurden allmählich fahl und stumpf, schlanke Türme schnitten ihre dunkelnde Silhouette scharf in die helle Abendluft und gaben ihre berechnete Schönheit preis. Wie im Gebet standen die Heiligen auf der Balustrade der Hofkirche, fern von dieser Erde, in beschaulicher Versunkenheit. Das uralte Schloßtor mit dem roten Ziegeldach und den grünbehelmten Erkern grüßte herüber. Dann schritten sie in die kühle Finsternis des Schwibbogens, der Schloß und Kirche verband. Da rief sie jemand an: »Ist das nicht Salzburg heut' abend, wenn das letzte Lauten in silberner Luft schwingt? O, göttlicher Mozart!«
Wie ein junger Schwärmer stand Karl Maria Tredenius und lächelte allen zu.
Kalt sagte Miriam: »Ich muß in die Oper.«
Tredenius nahm den Hut ab und strich nachdenklich über die Stirn: »Immer jung, Miriam? Wir beide, was?«
»Soll ich etwa nicht?« Lauernd kam es, der Mund war jetzt weich und willig, die Augen bettelten fast.
Schier jung reckte er sich hoch und freute sich seiner Schlankheit. Mit leisem Mitleid suchte er im Dunkel die Verwischten Linien der Miriam von einst.
Hoch oben, über dem herben, energischen Kontur des Opernhauses standen Dionysos und Ariadne auf dem Pantherwagen, in ewiger Jugend.
Jakobe trat hervor, schnell und selbstbewußt wie nur selten. Sie mußte jetzt etwas tun, das Widerstand und Widerspruch war. An Fünfzig waren die beiden, die da vorn wie Jüngling und Mädchen über den abendhellen Platz schritten.
»Papa, jetzt kaufen wir Renate endlich ein langes Kleid.«
Forcade erschrak: »Und die Mama?«
»Ach was!«
In letzter Zeit kannte auch Geheimrat Williguth diesen Ton. Im Opernhause blitzten gelbrote Lichter in den Garderoben. Fledermäuse taten den ersten Flug und schossen um die luftigen Galerien des Schloßturmes.
Renate legte den Kopf in den Nacken: »Nur schnell, sonst sperren sie alle zu.«
Und wie ein Wirbelwind lief sie voran.
So bekam Renate ihr erstes langes Kleid, freilich nur ein blaues Leinenfähnchen. Aber sie dehnte und streckte sich voll Behagen und blieb vor jedem Spiegelfenster stehen. Dann saßen sie zu viert in einer Weinstube, tief unten, daß der Lärm der Straßen nur als dumpfes Brausen kam, in einer Nische mit altdeutschen Schildereien und trinkfesten Sprüchen geschmückt. Renate zog fortwährend den Rock über den Knien glatt und strich mit den Schuhen über den Saum, um sicher zu sein, daß es wirklich so war.
Dann ging es wieder die Holztreppe empor. Draußen stand samtblau die Nacht. Die Sterne schwankten, als hätten sie zuviel himmlischen Wein getrunken. Autos tuteten und jagten rasselnden Droschken vor. Grünweiße Tramwagen surrten vorbei. Bunte Sommerkleider huschten aus dem Dunkel in das grelle weiße Licht der Bogenlampen und wieder zurück. Schwarze, alte Gassen schluckten die Helligkeit und gaben sie nimmer her. Die Hans Sachshäuschen schliefen schon, wie biederes Volk. Nur hier und da funkelte ein Licht. Die Gaslaternen flackerten in dem Wind, der von der Heide kam und den Ruch des blühenden Weißdorns brachte.
Forcade schob leicht die Hand unter Jakobes Arm: »Ja, die kleine Renate! Da hat sie nun das erste lange Kleid. Und auf einmal sagt denn der fremde Kerl, der sie fortholt, ›Papa‹ zu mir. Ach, ja!«
Jakobe machte die Lippen schmal. Ihr Vater sprach da plötzlich anders als sonst, wärmer, nachdenklicher. Neben ihr war einst niemand lächelnd und wehmütig gestanden, als milder Zuschauer, der alle Bangnis ihrer Jugend deutete. Damals hatte Graf Forcade für nichts Sinn gehabt als für sein großes Werk über das Porzellan der Meißener Frühzeit, das er nie vollendete. Jakobe fühlte plötzlich, wie ganz allein sie stand, den Williguths verfallen als willenloser Besitz, im Netz der Gewohnheit unlösbar verstrickt. Langsam machte sie ihren Arm frei: »Ich muß jetzt heim.«
Er hielt sie nicht zurück, und sie wartete doch darauf.
Zögernd sagte er nur und schlug die Augen nieder: »Ist es dir manchmal schwer Jakobe?«
Sie schüttelte den Kopf, zu stolz zur Weichheit. Da fragte er nichts mehr.
Achatz zog Renate am Zopf, der sich längst wieder aus der ungewohnten Frisur gelöst hatte.
»Schlafenszeit ist's!«
»Schon?«
Und sie lächelte verwundert.
Lau und lind war die Nacht. Ein schweres Duften überall. Und die Sterne glitzerten, als ginge hoch oben ein Wind über ihr Licht. Achatz trabte stumm neben Jakobe her. Aus schweren Baumgruppen tauchte Geheimrat Williguths weißes Haus. Grell schnitt das Licht zwei hohe Fenster ins Dunkel. Jakobe wandte sich jäh und sah den Ernst in Achatz' Gesicht. Die Kastanien rauschten, eine Laterne warf das schwarze Gaukelspiel von Zweig und Blatt auf den hellen Kies.
»Wie ist das mit euch, Jakobe?«
Scheinbar gleichgültig zeichnete sein Stock die huschenden Schatten nach.
Sie schrak auf. Dann spannte sie mit der starren Geste, die sie unmerklich vom Geheimrat angenommen, die Schultern nach hinten und zog die Arme zurück.
»Das wird nicht anders.«
»Es ist nicht gut, daß ihr es nicht wissen wollt, du und der Geheimrat.«
Gleichmütig sprach er zu dem schwankenden Schattennetz auf dem hellen Kies und hob die Augen nicht.
Jakobe beugte sich vor, als hörte sie ein dumpfes Knistern, wie wenn ein jäher Sprung durch feste Mauern fährt. Mit beiden Händen tastete sie vor sich.
»Wirf alles ins Spiel, dann kannst du ihn halten!«
Fast schrie er es hinaus in seinem Mitleid.
Schmal und schlank stand sie in dem gelben Flackerlicht der Laterne. Die Furcht war jetzt fort. In eine große Leere mußte sie hinein, und drin lauerte etwas, wider das man sie schickte, sie ganz allein. Aber sie beugte die Schultern nicht unter der neuen Last, drückte nur die Brust nach vorn, wie zum Sturmlauf gegen ihr eigenes Wesen.
»Es gilt,« sagte sie fest und krampfte Hand in Hand. Sie dachte, wie man erst Witte und dann Elias unter Martern von Leib und Seele aus ihr geholt, weil es so sein mußte. »Ich danke dir, Achatz.«
Der Wind schmetterte das Haustor ins Schloß, oder tat es Jakobe Williguths sonst so zage Hand.
In der Halle hob Hund Boabdil den Kopf von den Pfoten. Unwillig hatte er gewartet, nicht gewohnt, daß Jakobe allein so spät heimkam. Und Boabdil hielt wie sein Herr auf Ordnung und gute Sitte, von gewissen Mainächten abgesehen, wenn der Hundeteufel die Williguthsche Dressur besiegte. So bellte er kurz und gähnte dann mürrisch. Simon Gottesdank streckte den Hals und sagte mit leisem Verweis:
»Der Herr Geheimrat sitzen schon lange im Spielzimmer und die Frau Pastor auch.«
Neugierig bewegte er die Ohren, als Jakobe stumm durch den Korridor schritt. Boabdil trottete gelangweilt hinterdrein. Jakobe legte die Hand auf Heinz' Türklinke. Ihre Finger zitterten und waren so heiß, daß das Messing wie Eis in die Haut schnitt. Ganz selbstverständlich schien ihr auf einmal alles, was sie tat. Langsam zog sie die Tür hinter sich zu und stand im Dunkel. Ihr Horchen war umsonst, nichts regte sich, nur ihr Atem und der des Hundes. Als wäre das Warten noch die letzte Hoffnung und das Nichtsehenkönnen der letzte Trost, zögerte sie wieder.
Mit schnellem Griff machte sie dann Licht. Ihr Schritt hallte und verlor sich in den leeren Zimmern. Heinz Williguth war nicht daheim. Mit zusammengepreßten Lippen stand Jakobe, alt und finster, gar nimmer jung. Boabdil kam heran und leckte ihren Schuh, als spürte er die wortlose Qual. Langsam trabte er dann zurück in die Halle, immer Jakobe nach, wie in einer Pflicht, die er erst heute kannte.
Gottesdank spähte aus seinem Türspalt, die Hand auf dem Mund, in hellem Erstaunen, daß Frau Jakobe heute nicht ins Spielzimmer ging, sondern die Treppe hinauf. Feste Tritte drückten das Holz, heute war jeder Schritt ein Entschluß. Ruckweise sprang der Bulldogg von Stufe zu Stufe. Simon Gottesdank rieb die kantige Nase. Da ging etwas vor. Auch die Reichen hatten ihre Not. Er lächelte zufrieden.
Heute spielten der Geheimrat und die Schirlitz mit zwei Strohmännern. In den grauen Augen Philipp Emanuels war ein böses Licht. Die Hände bogen die Karten krumm. Der Schirlitz stand der Schweiß unter der Perücke. Eilig fielen die Karten und klatschten trocken auf das grüne Tuch. Da fragte er: »War das nicht Jakobes Schritt?«
»Ich weiß nicht.«
Wieder fielen die Karten.
»Sie wird müde sein. Bei Forcades ist immer Sturm im Wasserglase.«
Seine Stimme klang ruhig und unbewegt, und er fand sofort, daß die Schirlitz Renonce machte. Steif und aufrecht saß er da und strich mit der Linken die Falten aus der Stirn. Der Wind pfauchte wider die Fenster und warf jetzt schwere Regentropfen ans Glas.
»Gut, daß Jakobe rechtzeitig heimkam,« sagte er und mischte gleichmütig die Blätter. Dann horchten sie beide. Oben im Korridor klang Jakobes Schritt, Boabdil bellte, fast ein Winseln war es.
Philipp Emanuel Williguth sah auf: »Der Hund ist oben. Will keine Ordnung mehr sein?«
Am nächsten Abend fing Jakobe die graue Maus und ließ sie nicht aus dem Hause. Wieder spielten der Geheimrat und die Schirlitz mit zwei Strohmännern. Sie taten, als wäre es ganz selbstverständlich, daß Jakobe nicht da war. Keiner sprach von ihrer Abwesenheit. Nur um Philipp Emanuels Mund grub ein grimmes Lächeln. Tags darauf sagte er seine Ordination ab und saß im »Blauen Herrgott«. Johann Sebastian mußte ihm vorspielen, allerlei strenge Meister, obwohl er wenig oder nichts von Musik verstand.
Heiß und voll Sicherheit arbeitete der junge Williguth indessen an der verwaisten Klinik, seine Finger taten schnelles und gutes Werk. Erstaunt guckte Schückedanz auf diese Veränderung, an deren Dauer er nicht recht glaubte.
»Eingerostet bin ich doch noch nicht,« sagte Heinz und reckte die Arme, als er einen schweren Fall mit seiner sicheren, feinen Technik operiert hatte, und warf einen raschen Blick nach der Tür. Es war die Zeit, da sein Vater gegen Abend noch einmal die Klinik besuchte. Aber heute kam er nicht. Der Sohn blieb allein und ging von Bett zu Bett. Die alten Wärterinnen und Pflegeschwestern stießen sich heimlich an, weil seine Augen in ihrem Grau jetzt so trotzig leuchteten wie die seines Vaters.
An diesem farbenfrohen Maiabend packte Aurelius Schückedanz das Glas, in dem sein großer Goldfisch mit dem hübschen und passenden Namen »Röschen« faul und feist in die Sonne glotzte, wickelte es säuberlich in ein grünes Tuch und trug seinen Schatz vorsichtig durch den Fontainengarten. Es war heuer etwas früher als sonst, daß er sein Röschen bei Geheimrats in Sommerfrische gab, zu den vielen kleinen Goldfischen im tiefen Wasserbecken, über das der Springbrunnen seinen silberweißen Sprühschleier hängte.
»Jetzt kriegst du es wieder fein, liebes Röschen,« flüsterte Herr Aurelius dem dummen Goldkarpfen zu und gab acht, daß er das Wasser nicht verschüttete. Der Abend warf sein rotes Licht auf die grauen Sandsteinbilder und auf die blassen, blauen Teiche. Weiß und rot sanken überall die Kastanienblüten, das erste Lenzsterben hob an. Über die bunten Beete gaukelten halbschläfrige Schmetterlinge und nahmen den Honig mit gierigem Rüssel. Zwei Paare taten Leib an Leib den Hochzeitsflug in die goldhelle Höhe, weiße Pünktchen, die als Opfer verwehten. Mit lauter Wundern grüßte der satte und übermütige Frühling den ehrsamen Aurelius Schückedanz und seinen dicken Goldkarpfen.
Der Phlox blühte in allen Farben um den Springbrunnen, die letzten Bienen dieses Tages rafften noch schnell ein Nachtessen zusammen. Unter der alten Kastanie saß Jakobe Williguth, und vor ihr spielte Witte mit bunten Bausteinen. Aurelius Schückedanz schwang sein Glas zum Gruß: »Da bringe ich ›Röschen‹, gnädige Frau.«
Wie eine große Gnade klang es, als färbte der Geheimrat auf alle seine Selbstgerechtigkeit ab. Er wehrte Witte ab und liebäugelte mit dem stumpfsinnigen Fisch. Alles Zarte und Feine seiner unbeholfenen Seele hatte er in diesem Tier versammelt, wie in einer Sparbüchse. Er stellte das Glas auf die Bank und setzte sich bescheiden daneben, in seiner eckigen Hofmeisterart, die es stets als Auszeichnung empfand, daß er das Vertrauen dieses Hauses genoß, wie keiner sonst. Beschaulich faltete er die Hände und blinzelte in den schier verwirrenden Reichtum von Farbe und Licht. Er vermied es, Jakobe anzusehen. Um ihren Mund saß ein fester Zug, ihre Hände lagen zum Griff geformt im Schoß. Ganz anders als sonst.
Mit der Fußspitze strich er beinahe vorwurfsvoll den gelben Kies glatt.
»Der Geheimrat war heute nicht auf der Klinik.«
»Ach, ja,« sagte Jakobe mit trockener Kälte, die diese Neuigkeit gleichsam in einen staubigen Winkel stellte. Pedantisch straffte er die Weste über dem Pharisäerbäuchlein: »Und Heinz will alles anders als der Chef, justament, wie zum Trotz. Daß er niemals die Wege geht, die wir ihm bereiten! Er weiß gar nicht, was das heißt, der Sohn von Philipp Emanuel Williguth zu sein.«
»Was wollen Sie eigentlich von Heinz?«
»Nichts, gar nichts – ich wenigstens freue mich nur– – – .«
Hochmütig schnitt sie ihm das Wort ab: »Man muß Geduld haben.« Mit einer Starrheit, die sich selbst ein Ziel setzte.
Schückedanz kroch in sich zusammen. Ein schwerer Schritt kam über den Kies. Philipp Emanuel neckte den verlegenen Schückedanz und schwang Witte durch die Luft. Mit Jakobe sprach er kein Wort, nur einen Augenblick kreuzten sich ihre Augen, ernst und wie in Trauer, daß etwas zwischen ihnen stand.
Jakobe saß in Heinz' dunklem Ordinationszimmer und sah die Sterne als Lichtpunkte im Fensterausschnitt flimmern. Sie rührte sich nicht und horchte nur auf jedes Geräusch nebenan. In stummer Pflicht wartete sie so und nickte dem hellen Streifen zu, der zwischen Tür und Boden hinlief. Da drin arbeitete Heinz Williguth. Und Jakobe saß als Wächterin und wollte, wie die Williguths, ein einziges Mal den Ereignissen ihren Willen aufzwingen, auch über die Grenzen ihres eigenen scheuen und bedenksamen Wesens hinaus. »Wirf alles ins Spiel,« murmelte sie vor sich hin, »wirf alles ins Spiel!« Auftrumpfen müsse man den Williguths, hatte der Geheimrat selbst gesagt. Und auftrumpfen wollte Jakobe Forcade diesen beiden Williguth und allen wunden Stolz verbeißen. Mochte der Geheimrat zehnmal in spöttischer Galanterie den Kopf vor ihr neigen, wenn er sie spät abends im Korridor traf: »Verliebtes Völklein, verliebtes junges Volk!« Mochte Heinz zehnmal wie ein verwöhnter Junge nach ihr greifen und den schönen weichen Mund schmollend verziehen: »Laß doch den vielweisen Plunder! Kleine Jakobe du, glaubst du, ich weiß nicht, warum du kommst?« Das zornige Blut brannte ihr in allen Adern. Zur Dirne machte man sie in diesem unerbittlichen Hause. Aber sie wollte nicht stolz sein, nicht wund, nicht scheu. Sie wollte Heinz Williguth führen und zwingen, und wenn es Leben und Seligkeit kostete. Deshalb saß sie alle Nächte und wartete. Und Heinz in seiner lässigen, wetterwendischen Art fand Vergnügen an dem neuen Spiel. Fast übermütig deckte er Blatt nach Blatt mit seiner kleinen, feinen Schrift und lachte, wenn Jakobe sorgsam die Bogen zählte und liebkosend über das glatte Papier strich.
Ganz langsam rückten neue Sterne im Fenster vorüber. Aber der gelbe Lichtstreif zwischen Tür und Boden blieb. Schwer und schwül hing die Luft im Zimmer. Doch Jakobe wagte nicht ein Fenster zu öffnen, um die Arbeit drin nicht zu stören. Sie horchte angestrengt. Es blieb ganz still. Bloß das Rascheln des Papiers und das Kratzen der Feder. Aber dies feine Geräusch saß als Eindruck seit vielen Nächten im Ohr und stellte sich ein, wenn sie nur daran dachte.
Der Schritt des Geheimrats stapfte jetzt über den Korridor und die Treppe nieder. Vor der Tür machte er halt, als brächte ihn eine gemeinsame Furcht hierher. Jakobe wartete. Kam er jetzt, konnte alles gut werden. Aber nur sein Atem keuchte wider das Holz. Die Schritte entfernten und verloren sich. Sie blieb allein und stützte den Kopf in die Hände und die Ellenbogen auf die Knie. Pedantisch zerhackte die Uhr die laue Maiennacht. Jakobe hielt das schmale Licht im Auge, wie einen hellen Punkt in der Finsternis ihrer Sorge. Langsam richtete sie sich auf. Die Müdigkeit machte ihr jede Bewegung schwer. Unwillig streckte sie die Glieder und zwang sie zum Gehorsam. Im Fenster blitzten keine Sterne mehr. Ein heller Himmel stand im Glas. Sie ging zur Tür und horchte. Kein Papier raschelte, keine Feder knisterte. Sie drückte die Klinke nieder wie damals in der Regennacht. Und zögerte wieder. Die Angst, daß alle Qual umsonst sein könnte, strich über sie. Der schwere geschnitzte Stuhl vor dem Schreibtisch war leer. Und sie dachte plötzlich, daß ihr Vater Heinz diesen venezianischen Patrizierstuhl geschenkt hatte, und kam nicht los von dieser gleichgültigen Erinnerung, als hätte sie Furcht, weiterzugehen und weiterzuschauen. Das Licht schnitt grell ins Dunkel und brach dann ab. Sie griff nach den Papieren. Ein halbes Blatt war beschrieben, kleine Züge, hastig und schnell, aber klar in Reih und Glied gestellt, weil der Geheimrat stets auf gefällige und leserliche Schrift gehalten hatte. Auf dem Löschblatt waren Karikaturen hingekritzelt, kindisches Zeug, mit dem ein unwilliger Arbeiter die Zeit vertrödelt. Jakobe stand ganz still. Im Aschenbecher lag eine selbstverkohlte Zigarette, wie ein winziges Totengerippe. Und auf dem breiten roten Diwan schlief Heinz Williguth. Jetzt hörte sie seinen Atem. Die rechte Hand war unter den Kopf geschoben, die linke hing fein und schlank herab. Die Falten auf der hohen, schläfenschmalen Stirn lagen glatt, der starke Mund war rot und feucht. Das kurze Kinn trat weit zurück. Er lächelte im Schlaf. Der rechte Mundwinkel sank herab, wie in schlaffer Lust. Jakobe fror plötzlich. Sie wußte, daß ihr Spiel verloren war.
»Nie wieder!« sagte sie ganz laut und hart in einem neuen, knappen Ekel.
Heinz dehnte sich und schlug mit den Lidern, erwachte aber nicht. Mit festen Schritten, die schwer in die Stille schlugen, ging sie aus dem Zimmer. Nicht einmal das Licht am Schreibtisch drehte sie aus. Hier gab es nichts mehr für sie zu tun. Ein bittrer Geschmack saß ihr im Munde, wie von einem Lachen, das der Ekel erstickte.
Kühles, blasses Morgenlicht lag in der Halle. Draußen auf dem Kies scharrten die Rappen. Und auf dem Treppenabsatz stand der Geheimrat, groß und schwer im hellen Sommeranzug, eine Nelke im Knopfloch, den weichen grauen Hut auf dem mächtigen Kopf, und lächelte zu Jakobe nieder: »Was tust du da, Frauchen?«
Sie hob den Blick, aber kein trotziges Leuchten war mehr in ihren Augen, nur ein scheues Betteln vor seinem Spott. Da klang seine Stimme wieder: »Geh schlafen, Jakobe! Du bist müde.«
Schwer und nachdenklich blickte er sie an: »Die Menschen ändert man nicht so leicht, auch du nicht. Von innen muß es wachsen, wenn es Wert haben soll. Sonst bleibt es Stückwerk, Frauchen.«
Er kam herab und streichelte ihre Wange, wie man Besitz von seinem Eigentum ergreift. Sie duldete es und neigte den Kopf. Sie hatte keinen Widerstand mehr. In seinen Augen blitzte es wie Mitleid und zugleich wie Triumph, als wollte er sagen: Was kannst du richten ohne mich?
Dann schritt er zum Wagen, jung und leicht, wie der Maimorgen da draußen, und winkte zurück. Sie sah das Lächeln um seinen Mund. Langsam stieg sie die Stufen empor.