Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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So ging der Sommer zu Ende. Im Garten des Geheimrats war der alte Gärtner der Forcades am Werk, wie jedes Jahr. Er machte Jagd auf Rosenschädlinge, verbrannte verdächtige Blätter sorglich in kleinen, qualmenden Häufchen, trieb in einer Gartenecke allerhand Seltsames mit einer Düngermischung für das nächste Jahr, die vergraben und festgestampft sein strenggehütetes Geheimnis blieb, schnitt früh abgeblühte Stöcke mitleidlos zurück und veredelte wuchernde Kletterrosen. Welke Blüten in allen Farben verschenkten ihre Süßigkeit, aber sie lagen verstreut im Gras, und niemand dankte für ihren Duft. Auch im Hause begann das Reinmachen und Räumen und scheuchte Heinz Williguth hinaus. Simon Gottesdank hörte nach wie vor die Maus durch die Gänge huschen, nickte voll Weisheit und trank des Geheimrats Wein, weil ihn das zweite Gesicht wieder quälte. Und dann kam Flora Schirlitz mit Sommersprossen und einer neuen Handtasche aus Seehundfell, voll unwirschen Eifers, und schwang den Stab über den verdrossenen Köpfen des Gesindes, das faul und üppig war von der Sommerfreiheit und nur störrisch an die Arbeit ging. Der junge Williguth tat kurze Fragen nach Vater und Frau und schien verschlossener als je. Die Schirlitz faltete die Hände im Schoß und sah ihm nach, als er aus dem Zimmer ging, gleichgültig und doch sonderbar hastig. Gottesdank begann den Tisch abzuräumen und räusperte bedeutungsvoll. Aber die Schirlitz biß lieber die Lippen blutig, ehe sie ihrer bekümmerten Neugierde nachgab. Simon faltete ironisch die Serviette, die der junge Herr unter den Tisch geworfen, und wartete wie ein selbstbewußter kleiner Herrgott, zu dem die beladenen Menschen kommen müssen. Als ihn aber das hartnäckige Schweigen verdroß, stieg er mit Würde einige Stufen von seinem Thron und wisperte geheimnisvoll: »Es ist immer noch das alte Lied.«

Jetzt riß er die versoffenen Äuglein sperrangelweit auf und breitete die Arme, als wollte er seine Machtlosigkeit wider das üble Schicksal dartun. Und erkannte in diesem Augenblick, wie er mit diesem Hause verwurzelt war, daß er jetzt schwer atmete und die helle Angst ihn packte.

Flora Schirlitz schob die tiefschwarze Perücke zurecht und schritt, ohne ein Wort zu sagen, an der dürren krummbeinigen Wichtigkeit vorbei. Würdevoll rasselte sie mit dem Schlüsselbund, tat gar sicher und zuversichtlich und klopfte mit Staublappen und Flederwisch an der Tür von Heinz Williguth. Es blieb ganz still. Da besann sie sich, daß er heute Nachtdienst auf der Klinik hatte, und trat ein. Auf dem Schreibtisch war ein buntes Durcheinander, alle Schubladen standen offen. Die Schirlitz drehte den Schlüssel im Türschloß und richtete sich straff auf. Gottergeben trabte sie auf ihren breiten Füßen mitten hinein in ihre Pflicht. In einem Schubfach waren Philipp Emanuels Briefe achtlos durcheinander geworfen. Die Hausdame zögerte einen Augenblick. Ihre gichtknotigen Finger streckten sich und zogen sich wieder schnell zurück. Sie ließ die Briefe unberührt. Dann fand sie ein paar kleine, graue Billette von Jakobe Williguth. Auch die las sie nicht. Sie schnüffelte nur ein paarmal und gebrauchte umständlich das Taschentuch. Dann ordnete sie zornig die Papiere, die kreuz und quer mit Heinz' kleiner, flüchtiger Schrift bedeckt waren. Ihr Atem lief schnell und schwer durch die Kehle.

Sie lehnte sich in den hohen venezianischen Patrizierstuhl, den einst Jakobe mit ins Haus gebracht, und setzte die Hornbrille auf die Nase. Die Blätter knisterten zwischen ihren Fingern. Sie wußte nicht, was sie da eigentlich vor sich hatte, sie schaute nur pedantisch und ängstlich, ob auch alles fertig und abgeschlossen war. Auch sie maß alle Dinge nur nach ihrem Umfang und nach dem Wert, den sie einbrachten. Fast dreißig Jahre war sie schon im Hause und hatte ihre eigene Art ganz an die Umgebung verloren. Sie hatte Heinz aufgezogen, ihn verhätschelt und verwöhnt, dann seine Kinder betreut, und jetzt hielt sie seine Arbeit in der Hand. Sie mußte alles wissen. Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Sie hatte eine hübsche, ordentliche Reinschrift erwartet. Und da liefen die Zeilen kreuz und quer, und der Schluß stand gar erst auf kleinen Zetteln, in Notizen und Tabellen hastig hingeworfen. Das würde der Geheimrat mit Recht tadeln. Dann erschrak sie.

Zwischen den letzten Seiten lag ein Blatt mit einer Frauenschrift, die nicht von Jakobe stammte. Mit hochrotem Kopf las die Schirlitz das nicht ganz einwandfreie Blättchen und zerriß es dann in kleine Fetzen, die sie sorgsam in die Tasche steckte, daß ja nichts davon verstreut würde. Die alte Frau blieb ganz still, die Brille auf dem Nasenrücken, und starrte geradeaus. Sie sah Jakobe gelassen und doch voll verhaltener Unrast zwischen Witte und Elias, sie hörte ihren raschen Ausruf, wenn die Post kam, sie erinnerte sich der langen, sonnenroten Abende, wenn der Geheimrat auswärts war und Jakobe einsam auf ihrer Veranda saß, von welcher der Blick frei über das Meer ging. Und ihre in langer Witwenschaft altjüngferlich vertrocknete Seele erkannte mit einem Male dunkle Zusammenhänge und das Leid zwischen Mensch und Mensch. Fremd und gewaltsam zog das Leben seine Furchen und fragte nicht, ob sie über ein heißes Herz wegschnitten. Sie raffte sich auf.

Die Hauptsache war gerettet, die Arbeit, wie es schien, im großen und ganzen vollendet. Fast heiter tat sie ihr Werk mit Wischen und Stauben und putzte eifrig, als gelte es, allenthalben Staub und Flecken zu tilgen. Als Heinz heimkam, sagte sie schlicht: »Ich habe die Arbeit gesehen. Ist sie wirklich fertig?«

Er zuckte die Achsel: »So ziemlich.«

»Ich hätte eine Bitte.«

»Na, was denn?«

Sie brauchte das alte, trauliche »Du«, wenn sie mit ihm allein war.

»Schau, Heinz, der selige Schirlitz hat mir auch immer die Predigt in die Feder vorgesagt. Laß es jetzt auch so sein! Ich freue mich auch ganz kindisch, daß du so fleißig warst.«

Sie wurde rot und lächelte über den breiten, häßlichen Mund.

»Ob es auch etwas taugt?«

So hatte er schon als kleiner Junge immer gezweifelt, wenn er ihr seine Schulaufgaben zeigte.

»Aber, Heinz, das muß ja gut sein!«

Sie wog den Stoß engbeschriebenen Papiers stolz in der Hand.

Er zögerte noch: »Weißt du, das ist so'ne Sache – –.«

»Wir haben noch viele Abende. Da ist reichlich Zeit, wenn wir fleißig sind. Und dann –.«

Wie im Triumph streckte sie den Arm und wies in eine hellere Ferne.

Er streichelte ihre alte Hand und blieb so eine Weile.

»Gleich jetzt!« sagte sie schnell, genau wie sie ihn einst zur lateinischen Präparation eingefangen hatte. Und sie ging ihm voran und schrieb bis zum Morgen und staunte, wie seine tonlose Stimme jetzt Klang und Farbe hatte. Dazwischen kochte sie schwarzen Kaffee und brachte ihm Zigaretten. Und Heinz tat ihr den Willen, ging aus sich selbst heraus und baute knappe, klare Sätze, die jetzt auch im Stechschritt marschierten, aber sie merkten es beide nicht.

Das ging zwei Wochen so fort. Dann setzte sie fein säuberlich den Schlußpunkt, malte Titel und Datum hin und war froh und stolz. Nun mußte alles gut werden, und sie lachte aller Welt ins Gesicht.

»Na, da siehst du mal!«

Er blickte sie unsicher an und strich langsam über die Stirn.

An diesem Abend kam ein Telegramm aus Konstanz. Des Superintendenten Befinden hatte sich plötzlich verschlechtert, und Frau Albine verlangte nach Heinz. Daß sie so eigenmächtig alle Familienordnung durchbrach und nicht den Geheimrat aus Zoppot berief, zeigte dem jungen Williguth, wie schlimm es mit Onkel Friedemann stehen mußte. Denn es geschah nicht oft, daß die so fügsame Albine überhaupt eigenen Willen bekundete oder gar allein handelte, ohne erst rundum zu fragen. Und er wunderte sich fast, daß man gerade ihn zu Hilfe rief.

Flora Schirlitz hielt das Papier mit beiden Händen mißtrauisch von sich ab: »Warum nicht der Geheimrat?«

Da war er plötzlich hochfahrend und sah sie nur zornig an. Abermals empfand er die starre Art der Williguths als etwas Fremdes in seinem Blut und wußte, daß diese schnelle Reise auch eine erwünschte Flucht vor Vater und Frau war. Denn er hatte eine mißtrauische Scheu vor dem ersten Zusammentreffen, wenn der Zwang freundliche und lächelnde Gesichter schuf, das Leben wieder auf eisernen Schienen lief und jede Stunde von vornherein ihren Merkzettel bekam. Er haßte alle die glatten, wohlerwogenen Worte, die wie Seiltänzer über Abgründe sprangen.

Aber Friedemann wollte durchaus heim. So brachten Heinz und Albine den Schwerkranken in das stille Haus hinter St. Pankraz.

Da kamen nun alle Williguths, die der Herbst in die Stadt führte, und standen traurig und schwerfällig in der guten Stube mit dem großen Lutherbild, dicht gedrängt, daß ihre großen plumpen Körper allen Raum ausfüllten. Johann Sebastian fingerte den Rand seines Zylinders und blickte zum Himmel, doch es war mehr Zorn als Frömmigkeit. Auch der Herrgott sollte ihm zu willen sein. Flüsternde Frauen trösteten die verzweifelten dicken Töchter Friedemanns, denen kugelrunde Tränen aus den Augen tropften. Frau Aline stand hilflos in der Mitte und wartete auf irgend einen Befehl.

Nur Philipp Emanuel kam noch immer nicht. Verwundert, daß einer von ihnen sie im Stiche ließ, steckten sie die Köpfe zusammen.

Und Apollonia sagte endlich: »Du hast ihn gekränkt. Albine.«

An keinem Williguth konnte ein Tadel sein, bei angeheiratetem Frauenvolk war es ein ander Ding. Von allen Seiten beguckt und bedrängt, richtete sich Albine Williguth auf. Ihre knochigen Finger zerrten an dem schwarzen Kleid, das schlapp an der dürftigen Gestalt hing, das farblose, demütige Gesicht wurde rot vor Arger. Selbst die sonst so ängstlichen Augen bekamen plötzlich ein drohendes Funkeln. Eines ganzen Lebens still getragene Bürde schien von ihr zu gleiten. Dann aber sank sie gleich wieder in die alte, längst gewohnte Ergebenheit in den Willen dieser Familie und sagte nur angstvoll: »Es ist doch mein Mann, um den ich mich sorge.«

Unbehaglich stießen sie sich an, verwundert und ärgerlich, daß dieses unbeachtete Geschöpf einen Williguth ganz für sich in Anspruch zu nehmen wagte, weil sie ihm Kinder geboren hatte.

»O, du!« schnappte Apollonia und war geneigt, der dürftigen Albine alle Schuld an Friedemanns Krankheit aufzupacken. Johann Sebastian schwang feierlich den Zylinder, bedrückt, daß er hier nicht schimpfen und wettern konnte. Er öffnete ein paarmal den Mund und schloß ihn wieder, wie ein Fisch, dem die Luft ausgeht.

Gundl Trebenius fand das rechte Wort. Sie packte ihre zwei geschwätzigen Töchter an den runden Schultern und drehte sie zur Türe: »Jetzt macht endlich, daß ihr rauskommt!«

Sie wies sehr deutlich von einem zum andern, und es blieb kein Zweifel, daß sie die ganze hochmögende Familie meinte. Gottlob Krusemann aber mußte sich einen eindrucksvollen Abgang schaffen. Wichtig, mit schöner Empfindung in seinem Baß, wandte er sich zu Karl Maria Tredenius: »Was soll aus den vaterlosen Waisen werden, wenn wirklich – –?«

Da stand der Geheimrat in der Tür, eine kleine Reisetasche in der Hand, das Haar verstaubt, das Gesicht alt und verfallen. Bloß die grauen Augen hatten ihr helles Leuchten. Die Williguths wichen vor ihm zurück. Nur Krusemann konnte sein Plappern nicht lassen und verbreitete sich über den traurigen Anlaß. Der Geheimrat schob ihn wie ein Kind zur Seite: »Erzähle das deinen Schulbuben!«

Apollonia hielt ihn an den Rockklappen fest: »Denke mal bloß, daß nun Friedemann krank ist!«

Sie küßten sich fast niemals.

»Ja, Mutter,« sagte er müde und blinzelte rundum. Aurelius Schückedanz, der ein Stockwerk tiefer bei seinem Vater gerade Mittagrast hielt, kam hereingestürmt. Polykarp hatte sein Pfeiflein am Fenster geschmaucht und den Geheimrat im Automobil erkannt.

»Ist hier ein Kaffeehaus?« fragte Philipp Emanuel scharf und zog die Brauen hoch. Langsam gingen da die Williguths. Vor ihm hatten sie alle Angst. Und dann war Friedemann jetzt in guten Händen. Nur ein Williguth konnte ihm helfen.

»Wo ist mein Sohn?«

Schückedanz hob vorsichtig den Zeigefinger gegen das Krankenzimmer. Grollend kam Philipp Emanuels Stimme aus der breiten Brust: »Auf der Klinik war natürlich keiner von euch zu finden. Man braucht euch nur mal unerwartet kommen. Die Hüftgelenksresektion habe ich gleich selbst gemacht. Lotterwirtschaft!«

Er gähnte. Einen Augenblick sank sein Kopf nach vorn. Dann straffte er sich wieder und blickte geradeaus. Die Hand auf der Türklinke fragte er: »Mit welchem Unsinn habt ihr beide denn das Volk erschreckt?«

Und diese spöttische Überlegenheit behielt er auch bei, als er mit Schückedanz und Heinz in der Pfarrkanzlei den Fall Friedemanns wissenschaftlich erörterte. Dann rieb er in unwilliger Anerkennung die Handrücken aneinander und sagte langsam: »Nun, du bist ja recht eifrig geworden.«

Und blickte verwundert, daß Heinz dazu nur ruhig und gemessen lächelte. Breit strich Philipp Emanuels Hand durch die Luft: »Du siehst entschieden zu schwarz.«

»Warten wir ab!«

Jetzt stützte der Geheimrat den Kopf in die Hand und grübelte. Langsam ging sein Blick zu Heinz, ein mißtrauisches Prüfen auf Willen und Kraft. Dann aber schmunzelte er, wie Gottvater, wenn er seinen Engeln das Weltregiment wieder abnimmt: »Wir wollen es zunächst mit Jod versuchen.«

Schückedanz nickte ergeben, Heinz aber kreuzte die Arme: »Du glaubst selbst nicht, daß dies helfen kann.«

»Na, mein Junge, wir wollen es darauf ankommen lassen.«

Grämlich verzog er den Mund. Jetzt haßte er seinen Sohn.

Es war eine üble Heimkehr.

Das behagliche Ausruhen hatte ihn etwas schlaff gemacht, das Frauenlächeln seine Eitelkeit umschmeichelt. Er fühlte sich wie ein Gott, der ewig jung bleibt und immer recht hat. Und da spazierte jetzt sein Bub im Gelehrtenrock vor dem eigenen Vater. Verdrossen lehnte sich Philipp Emanuel wider dies neue Wesen auf. Da mußte Ordnung werden.

Als er durch den Rosengarten schritt, die zurückgeschnittenen Stöcke betrachtete und an den bunten kleinen Herbstrosen roch, beschloß er kurzerhand, auch sonst ringsum unerwünschtes Rankenwerk abzuknipsen. Er holte die Gartenschere und schnitt da und dort in den Büschen. Die Bewegung tat ihm wohl. Das Blut stockte nicht mehr, sondern rann hell und schnell. Da lächelte er plötzlich im Gedanken, daß er seine Jugend sich überhaupt erst beweisen sollte. Noch trug er die Krone und fühlte sie nicht als Last. Die andern konnten lange warten, bis er ging. Er reckte die Arme und schlug sie durch die Luft. Sein Vater spielte noch immer die Orgel und war an Sechsundachtzig. Sie alle waren von gesunder Rasse. Da dachte er an Friedemann und furchte sekundenlang die dichten Brauen.

Fast zornig reckte er sich wieder auf und ließ die Schere schnappen. Jetzt sollte Leben ins Haus, er brauchte sein Haustyrannentum wie einen Bissen Brot. Er blieb der Herr, immer und alle Tage. Lampen sollten überall brennen und mit ihrer hellen Wärme die langen fröstelnden Abende betrügen. Fröhliche Gäste wollte er und alle prunkhaften und behaglichen Geräte seines Reichtums. Jakobe und die Kinder sollten ihn erheitern, wenn sein Bruder Friedemann schon krank war. Wieder furchte er steilrecht die Brauen, dann lachte er. Oben lag ja die Chronik in Schweinsleder. Als Patriarchen waren die Williguths gestorben. Freilich, es gab Ausnahmen. Er blieb stehen, senkte die Schere und stampfte unwillig auf. Am Abend schrieb er an Jakobe und berief sie heim.

 


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