Hans Hart
Das Haus der Titanen
Hans Hart

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An diesem Abend saß sie nicht mehr im dunklen Ordinationszimmer und hielt nicht mehr den schmalen Lichtstreif zwischen Tür und Fußboden im Auge, sondern las dem Geheimrat mit ihrer klaren Altstimme aus deutschen und englischen medizinischen Zeitschriften vor. Das geschah sonst regelmäßig jede Woche, diesmal aber waren mehr Hefte zusammengekommen, weil Jakobe in der trotzigen Kampfzeit absichtlich alles liegen ließ, was ehedem unabänderliche Pflicht und Gewohnheit war. Philipp Emanuel hörte gelassen und aufmerksam zu und strich nur, wenn er ein neues Heft hinüberreichte, leicht den Staub ab, als leise Mahnung an das, was jetzt glücklich vorüber war. Und dann schlang er mit einem ganz stillen Lächeln die Finger ineinander und verknüpfte gleichsam abgerissene Fäden. Später rauchte er seine Schlafzigarre im Garten, und die Glutspitze schimmerte wie ein Leuchtwurm im Dunkel der Kastanienallee, überall lagen jetzt rote Blüten auf dem gelben Kies, der seltsame Duft von Weihrauch, welkenden Rosen und bitteren Birkenblättern hing scharf und betäubend in der Luft, dazu ein Geruch von frisch umbrochener Erde. Und an manchen Stellen im Buschwerk roch noch das faulige Laub vom Vorjahr und spottete aller drängenden Fruchtbarkeit des jungen Sommers. Der Himmel war niedrig und wolkenumzogen und drohte mit Regen. Jakobe schritt stumm und steif rechts vom Geheimrat, neben ihr purzelte Hund Boabdil in absonderlichen Affensprüngen. Mit leisem Schrecken und doch nicht ohne ein müdes, lässiges Behagen empfand Jakobe, wie aller Trotz und Streit zu Ende, wie sie mehr denn je willige Tochter und Geschöpf des Geheimrats war. Ruhige Klarheit spannte da ein willkommenes Dach, und man durfte darunter nur nicht vorwitzig hervorlugen. Das litt er nicht.

Philipp Emanuel wies auf den Goldfischteich, wo der ewig ruhelose Springbrunnen seine weißen Schleier ins Dunkel hängte: »Gib acht, daß Witte nicht den dummen Fisch unseres wackeren Aurelius da herausfängt! Man soll jedem sein Spielzeug lassen.«

Fast strenge sah er sie an und legte einen heimlichen Nachdruck auf das Wort »Spielzeug«.

»Überhaupt magst du Witte etwas kürzer nehmen, liebes Kind. Er wird zu üppig. Ein Williguth braucht Hiebe.«

Und er stäubte die Asche ab, in einer gemessenen, abschließenden Bewegung, die alles Unliebsame und Unnütze glatt entfernte. Jakobe hatte einen gequälten Zug um den Mund. Sie sah den schönen, weichlichen Heinz Williguth auf dem roten Diwan schlafen. Dem hatte dieselbe Strenge in seiner Kindheit den Willen gebrochen. Sie schüttelte ein letztes Mitleid ab und ging weiter. Boabdil trottete gelangweilt hinterdrein, nur der Kies knirschte, sonst blieb alles still.

In Philipp Emanuel war eine starre, grollende Unruhe, daß er nur Schweigen erzwingen konnte und kein tapferes Wort. Fast zornig stieß er den Atem.

»Nun wird es ja laut und lebendig in unserer Stille, wenn Renate morgen kommt.«

Ein ungeduldiger Vorwurf klang darin.

»Ja,« sagte Jakobe gedrückt.

»Wenn die mal 'nen Mann kriegt, die kleine Renate, die macht einen Prachtkerl aus ihm.«

Er lachte in einem fast lauernden Behagen. Wieder fühlte Jakobe, daß er ihre Schwester höher stellte als sie selbst, voll grämlicher Anerkennung. Wie eine Last lag das auf ihr. Er legte ihr jäh die Hand auf die Schulter, schwer und hart, die Finger zur Faust geballt: »Jakobe, ich war heute bei Heinz drüben, habe alles gelesen, ganz langsam, Wort um Wort.«

Ihr Schweigen war ein langes Warten.

»Es ist gut. Er kann, wenn er will. Aber, Jakobe, es ist ein Anfang, nichts weiter als ein Anfang. Und weiß Gott, mit einer halben Arbeit werde ich ihn niemals durchlassen. Gerade weil er mein Sohn ist.«

Ganz leise rührte sie an seinem Arm: »Wenn du wolltest –.«

»Nein, Jakobe. Ich bin's nicht, der ihn hindert. Aber er muß das Seine tun, wie jeder andere.«

Und er warf die Hand von ihrer Schulter und gab etwas frei. So standen sie eine Weile.

Auf der Holztreppe kam ihnen Flora Schirlitz entgegen, eine graue verstaubte Pappschachtel im Arm, und schützte den eingerissenen Deckel sorgsam vor dem Herabfallen. Um die tiefschwarze Perücke hatte sie ein blaues Seidentuch gewunden.

»Ach, du mein Gott, diese Spinnweben! Da habe ich die alten Tennisbälle auf dem Speicher zusammengesucht.«

Philipp Emanuel schmunzelte: »Aha, für Renate.«

»Der Herr Doktor hat sie verlangt.«

Jakobe erinnerte sich, wie sie in der ersten Zeit oft mit Heinz gespielt hatte. Später war das freilich eingeschlafen. Und morgen kam Renate, weil ihre Eltern in London waren. Und die sollte mit den Bällen spielen, die Jakobe als Mädchen hier ins Haus gebracht hatte. Die Schirlitz sah den seltsamen Blick der jungen Frau und erschrak, die Schachtel geriet ins Wanken, lustig hüpften weiße und rote Bälle die dunklen Holzstufen herab. Jakobe straffte die Schultern und verzog ganz unmerklich den Mund. Philipp Emanuel hatte sein hellstes, verbindlichstes Lächeln, nur die Augen blieben leer und hart. Er rieb die weißen Hände leicht aneinander, wie er es zu tun pflegte, wenn er einem Kandidaten eine geistreiche Falle gestellt hatte.

»Ach, die Bälle,« sagte er endlich und dehnte die Worte zu einer heimlichen Spottmelodie, »es soll mir lieb sein, wenn Heinz für seine Freistunden daheim eine Partnerin findet. Ein wenig Training ist ja immerhin zuträglich, auch für dich, Jakobe.«

In den grauen Augen lag das Lauern und ein kaum versteckter Vorwurf.

»Ich werde nicht mittun, Papa.«

Er stieß mit dem Fuß nach einem roten Ball, lächelte wieder und hielt Boabdil, der mit einem Satz darauf los stürzen wollte, mit eisernem Griff am Halsband. Das zornige Keuchen des Hundes schien ihn zu belustigen.

»Gute Nacht, Jakobe.«

»Gute Nacht.«

Sie ging langsam die Treppe hinauf. Die Schirlitz stapfte umher und las die verstreuten Bälle auf. Dann verschwand auch sie.

Philipp Emanuel stand noch eine Weile allein in der Halle und hielt den Hund fest. Dann ließ er ihn laufen, richtete sich auf und ging in sein Arbeitszimmer.

 


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