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Es glühte seine Wange rot und röter
Von jener Jugend, die uns nie entfliegt.
Goethe.
Drei Jahre lang war Schiller von schweren Anfällen seines Leidens verschont geblieben. Drei große dramatische Werke waren die Früchte dieser Zeit gewesen. Er hatte etwas Zuversicht zum Leben und Vertrauen auf seine Kräfte wiedergewonnen. Zwar täuschte er sich über seinen Zustand im ganzen nicht; allein er glaubte doch hoffen zu können, daß ihm »Leben und leidliche Gesundheit« bis ins fünfzigste Jahr ausreichen würden; jetzt zählte er fünfundvierzig. Aber im Sommer 1804 ergriff ihn die Krankheit wieder mit einer Macht, gegen die er sich vergebens wehrte und die endlich nach dreivierteljährigem Ringen ihn überwältigte. Auf den Wunsch seiner Frau war er auf einige Wochen mit ihr nach Jena gezogen, wo sie die Geburt ihres vierten Kindes erwarten sollte, weil sie zu dem dortigen Arzt besonderes Vertrauen hegte. Dort gab eine Erkältung bei einer Spazierfahrt im Dornburger Tal den ersten Anlaß zu den schmerzhaften Anfällen, die seine Kräfte unwiederbringlich raubten. Seit diesem Krankenlager in Jena, wo der Arzt ihm vor der Krisis »keine halbe Stunde Leben mehr gegeben hatte«, ward er sichtlich schwächer; auch »seine Gesichtsfarbe war verändert und fiel ins Graue«; seitdem folgten sich häufigere Krankheitsanfälle. Während er in Jena so schwer darniederlag, wurde seine zweite Tochter, Emilie, geboren, und mit tiefer Bewegung betrachtete er das Kind, das man an sein Krankenlager getragen hatte. Der Wunsch, die Existenz der Seinen über sein Leben hinaus zu sichern, beschäftigte ihn in dieser letzten Zeit lebhaft; aber er konnte nicht mehr verwirklicht werden.
Von vielen Seiten wird uns überliefert, wie wohltuend Schillers Wesen sich in dieser letzten Zeit, da schon Schatten des Todes sich über seinen Weg breiteten, entfaltet und geklärt hatte. Seine Schwägerin berichtet darüber: »Eine unaussprechliche Milde durchdrang Schillers ganzes Wesen und gab sich kund in all seinem Urteilen und Empfinden; es war ein wahrer Gottesfrieden in ihm.« Lotte schrieb an die Schwägerin Christophine: »Er wurde immer milder ... sah das Leben immer mehr aus einem höheren Gesichtspunkte an.« Sehr schön hat denselben Gedanken Wilhelm Humboldt ausgedrückt: »Sie sind der glücklichste Mensch. Sie haben das Höchste ergriffen und besitzen Kraft, es festzuhalten. Es ist ihre Region geworden, und nicht genug, daß das gewöhnliche Leben Sie darin nicht stört, so führen Sie aus jenem besseren eine Güte, eine Milde, eine Klarheit und Wärme in dieses hinüber, die unverkennbar ihre Abkunft verraten.«
Von diesem »Glück« hat nun freilich Schiller selbst nicht viel empfunden. Die lyrischen Gedichte seiner letzten Jahre zeigen unverkennbar eine schwermütige, unbefriedigte, sehnsuchtsvolle Grundstimmung. Als der Dichter die Hauptschöpfungen seiner philosophischen Lyrik hervorgebracht hatte, im Jahr 1795, als er dann in den »Xenien« alle Gegner seiner Anschauungen so grausam überfallen hatte, als er dann alle seine Kraft in den »Wallenstein« legte und dessen Gelingen mit höchster Freude selbst empfand, da war er von dem Bewußtsein einer klar erkannten Wahrheit erfüllt gewesen und zugleich von dem Vertrauen, daß er fähig sei, diese Wahrheit erschöpfend darzustellen. Es war die Frucht seines philosophischen Strebens gewesen, deren er sich einige Jahre hatte erfreuen dürfen. Aber ein Schiller konnte auf keiner Stufe dauernd stehen bleiben; »es war ein furchtbares Fortschreiten in ihm«, hat Goethe gesagt. Etwa seit der Wende des Jahrhunderts sehen wir die Freude am geistigen Besitz verschwinden und unruhvolles Verlangen sein Gemüt wieder beherrschen. Charakteristisch dafür sind zuerst die »Worte des Wahns«, die 1799 entstanden; dieser »Wahn« ist nichts anderes als der landläufige Optimismus. Diesem wird zwar ein anderer Optimismus entgegengestellt; aber einer, der nur im Streben und Sehnen sich äußert, der keine Befriedigung kennt. »Verscherzt ist dem Menschen des Lebens Frucht, solang er die Schatten zu haschen sucht«: –
»Solang er glaubt an die goldne Zeit,
Wo das Rechte, das Gute wird siegen...«
»Solang er glaubt, daß das buhlende Glück
Sich dem Edlen vereinigen werde...«
»Solang er wähnt, daß dem ird'schen Verstand
Die Wahrheit je wird erscheinen;
Ihren Schleier hebt keine irdische Hand,
Wir können nur raten und meinen.
Du kerkerst den Geist in ein tönend Wort,
Doch der Freie wandelt im Sturme fort.«
Aber es liegt in der menschlichen Natur, daß solcher Verzicht auf Befriedigung doch immer wieder durch ein Sehnen nach Befriedigung abgelöst wird, und aus schmerzbewegter Stimmung dieser Art entsprang einige Jahre später Schillers Gedicht »Sehnsucht«. Hier ist nicht nur der Wunsch nach Erkenntnis, sondern der Wunsch nach einem harmonischen Dasein lebendig, in dem Innenwelt und Außenwelt, Gedanke und Erfahrung sich zur ewigen Einheit zusammenschließen sollen. Mit Reizen, die er selbst nie geschaut, die Goethes Schilderungen von Italien heraufrufen, hat der Dichter jenen beglückenden Zustand ausgemalt, der unerreichbar, durch einen reißenden Strom geschieden, ihn lockt und zu sich zieht. Nochmals überkommt ihn jene Stimmung der Zuversicht, die einst »Das Ideal und das Leben« erfüllt hat, jener Zuversicht, daß eine mächtige Willenserhebung genüge, um jene beglückende Harmonie zu gewinnen, und mit dem Rufe:
»Du mußt glauben, du mußt wagen«
ermuntert er sich, mutig dem Strome sich anzuvertrauen. Ein noch späteres Gedicht, eines der letzten Schillers, hat dieses Bild noch weiter ausgeführt. Unter der Gestalt des »Pilgrims« führt der Dichter sich selber vor, wie er auszieht, um die ewige Wahrheit zu suchen.
Denn mich trieb ein mächtig Hoffen,
Und ein dunkles Glaubenswort,
Wandle, rief's, der Weg ist offen,
Immer nach dem Aufgang fort.
Bis zu einer goldnen Pforten
Du gelangst, da gehst du ein:
Denn das Irdische wird dorten
Himmlisch unvergänglich sein.
Abend ward's und wurde Morgen,
Nimmer, nimmer stand ich still,
Aber immer blieb's verborgen,
Was ich suche, was ich will...
Und zu eines Stroms Gestaden
Kam ich, der nach Morgen floß,
Froh vertrauend seinem Faden
Werf' ich mich in seinen Schoß.
Hin zu einem großen Meere
Trieb mich seiner Wellen Spiel,
Vor mir liegt's in weiter Leere,
Näher bin ich nicht dem Ziel.
Unter dem Bilde des Stroms hat der Dichter hier die Bahn philosophischen Denkens dargestellt, auf der er glaubte sein Ziel erreichen zu können; vor allem die Kantische Philosophie. Auch sie hat ihn endlich enttäuscht; er hat ihre Selbstzersetzung erlebt, hat gesehen, wie auch sie in das weite Meer unfaßbarer Spekulationen ausmündete. Wieder sieht er sich auf sich selbst zurückgeworfen, und so muß er sein Gedicht mit dem klagenden Ausruf schließen:
Ach, kein Steg will dahin führen,
Ach, der Himmel über mir
Will die Erde nie berühren
Und das Dort ist niemals hier!
Das ist nicht der Ausruf eines schwärmenden Jünglings, sondern des nahe am Ziel stehenden fünfundvierzigjährigen, mit Ruhm überschütteten Mannes, des Idealisten, den die Erfahrung eines ganzen Lebens nicht mit der Wirklichkeit ausgesöhnt hat. Und nun vergleiche man, mit wie stolzer Zuversicht Goethe Himmel und Erde als Einheit zusammenfaßt!
Und wenn mich am Tag die Ferne
Blauer Berge sehnlich zieht,
Nachts das Übermaß der Sterne
Prächtig mir zu Häupten glüht,
Alle Tag' und alle Nächte
Fühl' ich so des Menschen Los:
Denkt er ewig sich ins Rechte,
Ist er ewig schön und groß.
Wer will es wagen, über so verschiedene Empfindungsweisen ein Urteil zu fällen? Sie beruhen auf dem tiefsten Grunde der Persönlichkeit und bilden sich nach notwendigem innerem Gesetz. Und gewiß wäre es unrichtig, Schillers schroffe Scheidung von Ideal und Wirklichkeit nur aus seinem Lebensgange oder gar nur aus einzelnen Erfahrungen erklären zu wollen. Er hätte sicherlich »in jedem Kleide die Pein des engen Erdenlebens« gefühlt, und auf keiner Entwickelungsstufe des äußeren wie des inneren Lebens hätte er dauernde Befriedigung gewonnen.
Diese nie rastende Unbefriedigung erweist sich auch bis zum Schluß in seinem dramatischen Schaffen. Wie er selbst auf immer neuen Wegen sein Ziel zu erreichen strebte, haben wir von Schritt zu Schritt verfolgt; charakteristisch aber ist auch, daß er an den Nachahmungen seiner Werke nicht die mindeste Freude hatte. Immer schroff in seinem Urteil, war er es am meisten gegen die, die unmittelbar ihm nachzustreben wähnten. »Die eselhafte Nachahmungssucht der Deutschen regt sich mehr als jemals«, schrieb er im letzten Lebensjahr an Humboldt, – »jene Sucht, die bloß im identischen Wiederbringen und Verschlechtern des Urbildes besteht. Solche Nachahmungen hat auch mein Wallenstein und meine Braut von Messina vielfach hervorgebracht, aber man ist auch nicht um einen Schritt weiter gefördert.« Schiller tat hierin jenen Dichterlingen, die für den Tagesbedarf der Bühne sorgten, unrecht; denn wo sollte plötzlich eine solche Anzahl von originalen Genies herkommen, als nötig wäre, um diesen Tagesbedarf zu versorgen? Aber welch selbstlose, ideale Gesinnung spricht auch aus diesem Verdammungsurteil; wie weit von allem Cliquenwesen, allem persönlichen Verehrerbedürfnis war dieser Mann entfernt, der nur die Sache im Auge hatte, die Sache der aufsteigenden Entwickelung deutscher Poesie, und nur dadurch sich »gefördert« sah!
In dem letzten großen dramatischen Unternehmen Schillers, dem »Demetrius«, war der Dichter wieder im Begriff, einen entschiedenen Schritt vorwärts zu tun. Die im »Wilhelm Tell« geübte Kunst der Massenbeherrschung, die in der Rütliszene ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde noch übertroffen in der mit feierlicher Ruhe beginnenden und in wilde dramatische Erregung übergehenden Szene des Polnischen Reichstags. Aber damit verband sich eine psychologische Vertiefung und Verfeinerung des Stoffs, an welche die Charakterzeichnung im Tell bei weitem nicht hinanreicht, ja wie sie seit dem »Wallenstein« Schiller nicht mehr unternommen hatte. Zu dieser psychologisch so interessanten Behandlung wurde der Dichter geführt durch das tiefe tragische Problem, das er aus dem Demetriusstoff zu gewinnen wußte. Der »Tell« ist sein einziges nicht tragisches Drama geblieben, und von ihm wandte er sich offenbar mit besonderer Hingabe an die Ausgestaltung eines neuen tragischen Stoffs. Den so verschieden beurteilten Usurpator zeichnet Schiller als einen Mann, der durchaus zum Herrschen berufen ist, der durch ein berechtigtes, edles Selbstgefühl naturgemäß dahin geführt wird, zu glauben, was man ihm über seine fürstliche Abstammung, über seine fürstlichen Pflichten zu berichten und zu beweisen sich bemüht. Inmitten seines Siegeszuges wird ihm plötzlich das Geheimnis seiner Herkunft, das Spiel, das Intriganten mit ihm getrieben, enthüllt. »Du hast mir das Herz meines Lebens durchbohrt,« ruft er aus, »du hast mir den Glauben an mich selbst entrissen. Fahr hin, Mut und Hoffnung! Fahr hin, du frohe Zuversicht zu mir selbst! Freude! Vertrauen und Glaube! In einer Lüge bin ich befangen. Zerfallen bin ich mit mir selbst; ich bin ein Feind der Menschen! Ich und die Wahrheit sind geschieden auf ewig! Was? Diese großen Völker glauben an mich? Soll ich sie ins Unglück, in die Anarchie stürzen und ihnen den Glauben nehmen? Soll ich mich als Betrüger selbst entlarven? Vorwärts muß ich. Feststehen muß ich, und doch kann ich's nicht mehr durch eigene innere Überzeugung. Mord und Blut muß mich auf meinem Platz erhalten –.« Es ist nur ein erster Entwurf, den Schiller in diesen Worten rasch skizziert hat, aus dem er später sicherlich ein imponierendes Zeugnis seiner Sprachgewalt und Seelenkunde geschaffen haben würde. Aber auch in dieser Form schon zeigt er aufs deutlichste die Peripetie der tragischen Handlung. Was bisher recht war, wird plötzlich unrecht, und zwar durch ein Verhängnis, das ohne Verschulden an den Helden herantritt, dem gegenüber er aber in die Lage versetzt wird, einen Teil seines Wesens, seine Kraft oder seine Wahrheit zu verleugnen. Für ihn als heroische Persönlichkeit ist das erste nicht möglich; das zweite ruft notwendig den tragischen Ausgang hervor.
Die Herausarbeitung dieser tragischen Verwickelung ist durchaus Schillers Verdienst, da der Stoff ihm nur in ganz äußerlicher, roher Gestalt überliefert war. Über die Echtheit und Unechtheit des Demetrius war viel gestritten worden; Märtyrer oder Betrüger oder Betrogener, das schienen die Möglichkeiten zu sein; auf die interessante Lösung Schillers war wohl niemand verfallen. Schon lange hatte er sich ja mit dem Motiv des Prätendententums, das wir aus »Warbeck« bereits kennen, getragen, hatte es gewiß oft hin- und hergewendet, ehe er die richtige Behandlung fand. Auch der Stoff des »Demetrius« taucht schon 1802 unter Schillers Plänen auf, als »Bluthochzeit von Moskau«. Definitiv hat er sich zu ihm entschlossen erst im März 1804, wohl auch angeregt durch das allgemeine Interesse für Rußland, das damals in Weimar durch die Verlobung des Erbprinzen mit der Großfürstin Maria erweckt wurde. Ein anderer Entwurf, »die Gräfin von Celle«, dessen Anlage ungemeine psychologische Tiefe und Feinheit der Ausführung gefordert hätte, mußte vor dem großen welthistorischen Bilde zurücktreten.
Denn wie es Schillers Art war, so erfaßte er neben dem speziellen tragischen Problem auch den allgemeinen völkerpsychologischen Konflikt, in dem es eine Phase bildet, mit der vollen Kraft seines Geistes. Auch in dieser Hinsicht ist »Demetrius« ein Gipfelpunkt der dramatischen Geistesarbeit Schillers. Der ererbte Gegensatz zwischen Russen und Polen, der zugleich ein Gegensatz zwischen östlicher und westlicher Kirche ist, der kühne Versuch, durch einen mit jesuitischer List ins Werk gesetzten Handstreich diesen Kampf zu entscheiden, und das daraus folgende entgegengesetzte Ergebnis, die Konzentration Rußlands, die Vorbereitung einer großen Zukunft durch das Haus der Romanows, – das ist mit mächtigem, welthistorischem Blick angeschaut und dargestellt. Prachtvoll hat Goethe diesen Inhalt wiedergegeben in den Stanzen, mit denen er in seiner großen Weimarer Ruhmesdichtung von 1818 den »Demetrius« charakterisiert hat. Die zahlreichen Bearbeiter und »Vollender« des Stückes aber sind gerade daran gescheitert. Sie haben das welthistorische Gemälde in den Rahmen einer kleinen Intrigentragödie gezwängt.
Schillers große Konzeption drängte natürlich auch zu einer breiten und reichen Ausführung. Es war nicht leicht, die passende dramatische Konzentration des Stoffes zu finden. Anfangs, bei der ersten Bearbeitung im Jahre 1804, ließ der Dichter das Stück schon mit der Vorgeschichte des in Verborgenheit und Niedrigkeit lebenden Prätendenten beginnen; als er im Frühjahr 1805 sich von neuem an den Stoff machte, erkannte er die Notwendigkeit größerer Beschränkung und begann dann mit der grandiosen Reichstagsszene, die in der Tat die denkbar glänzendste Eröffnung der Tragödie bildet. Aber auch der damals entworfene Plan hätte sicherlich bei der Ausführung noch manche Vereinfachung erfordert.
Zwischen jenen beiden Arbeitsperioden lag wieder eine Zeit schwerer körperlicher Leiden. Es erregt einen imponierenden und ergreifenden Eindruck, wenn man überschaut, mit welchem Fleiß und welcher Zähigkeit Schiller inmitten dieser Leiden die umfassendsten Vorstudien für die neue Dichtung machte. Große Fascikel von Auszügen historischen, geographischen und ethnographischen Inhalts zeugen davon. Es mochte ihm die Sammelarbeit wohl über manche schlimme Zeit, wo der dichterische Quell unter der Last des Siechtums erstarb, hinweghelfen.
Ganz überraschenderweise aber mußte er plötzlich auch als Gelegenheitsdichter auftreten. Die neue Erbprinzessin, Großfürstin Maria, zog im November 1804 in Weimar ein, und Goethe, in diesem Winter auch von Krankheit viel geplagt, hatte zu spät bedacht, daß auch das Theater an den allgemeinen Feierlichkeiten sich beteiligen müsse. Da er sich unfähig fühlte, etwas zu leisten, so ließ sich Schiller bereden, einen festlichen Prolog zu dichten. Am 12. November wurde das zarte lyrische Spiel »Die Huldigung der Künste« aufgeführt. Das günstige Vorurteil, das der Fürstin überall entgegenkam, besonders auch der sympathische Eindruck, den sein Schwager Wolzogen in Petersburg empfangen, hatten Schiller die Dichtung erleichtert, welche die Gefeierte zu Tränen rührte. In einer Kleinigkeit aber zeigte Schiller auch hier doch wieder, daß er nicht zum Hofdichter geschaffen war. Bei dem Hinweis auf die zivilisierende Regierung des Kaisers Alexander brauchte er die Worte: »Er schafft sich ein gesittet Volk aus Wilden«; diese Zeile wurde unpassend gefunden und mußte verändert werden.
An den Festlichkeiten, die den Empfang der Großfürstin begleiteten, beteiligte sich auch Schiller mit heiterem Mute: aber sofort muhte er dies wieder mit einem schweren Anfall seiner Leiden büßen. Niedergedrückt von dieser neuen Hemmung, wandte sich der Unermüdliche zu einer Übersetzungsarbeit, nur »um nicht ganz untätig zu sein und um das verstimmte Instrument wieder einzurichten«. Er wußte, daß er dem Herzog eine Freude bereitete, wenn er wie Goethe eine französische Tragödie auf die deutsche Bühne brachte; er wählte die »Phädra« von Racine und setzte sich vor, daß sie schon am Geburtstag der regierenden Herzogin Luise gespielt werden solle. In der Tat brachte sein rastloser Fleiß in wenig Wochen die schwierige Aufgabe der Übertragung des Alexandrinerstücks in den fünffüßigen Jambus zustande; den physischen Druck, unter dem Schiller stand, wird niemand dieser Übersetzung anmerken, die sich gleichwertig neben Goethes »Mahomet« und »Tankred« stellen kann. Dazwischen beschäftigten den Dichter Vorbereitungen zu einer Gesamtausgabe seiner Dramen, die er mit Cotta verabredete, sowie die Durchsicht der Othello-Übersetzung des jungen Voß. In dieser strich und kürzte er nicht nur manches, sondern gab auch der Sprache größere charakteristische Kraft und Eindringlichkeit. Der junge Schriftsteller schloß sich in diesem Winter immer inniger an Schiller und dessen Familie an und erleichterte durch sein hilfsbereites, zartfühlendes Wesen manchen schweren Augenblick. Dagegen war es für Schiller ein Schmerz, daß er Goethes Umgang jetzt fast ganz entbehren mußte. Für beide war dieser Winter so schlimm, daß sie nur selten das Haus verließen. Besorgt fragten sich ihre Freunde, welchen von beiden sie eher verlieren sollten; doch Goethes starke Natur überwand allmählich das hartnäckige Leiden.
Schiller fühlte endlich seine Kräfte erlahmen. Als er im Februar wieder von einem starken Fieber heimgesucht war, bekannte er dem Freunde: er sei bis auf die Wurzeln erschüttert und werde Mühe haben, sich zu erholen; das Schlimmste aber sei, daß er nur mit Mühe eine gewisse Mutlosigkeit bekämpfen könne. Als er sich wieder ins Freie wagen konnte, war sein erster Gang zu Goethe. Beide, die sich lange nicht gesehen, »küßten sich in einem langen, herzlichen Kusse, ehe Eines von ihnen ein Wort hervorbringen konnte. Keiner von ihnen erwähnte seiner, noch des anderen Krankheit, sondern beide genossen der ungemischten Freude, wieder mit heiterem Geiste vereint zu sein.«
Und noch einmal riß sich Schiller empor. Im März kann er Goethe berichten: »Ich habe mich mit ganzem Ernst endlich an meine Arbeit angeklammert und denke nun nicht mehr so leicht zerstreut zu werden. Es hat schwer gehalten, nach so langen Pausen und unglücklichen Zwischenfällen wieder Posto zu fassen, und ich mußte mir Gewalt antun. Jetzt aber bin ich im Zuge.« Diesem März und folgenden April verdanken wir alles, was vom »Demetrius« nach dem zweiten Plan ausgeführt worden, den ersten Akt mit seinen bunt lebendigen Reichstagsbildern und im schärfsten Kontrast dazu den Anfang des zweiten, der uns in die öde Weltabgeschiedenheit der verwitweten Zarin einführt. Mit dem fortschreitenden Frühling wagte sich Schiller auch wieder hinaus; zu Ende April war er nochmals bei Hofe. Am 1. Mai besuchte er noch das Theater. An seiner Haustüre traf er Goethe, der ihn aber nicht zurückhalten wollte; die kurze Begegnung war ihr letztes Zusammensein. Die Aufführung – es wurde ein Lustspiel gegeben – fand Schillers Beifall. An diesen letzten Theaterbesuch hat Goethe in seinem Nachruf erinnert:
»Ihn, wenn er vom zerrüttenden Gewühle
Des dunklen Tages wieder aufgeblickt,
Ihn haben wir dem lästigen Gefühle
Der Gegenwart, der stockenden, entrückt,
Mit guter Kunst und ausgesuchtem Spiele
Den neubelebten, edlen Sinn erquickt,
Und noch am Abend vor den letzten Sonnen
Ein holdes Lächeln glücklich abgewonnen.«
Noch in seiner Loge wurde Schiller von einem Schüttelfrost überfallen; am nächsten Tage fand ihn Voß matt auf dem Sofa in halber Bewußtlosigkeit. »Da liege ich wieder,« sagte er mit hohler Stimme. Und er sollte sich nicht mehr erheben; seine Kräfte nahmen von Tag zu Tag ab. Seine Gattin hoffte noch auf Genesung; die nächsten Freunde aber täuschten sich nicht über die traurige Wahrheit. Voß fand an einem dieser Tage Goethe mit tränenerfüllten Augen in seinem Garten. Er berichtete ihm von Schiller; mit seiner gewohnten Ruhe erwiderte Goethe nur: »Das Schicksal ist unerbittlich und der Mensch wenig.« Viel war in dieser letzten Krankheit die Schwägerin Karoline um Schiller. In einem freieren Augenblick versuchte er nochmals nach seiner Art ein Gespräch philosophisch-ethischen Inhalts mit ihr anzuknüpfen; sie wehrte ab, um ihn zu schonen; und er schloß mit den Worten: »Nun mich niemand mehr versteht und ich mich selbst nicht mehr verstehe, so will ich lieber schweigen.« Er schien selbst sein Ende zu ahnen, wenn er auch nicht davon sprach; man hörte ihn ausrufen: »Du von oben herab, bewahre mich vor langen Leiden!« Einmal als er aus dem Schlaf erwachte, fragte er wie mitleidig: »Ist das eure Hölle, ist das euer Himmel?« Als ihn Karoline fragte, wie es ihm gehe, antwortete er: »Immer besser, immer heiterer.« Am letzten Tage lag er fast immer ohne Bewußtsein und gab nur Lotte Zeichen, daß er sie noch erkenne. Am 9. Mai, um 5 Uhr nachmittags, trennte sich schmerzlos der freie Geist von dem siechen Körper, den er so lang unter seinen Willen gezwungen hatte. Wohl als das letzte, was die müde Hand geschrieben, fand man die Reinschrift des Monologs der Marfa auf dem Schreibtisch des Dichters liegen. Der gewaltige Aufschwung, mit dem sich die Witwe über die Trostlosigkeit ihrer Vereinsamung erhebt und dem lange totgeglaubten Sohne ihr Wünschen und Hoffen entgegensendet, erscheint wie ein letzter zusammenfassender Ausdruck alles idealen Sehnens, das bis auf das Totenbett hin das Sehnen des Dichters erfüllt hatte:
O warum bin ich hier geengt, gebunden,
Machtlos mit dem unendlichen Gefühl!
Du ew'ge Sonne, die den Erdenball
Umkreist, sei du die Botin meiner Wünsche ...
Ich habe nichts als mein Gebet und Flehn,
Das schöpf' ich flammend aus der tiefsten Seele,
Beflügelt send' ich's in des Himmels Höhn ...
Dem leidenden Goethe wagte niemand die Todesnachricht mitzuteilen. Zunächst wurde ihm nur eröffnet, Schillers Zustand sei sehr ernst. Am nächsten Morgen richtete er an Christiane die Frage: »Nicht wahr, Schiller war gestern sehr krank?« Der Nachdruck, den er auf das »sehr« legt, wirkt so heftig auf sie, daß sie laut zu schluchzen anhebt. »Er ist tot?« fragte Goethe mit Festigkeit. »Sie haben es selbst ausgesprochen,« war die Antwort. »Er ist tot,« wiederholte Goethe noch einmal, wendete sich seitwärts, bedeckte die Augen mit den Händen und weinte, ohne eine Silbe zu sagen.
Schillers Hinterbliebenen wurde der schmerzliche Trost des Arztes zuteil, daß der Zustand seines Körpers ihm unter allen Umständen nur noch eine ganz geringe und von schweren Qualen bedrückte Lebensfrist gestattet hätte. Die Sektion ergab nicht nur eine fast völlige Zerstörung der Lungen, sondern auch eine Desorganisation zahlreicher anderer innerer Teile, die auf eine längere Folge von Entzündungen zurückschließen ließ. Nur seine gewaltige Willenskraft hatte so lange den Geist in diesem zerstörten Körper noch schöpferisch erhalten.
Das Begräbnis fand mit großer Einfachheit und Stille statt. Eine poetische Totenfeier auf der Bühne plante Goethe; aber er fand nicht die Kraft, den gedankenreichen Entwurf auszuführen. Erst Monate später dichtete er als Epilog zu einer szenischen Darstellung der »Glocke« jenen Nachruf, der das herrlichste Zeugnis nicht nur für Schillers Persönlichkeit, sondern auch für die ideale Auffassung ist, in der Goethe sie sah. Und diese ideale Betrachtung ist er nicht müde geworden, seitdem durch Wort und Schrift, wo sich nur Gelegenheit darbot, auszusprechen, bis zur Herausgabe des gemeinsamen Briefwechsels, in welcher er Schiller preist als den, der »unablässig gestrebt und gewirkt, und wenn auch körperlich leidend, im Geistigen der immer sich gleich und über alles Gemeine und Mittlere stets erhaben gewesen«.
Überhaupt sorgten alle, die Schiller nahe gestanden, in treuester Weise für sein Andenken. Lotte lebte forthin nur der Erinnerung an ihn und der Erziehung ihrer Kinder, die glücklich heranwuchsen; materiell erleichtert wurde ihre Lage durch die Fürsorge der Erbprinzessin von Weimar und Dalbergs. Körner sammelte die zerstreuten Werke des Verewigten und gab die erste Gesamtausgabe in Cottas Verlag heraus. Karoline von Wolzogen schrieb – nach dem Tode ihrer Schwester – die erste Biographie Schillers, die diesen Namen verdiente, und ließ zugleich durch zahlreiche Auszüge aus seinen Briefen ihn sich selber zeichnen. Humboldt veröffentlichte seinen Briefwechsel mit dem Freunde und schickte eine ausführliche Charakteristik voran, die bis heute unübertroffen geblieben ist und in den Worten gipfelte: »Er wurde der Welt in der vollendetsten Reife seiner geistigen Kraft entrissen und hätte noch Unendliches leisten können. Sein Ziel war so gesteckt, daß er nie an einen Endpunkt gelangen konnte, und die immer fortschreitende Tätigkeit seines Geistes hätte keinen Stillstand besorgen lassen.«
Der Gedanke, Schillers irdischen Resten eine besondere, würdige Ruhestätte zu bereiten, regte sich erst mehr als zwei Jahrzehnte nach seinem Tode. Goethe hegte den Wunsch, mit Schiller an einem gemeinsamen Begräbnisplatz vereinigt zu werden. Daraufhin faßte Karl August den hochherzigen Beschluß, daß beide Dichter einstmals in der Fürstengruft ruhen sollten und daß Schillers Gebeine sogleich dorthin übergeführt würden. Bei dem feuchten Zustand des Gewölbes, in dem sie bisher beigesetzt waren, war der Sarg bereits zerfallen, und nicht ohne Mühe war es möglich, die Gebeine von anderen, die sich dort befanden, zu sondern. Auch Goethe wandte seine Aufmerksamkeit darauf, und die sinnende Betrachtung des Schädels seines unvergeßlichen Freundes entlockte ihm Verse, in denen das Leben mit wunderbarer Gewalt jeden hamletischen Grabesgedanken überwindet:
»Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte,
Die gottgesandte Spur, die sich erhalten!
Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte,
Das flutend strömt gesteigerte Gestalten.
Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,
Wie bin ich Wert, dich in der Hand zu halten,
Dich, höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend,
Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen,
Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend.
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare,
Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre!«
Fest bewahrt auch blieb im Herzen des deutschen Volkes, was Schillers Geist erzeugt hatte; ja es gewann dort immer weitere Anerkennung und Liebe. Hatte der Dichter schon in seinen letzten Lebensjahren die Freude gehabt, sein rastloses Streben trotz all seiner Strenge mit dem Erfolg der Popularität gekrönt zu sehen, so wuchs nach seinem Tode diese Popularität rasch von Jahr zu Jahr. Alle Gegenwirkung sowohl des jungen romantischen Kreises als auch der Vertreter platter »Aufklärung« war vergeblich. Nach zehn Jahren durfte der Freund verkünden, schon längst habe sich unter ganzen Scharen das Herrlichste verbreitet, das zuvor nur das alleinige Eigentum dieses Geistes gewesen sei. Und je weiter die Zeit vorschritt, um so mehr erwies sich, daß von allen Dichtern unserer klassischen Literaturperiode Schiller am meisten in Kenntnis und Bewußtsein des Volkes überging und auch am meisten auf die nachfolgende Dichtung wirkte. Die Feier seines hundertsten Geburtstages (1859) gab davon einen überwältigenden Beweis. In unserer Literatur war es vor allem das Drama, das vollständig unter die Herrschaft des Schillerschen Vorbildes geriet. Es war das nicht zufällig, sondern lag in der Natur der Sache begründet. Vor Schillers Auftreten hatten wir tatsächlich kein eigenes, kein in besonderer Art ausgeprägtes Drama. Wir kannten das griechische und römische, das französische und italienische, das englische und das dänische Drama; wir lernten das spanische, ja das indische Drama schon kennen, und es war ein halbes Jahrhundert lang über die verschiedenen dramatischen Formen diskutiert worden; aber eine bestimmte Richtung hatte die Produktion nicht erhalten; eine dramatische Form, welche unserem Wesen, unserer Kultur so entsprach, wie das französische, spanische, englische Drama der Eigenart jener Nationen, war nicht entstanden. Von der formstrengen Alexandriner-Tragödie war unser Drama rasch zu extremem Realismus übergesprungen, um sich dann im »Tasso« zu einer ganz vergeistigten Erscheinungsform zu wandeln. Schiller gelang, wie wir sahen, im »Wallenstein« der entscheidende Wurf, und er befestigte den Erfolg durch die fernere rasche Folge seiner Produktion. Die Begeisterung ganz Deutschlands, vor allem der Jugend, bewies, daß man in ihm den Meister des deutschen Dramas erkannte. Die Form, die er ihm gegeben, entsprach dem hohen Idealismus des »Zeitalters der Humanität«, und zugleich der Freude an schöner Sprachform, die in einem ästhetisch gebildeten Geschlecht lebendig war. Der Inhalt, den er durch die geniale Verschmelzung von Tun und Leiden, von Charakter und Verhängnis zu gestalten wußte, stellte einen neuen Typus tragischer Kunst in der Weltliteratur auf. Ein Jahrhundert lang hat seitdem das Schillersche Drama durch zahllose Nachfolger die deutsche Bühne beherrscht, so beherrscht, daß selbst schaffenskräftige Talente anderer Richtung, wie ein Hebbel und Ludwig, nicht gebührende Anerkennung fanden. Gegenwärtig sehen wir diesen Bann gebrochen; wir sehen, wie sich Werke ganz anderen Stils die Bühne und allmählich auch einen Teil des Publikums erobern. Aber diese Erweiterung des deutschen Dramas geschieht nicht zum Schaden Schillers, dessen Werke fortfahren, eine unerschöpfliche Wirkungskraft auf den Brettern zu beweisen. Und das kann nicht überraschen. Denn jene modernen Werke realistischen Stils beruhen auf fremdländischen Anregungen und werden daher immer mehr von dem literarischen Feinschmecker als von dem unbefangen Genießenden gewürdigt werden; Schillers Produktion dagegen, die »Braut von Messina« ausgeschlossen, war eine durchaus eigenartige, auf völlig selbständige Verarbeitung der Errungenschaften früherer Zeiten gegründete; das Schillersche Drama ist ein ausschließliches Eigentum des deutschen Volkes. Damit ist nicht gesagt, daß es für alle Zeit die gültige Form bleiben müsse. Eine solche Behauptung wäre am wenigsten im Sinne Schillers selber. Aber auch wenn wir uns aller Prophezeiungen enthalten, so dürfen wir Schiller den Tatsachen gemäß das Verdienst zuschreiben, dem deutschen Drama die schon seit einem Jahrhundert herrschende Form gegeben zu haben, und Vorbilder dieser Form, die zu den glänzendsten Schöpfungen der dramatischen Literatur aller Zeiten gehören.
Geringer ist die Bedeutung seiner Lyrik geworden; gegenüber der Fülle zarter und tiefer lyrischer Klänge, die von den Zeiten des Hainbundes an bis auf die Mitte des vorigen Jahrhunderts in deutscher Zunge erschollen sind, erschien Schillers Lyrik spröde und stimmungslos. Und nicht ohne Grund. Wir wissen es ja, wie wenig ihm lyrisches Aussprechen der eigenen Empfindung Bedürfnis war. Mit seltenen Ausnahmen entsprang seine Lyrik einem äußeren Anlasse – aber nicht im Sinne des Goetheschen »Gelegenheitsgedichts« –, oder sie entstand im Zusammenhang mit einem größeren dramatischen oder epischen Plan. Schillers Seelenleben erscheint am reinsten und vollsten in seinen Briefen, in denen er bald die wechselnden Stimmungen seines erregbaren Gemüts, bald die großartige Festigkeit seines dauernden Charakters zum Ausdruck bringt. Mit vollem Recht haben Freunde und Verwandte schon früh begonnen, diesen reichen Schatz der Öffentlichkeit darzubringen. Jetzt ist durch eine vollständige chronologische Ausgabe es jedem Schillerfreunde leicht gemacht, die ganze Reihe der Briefe als eine fortlaufende Selbstdarstellung seines Fühlens, Denkens und Wollens auf sich wirken zu lassen. Manches darin ist freilich rein geschäftlichen Inhalts; aber wer nur die Briefe an Goethe und Humboldt, an Körner und seinen Kreis, an die Gattin und Schwägerin, an die Eltern und Geschwister in zusammenhängender Folge an sich vorüberziehen läßt, wird dadurch in Schillers Wesen tiefer eingefühlt werden, als es einer biographischen Erzählung oder systematischen Charakterdarstellung gelingen kann.
Wenn aber Schiller als reiner Lyriker nicht große Wirkung erzielt hat, so ist das um so mehr auf zwei Grenzgebieten der Lyrik ihm gelungen, dem lyrisch-epischen und dem lyrisch-didaktischen. Seine Balladen dürfen wohl die populärsten Gedichte der deutschen Literatur genannt werden, nicht nur die, welche aus dem deutschen Leben geschöpft sind, sondern auch die, welche griechische Stoffe, meist recht fernliegender Art, behandeln. Der Sänger Ibykus, die Tyrannen Polykrates oder Dionys sind allen vertraute Gestalten geworden. Wenn Schiller in jenem Distichon:
»Kannst du nicht
Allen gefallen durch deine Tat und dein Kunstwerk,
Mach es
Wenigen recht!
Vielen gefallen ist schlimm.«
es als die höchste, aber kaum zu verwirklichende Aufgabe hinstellt, allen zu gefallen, so ist ihm dies Höchste in seinen Balladen wirklich gelungen, die für hoch und niedrig, für jung und alt ein gemeinsames Eigentum geworden sind, denen man eben deshalb keine besondere Bewunderung mehr widmet, weil man sie fast schon wie etwas natürlich Gegebenes betrachtet.
Wenigen dagegen ist Schillers didaktische, philosophische Lyrik ein dauerndes Eigentum geworden, wenigen, aber nicht den Schlechtesten. Das Eigenartigste seines Wesens hat er in sie gelegt und in ihr sein dauerndstes Werk » aere perennius« geschaffen. Wohl ist sie in vollem Maß nur dem Deutschen verständlich, weil ganz und gar aus deutschem Wesen entsprungen. Und zwar aus der Form, welche dem deutschen Wesen in der Zeit der Reformation gegeben worden ist, die ja nicht nur auf das protestantische Deutschland gewirkt hat! Mit der Entstehung des Protestantismus hat der deutsche Geist seine Kindlichkeit, seine Natürlichkeit, seine Unbewußtheit – Schiller würde sagen seine Naivetät – eingebüßt. Der bewußte ernste Wille ist sein Inhalt geworden. Der dadurch gesetzte Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit erfüllt auch Schillers philosophische Dichtung; er stellt sich mit ihr als einen der großen, geistig sittlichen Erzieher unseres Volkes hin, und vor allem verkündigt er die Nichtigkeit des Wirklichen, den ausschließlichen Wert des Überirdischen. Den Versuchen, den kindlich-naiven Geist durch Rückwendung zur Vergangenheit und ihrer Märchen- und Wunderstimmung wieder zu gewinnen, stand er gänzlich abweisend gegenüber. Wohl träumte auch er von einer wiederzugewinnenden harmonischen Einheit der menschlichen Natur; aber sein vorwärtsdringender Geist konnte sie nur von der Zukunft erhoffen. In Goethe sah er eine Vorausnahme der Errungenschaft eines in weiter Ferne liegenden Zeitalters; daher die grenzenlose Bewunderung, die er für ihn hegte. Und in der Tat liegt die einzigartige universelle Größe Goethes darin, daß er in seiner Persönlichkeit Natur und Idee, Empfinden und Denken, Unbewußtheit und Bewußtsein zu vereinigen vermochte, daß er, wie Schiller es ausdrückte, zugleich Grieche und Deutscher war. Es liegt hierin seine Größe, aber auch seine Unerreichbarkeit; es liegt hierin, daß sein Wesen ein stets zu neuem Betrachten und Forschen aufrufendes, unerschöpfliches Problem ist. Schillers Wesen dagegen liegt in großen Zügen, einfach und klar, vor uns.
Die entschieden germanische Eigentümlichkeit Schillers bringt es mit sich, daß andere Nationen schwer für ihn Verständnis gewinnen, daß er nicht ein populärer Dichter in der Weltliteratur werden kann. Besonders die romanischen Völker, die sich neben aller Überkultur dennoch ein Erbteil von Kindlichkeit und Naivetät bewahrt haben, welches die Nordländer immer von neuem fesselt – ihnen fehlt zu Schillers Eigenart jeder Zugang, während sie diesen zu Goethes weit gezogenem Kreise von einzelnen Punkten aus doch zu finden wissen. –
Wie Schillers Sein und Schaffen national bedingt war, so auch sichtlich durch sein Zeitalter bedingt. Er ist der Sohn des achtzehnten Jahrhunderts, nicht der »Aufklärung« in ihrem beschränkten Sinn; denn er hat schon die Anregung Rousseaus und Herders empfangen; aber doch des humanen Idealismus, der überzeugt ist, die Außenwelt schließlich doch nach den Forderungen seiner Innenwelt veredeln zu können. Und weil er der Ausdruck des Zeitalters geblieben ist, ist er auch uns schon historisch geworden, spricht nicht mehr unmittelbar zu uns. Es ist das besonders da der Fall, wo er seinen Ideen eine Körperlichkeit verleihen wollte, wofür er doch nur die Formen und Gestalten der realen Gegenwart verwerten konnte. Ein Marquis Posa ist, obgleich er erklärt, als ein Bürger derer, welche kommen werden, zu leben, doch schon für uns nach hundert Jahren eine Gestalt der Vergangenheit geworden, aus deren Munde wir nicht unsere Zeit, und noch weniger die Zukunft reden hören.
Aber Schiller selbst ist auf diesem Standpunkt nicht stehen geblieben. Er hat sich durchgerungen zu einem Höheren, zum Bewußtsein der vollen Unabhängigkeit der idealen Innenwelt von den Realitäten und den Formen der Außenwelt. Und dort, wo er aus diesem Bewußtsein heraus schafft, dort, wo er, wie in seiner philosophischen Dichtung, nur frei aus sich selber redet oder sich der längst zeitlos gewordenen Bilder der antiken Mythologie bedient, dort, wo seine Schaffenskraft, in der Denken und Dichten sich so eigentümlich durchdrangen, sich über und außerhalb aller Schranken bestimmter politischer oder historischer Verhältnisse stellt, da leistet er das Höchste, da bringt er die geniale Eigenart seiner Persönlichkeit zur Geltung. Und was er in dieser Art geschaffen (mit reifster Vollendung in »Ideal und Leben«), das reiht sich ebenbürtig den unvergänglichen Gipfeln geistigen Schaffens an, auf welchen zu allen Zeiten und unter allen Völkern, in Orient und Occident, erhabene Geister es gewagt haben, dem Überirdischen und Ewigen sich ahnungsvoll zu nähern. Ihr persönliches Kennzeichen aber erhalten diese höchsten Schöpfungen Schillers dadurch, daß sie unter beständigem Druck des Leidens entstanden, daß jede von ihnen ein tatsächlicher Beweis der Erhebung ist, welche sie fordern, der Überwindung der Schranken der Wirklichkeit. Ruhe und Friede des inneren und äußeren Daseins hat er auf diesem Wege nur selten gefunden; es war ein Weg des Streites und Kampfes, aber im höchsten und edelsten Sinn. Und wenn je mit Recht ein Lorbeer, der dem Kämpfenden noch nicht von allen Händen gereicht wurde, dem gefallenen Helden mit einmütigem Preisen auf die Bahre gelegt worden ist, so ist es der Lorbeer, der Schillers bleiche, hochragende Stirn unverwelklich bekränzt.