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IX

Freundschaftsbild mit Goethe, Horen und Musenalmanach

Kannst du nicht allen gefallen
Durch deine Tat und dein Kunstwerk,
Mach' es wenigen recht,
Vielen gefallen ist schlimm.

Schiller.

Unter den großen Namen, die Schiller für das neue Unternehmen der »Horen« gewinnen wollte, standen obenan Goethe, Kant und Herder. Auf Wieland war nicht zu hoffen, da sein »Merkur« ihn ganz in Anspruch nahm. Von Kant war auch nicht mehr als eine wohlwollende und ermutigende Antwort, keine wirkliche Beteiligung zu erwarten. Auf Goethe und Herder mußte aber ernstlich gerechnet werden, wenn die Zeitschrift werden sollte, was man sich von ihr versprach. Beide haben auch ihre Mitarbeit gewährt; aber wenn das Verhältnis Herders zu Schiller immer ein kühles, fremdartiges blieb, so wurde die Anteilnahme Goethes zu einer wirklichen geistigen Genossenschaft und Mitkämpferschaft. Das war freilich nicht nur das Verdienst der »Horen«, sondern die Frucht eines glücklichen Augenblicks, den das Schicksal endlich nach langen Jahren trüber Kälte sonnenhell aufleuchten ließ. Ein Augenblick, der es wohl verdiente, daß man ihn alljährlich mit dankbarem Gedenken beginge, wenn uns nur Tag und Stunde genau überliefert wäre.

Die erste Anfrage, die Schiller an Goethe richtete, war natürlich den Umständen nach eine sehr höfliche und förmliche; aber sie nahm doch schon eine nähere Beteiligung in Aussicht, da sie Goethe nicht nur um Beiträge für die Zeitschrift ersuchte, sondern ihn auch bat, in den begutachtenden Ausschuß einzutreten, der dem Redakteur zur Seite stehen sollte. Goethe nahm an. Er hatte sich gerade jetzt entschlossen, nach einer Periode politischen Interesses und politischer Dichtung, nach der Teilnahme an den Feldzügen von 1792 und 93, nach der Arbeit am »Großkophta« und den »Aufgeregten«, am Reineke Fuchs« und den »Söhnen Megaprazons«, sich wieder ganz auf das ästhetische Gebiet, auf die rein künstlerische Produktion zurückzuziehen; an die Vollendung des »Wilhelm Meister« hatte er sich zunächst gemacht. Und nun empfand er schmerzlich, daß er seit einer Reihe von Jahren außer allen Konnex mit dem literarischen Deutschland außerhalb Weimar gekommen war, daß es ihm an fruchtbaren Teilnehmern seiner Arbeit allzusehr fehle. Von dem Kreise, der sich um die »Horen« scharte, durfte er das Beste hoffen, was überhaupt im damaligen Deutschland zu finden war; dieser Kreis wollte ja gerade gegen die Gewöhnlichkeit und Plattheit der üblichen Schriftstellerei und Kritik sich erheben. Goethes Bereitwilligkeit bezog sich demnach mehr auf die »Verbindung mit so wackeren Männern als die Unternehmer sind«, als auf ein näheres Verhältnis zu Schiller. Aber wenige Wochen später – es muß zwischen dem 20. und 24. Juli 1794 gewesen sein – trat die glücklich entscheidende Wendung ein. Goethe war zur Sitzung der naturforschenden Gesellschaft nach Jena gekommen; auch Schiller, der gleichfalls Ehrenmitglied der Gesellschaft war, nahm an der Sitzung teil; zufällig verließen beide zusammen den Saal, und Schiller äußerte, eine so zerstückelte Naturbetrachtung, wie sie ihnen eben eröffnet worden sei, habe wenig Anziehendes. Dabei mochte wohl die Absicht im Hintergrund liegen, Goethe zum Sprechen zu bringen; denn Schiller wußte sicherlich, daß der Verfasser der »Metamorphose der Pflanzen« nach einer einheitlichen Naturbetrachtung strebte. Goethe erwiderte auch sofort in diesem Sinne. Ein Gespräch entspann sich, während dessen man an Schillers Haus gelangte; beide traten ein, und von seinem Gegenstand hingerissen, ließ Goethe, »mit manchen charakteristischen Federstrichen«, eine »symbolische Pflanze«, den von ihm entdeckten Urtypus der Pflanzen, vor Schillers Augen entstehen. Indem er aber zugleich versicherte, dies Gebilde aus der Erfahrung gewonnen zu haben, erregte er den Widerspruch des idealistischen Zuhörers. »Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee«, erwiderte Schiller. Etwas betroffen antwortete Goethe, das könne ihm nur sehr lieb sein, daß er Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe. Der Unterschied zwischen den beiderseitigen Anschauungsweisen war damit klar bestimmt. Doch hören wir über das Weitere Goethes eigenen Bericht. »Schiller, der viel mehr Lebensklugheit und Lebensart hatte, als ich, und mich auch wegen der Horen, die er herauszugeben im Begriff stand, mehr anzuziehen als abzustoßen gedachte, erwiderte darauf als ein gebildeter Kantianer, und als aus meinem hartnäckigen Realismus mancher Anlaß zu lebhaftem Widerspruch entstand, so ward viel gekämpft und dann Stillstand gemacht; keiner von beiden konnte sich für den Sieger halten, beide hielten sich für unüberwindlich. Sätze wie folgender (echt Schillerischer) machten mich ganz unglücklich: »Wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte? Denn darin besteht eben das Eigentümliche der letzteren, daß ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könnte.«..... Jedoch Schillers Anziehungskraft war groß: er hielt alle fest, die sich ihm näherten; ich nahm teil an seinen Absichten und versprach zu den Horen manches, was bei mir verborgen lag, herzugeben.« Es ist charakteristisch für Goethe, den leidenschaftlichen Naturforscher, daß ihm, als er im Alter diese Erinnerung niederschrieb, nur der naturwissenschaftliche Ausgangspunkt des Gesprächs im Gedächtnis geblieben war. Schillern dagegen hatte der weitere Verlauf, der sich, über das Kunstgebiet erstreckte, den größten Eindruck gemacht. Er berichtete an Körner, er und Goethe hätten ein Langes und Breites über Kunst und Kunsttheorie gesprochen und sich die Hauptideen mitgeteilt, zu denen sie auf ganz verschiedenen Wegen gekommen waren, in denen sich aber doch eine gewisse Übereinstimmung vorfand. »Ein jeder konnte dem anderen etwas geben, was ihm fehlte, und etwas dafür empfangen.« Daß das Gespräch diese Wendung nahm, kann nicht überraschen; denn Goethes Theorie der bildenden Kunst war eng mit seiner morphologischen Lehre verbunden. Aber auch über die redenden Künste scheint sich die Unterhaltung verbreitet zu haben: denn Goethe nahm eine Abhandlung »Über graphische Darstellung der Rede nach Art der Tonkunst« zur Ansicht mit. Er berichtete darauf seinem Kunstfreunde und Hausgenossen Heinrich Meyer, er habe lange nicht solchen geistigen Genuß gehabt wie bei Schiller in Jena, und er versicherte diesem brieflich, daß er sich auf eine öftere Auswechslung der Ideen mit ihm lebhaft freue.

Gewaltig aber war der Eindruck, den die Unterhaltung auf Schiller hervorgebracht hatte. Jetzt erst wich der Vorhang vor seinen Augen, der ihm bisher Goethes Wesen verdeckt hatte. Jetzt erst erkannte er den tiefen Zusammenhang zwischen dessen Streben als Künstler und als Naturforscher, das er früher verspottet hatte. Jetzt erst wurde ihm der eigentümliche Wert von dessen, am klassischen Altertum genährter, klarer und objektiver (»gegenständlicher«) Geistesart verständlich und überzeugend. Es erfaßte ihn das Bewußtsein, daß er von diesem Manne allein empfangen könne, was ihm fehlte; wenn er auch zugleich entschlossen blieb, seine Art neben ihm zu behaupten. Nach einigen Wochen unruhigen Wälzens dieser Gedankenmassen wagte er es, Goethe ein genial entworfenes Gemälde seines Geistes und seiner Entwickelung vorzuhalten. Man hat gesagt, dieser Brief sei bestimmt gewesen, dem älteren Dichter zu beweisen, daß einzig und allein Schiller ihn richtig erkannt habe. Das ist wahr; aber es ist nur die halbe Wahrheit. Der Brief bewies es auch wirklich; zweifellos vermochte niemand anders damals ein solches Bild Goethes zu entwerfen. Schiller entschädigte damit auf einen Schlag glänzend für das, was er seit sechs Jahren durch Verständnislosigkeit gefehlt hatte. »Ihr beobachtender Blick,« schrieb er, »der so still und rein auf den Dingen ruht, setzt Sie nie in Gefahr, auf den Abweg zu geraten, in den sowohl die Spekulation als die willkürliche und bloß sich selbst gehorchende Einbildungskraft sich so leicht verirrt. In Ihrer richtigen Intuition liegt alles, nur weit vollständiger, was die Analysis mühsam sucht, und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr eigener Reichtum verborgen; denn leider wissen wir nur das, was wir scheiden.... Sie suchen das Notwendigste in der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwersten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsart suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation steigen Sie, Schritt um Schritt, zu der mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen. Dadurch, daß Sie ihn in der Natur gleichsam nacherschaffen, suchen Sie in seine verborgene Technik einzudringen....

Wären Sie als ein Grieche, ja nur als ein Italiener geboren worden, und hätte schon von der Wiege an eine auserlesene Natur und eine idealisierende Kunst Sie umgeben, so wäre Ihr Weg unendlich verkürzt, vielleicht ganz überflüssig gemacht worden. Schon in die erste Anschauung der Dinge hätten Sie dann die Form des Notwendigen aufgenommen, und mit Ihren ersten Erfahrungen hätte sich der große Stil in Ihnen entwickelt. Nun da Sie ein Deutscher geboren sind ... blieb Ihnen keine andere Wahl, als entweder zum nordischen Künstler zu werden, oder Ihrer Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhilfe der Denkkraft zu ersetzen und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären. .... Sie mußten die alte, Ihrer Einbildungskraft schon aufgedrungene schlechtere Natur nach dem besseren Muster, das Ihr bildender Geist sich erschuf, korrigieren, und das kann nun freilich nicht anders als nach leitenden Begriffen von statten gehen. Aber... so wie Sie von der Anschauung zur Abstraktion übergingen, so mußten Sie nun rückwärts Begriffe wieder in Intuitionen umsetzen und Gedanken in Gefühl verwandeln, weil nur durch diese das Genie hervorbringen kann.«

Diese Auffassung Goethes als einer germanischen Natur, die durch einen unwiderstehlichen Drang nach dem einheitlichen Lebensgefühl der antiken Kultur hingetrieben wird und diesem Trieb durch eine umfassende Weltbetrachtung und ein tiefes »Sicheinfühlen« in die Natur genugzutun sucht, ist von grandioser Einfachheit und Wahrheit. Aber auch die Gefahren dieses Weges für den Künstler sind scharfsinnig bezeichnet; denn nicht immer ist jenes »Wiederumsetzen der Gedanken in Gefühle« Goethe gelungen, und zwar dort nicht, wo wir in seiner Dichtung ein künstliches, abstraktes Antikisieren wahrzunehmen glauben.

Der ältere Dichter antwortete auf diese »Summe seiner Existenz«, die der jüngere gezogen, mit aufrichtigem Vertrauen. »Alles was an und in mir ist, werde ich mit Freuden mitteilen. Denn da ich sehr lebhaft fühle, daß mein Unternehmen das Maß der menschlichen Kräfte bei weitem übersteigt, so möchte ich manches bei Ihnen deponieren und dadurch nicht allein erhalten, sondern auch beleben.« Es liegt etwas Faustisches in diesen Worten, und niemandem sonst zeigte Goethe damals diese Tiefe seines Innern, die er längst sich gewöhnt hatte mit hohen Verteidigungswällen zu umgeben.

Schiller hatte endlich erreicht, was er schon vor sechs Jahren vergeblich erstrebt. Es ist wie ein tiefes Aufatmen, wenn er in Erinnerung der unwiederbringlich entschwundenen Zeiten, in Vorahnung seines früheren Lebensendes, nun erwidert: »Begreife ich doch nunmehr vollkommen, daß die so sehr verschiedenen Bahnen, auf denen Sie und ich wandelten, uns nicht wohl früher als gerade jetzt, mit Nutzen zusammenführen konnten. Nun kann ich aber hoffen, daß wir, soviel von dem Wege noch übrig sein mag, in Gemeinschaft durchwandeln werden, und mit um so größerem Gewinn, da die letzteren Gefährten auf einer langen Reise sich immer am meisten zu sagen haben.« Schon früher haben wir es ausgesprochen, daß diese Darlegung Schillers gewiß das Richtige trifft, daß man sich überhaupt nicht verwundern dürfe, daß Goethe und Schiller sich so spät gefunden, sondern vielmehr, daß sie bei der ungeheuren Verschiedenheit ihrer Naturen sich überhaupt gefunden. Es war dazu nötig, daß Schiller sich erst zu einer gewissen Reife durch Erfahrung und Anstrengung emporrang; es war ebenso nötig, daß Goethe von der völligen Ablehnung des deutschen literarischen Lebens, die er aus Italien mitgebracht, wieder abließ und ein Verlangen nach neuer Anknüpfung in sich aufkommen fühlte. Aber diese persönlichen Vorbedingungen hätten doch nicht genügt, um den subjektiv idealistischen Dichter mit dem objektiv realistischen zu versöhnen, wenn nicht ein positives Moment bei Vermittlung und Einigung sich zwischen ihnen eingefunden hätte. Dies lag in der Kantischen Philosophie, besonders in der »Kritik der Urteilskraft«, die auch Goethe seit 1790 schon eifrig studiert hatte und der er eine »frohe Epoche seines Lebens verdankte«! In der divinatorischen Konstruktion der Kunstbedingungen und Kunstaufgaben durch einen dem praktischen Kunstleben ganz abgewandten genialen Denken lag das gemeinsame Ziel auch mitbeschlossen, nach welchem beide Dichter auf so verschiedenen Wegen geistiger Arbeit hinstrebten. Kants Bestimmung des künstlerisch empfindenden und schaffenden Geistes war es vor allem, was Schiller interessierte; Kants Bestimmung des Kunstwerkes hatte Goethe gefesselt; zusammengeführt wurden sie durch die Einheit, welche in beiden Betrachtungen waltete. –

Der intime Verkehr zwischen den neugewonnenen Freunden entwickelte sich nun schnell. Goethe zeigte jetzt, nachdem er sich einmal entschieden, das weiteste Entgegenkommen. Er lud Schiller ein, zu einem längeren Besuch nach Weimar in sein Haus überzusiedeln. Schiller antwortete mit dem Hinweis auf sein trauriges Befinden, das ihn anderen zur Last mache, das ihn hindere, sich in eine regelmäßige Hausordnung zu fügen, und ihn besonders dazu gebracht habe, oft Nacht und Tag miteinander zu verwechseln. Goethe antwortet kurzweg: »Eine völlige Freiheit nach Ihrer Weise zu leben werden Sie finden«, und Schiller kommt wirklich auf 14 Tage. Mit der zartesten Fürsorge behandelte ihn Goethe; Schillers Schwägerin berichtet darüber: »Seinem freundlichen und liebenswürdigen Einfluß auf Schillers Lebensweise verdankten wir es, daß dieser wieder mehr Vertrauen zu seiner Gesundheit gewann und sich regelmäßiger dem Schlafe und der gewöhnlichen Ordnung des Tages überließ. Die anmutige, scherzhafte Weise, mit der der Freund den Eigenheiten des krankhaften Zustandes bald auswich, bald nachgab, diente oft diese zu beseitigen oder zu mildern.« Freudig erstaunt schrieb Schiller aus Weimar an Lotte: »Stelle Dir vor, daß ich die zehn Nächte ... vortrefflich geschlafen habe, ohne durch Krämpfe gestört worden zu sein.« Er erhob sich allerdings erst spät von der Nachtruhe; dann aber war er den ganzen Tag mit Goethe in ununterbrochenem Gedankenaustausch. Einmal dauerte ihr Gespräch von Mittag bis Mitternacht. Ein vollständiges gegenseitiges Erschließen der ganzen Gedankenwelt geschah. Jene wunderbare Ergänzung der Gegensätze zu höherer Einheit, die das Wesen dieses Bundes bildete, vollendete sich. Von der Weimarischen Gesellschaft hielt sich Schiller diesmal gänzlich fern; keinen Augenblick, den er anwenden konnte, wollte er verlieren. Was er gewann, vermochte er selbst noch nicht zu übersehen. »Ich bin sehr mit meinem Aufenthalt zufrieden,« belichtet er an Körner, »und ich vermute, daß er sehr viel auf mich gewirkt bat. Doch das muß die Zeit lehren.« – Und die Zeit lehrte, daß hier endlich einmal keine Enttäuschung zu fürchten war, daß dieser Bund auf dem sicheren Boden der Wahrheit erwachsen war. Eine bis zu Schillers Tode niemals gestörte Einigkeit des Wollens und Handelns entwickelte sich daraus. Sie fand ihren Ausdruck in einem regen, oft täglichen Briefwechsel, noch mehr aber in dem tatsächlichen Zusammenarbeiten, das die Freunde übten, wenn sie sich am selben Ort, meistens in Jena, zusammenfinden konnten. Es gibt Handschriften, in denen beide abwechselnd die Resultate ihrer Besprechungen niedergeschrieben haben, und mit stiller Ehrfurcht betrachten wir diese Zeugen edelster geistiger Gemeinschaft.

Von jeher ist mit Recht der Bund Goethes und Schillers als eine großartige und erhebende Erscheinung bewundert morden. So selten ist es, daß geistige Größe und Originalität mit der Anerkennung einer andersartigen persönlichen Geisteskraft verbunden ist, noch seltener, daß ein einheitliches gemeinsames Wirken zustande kommt. Raphael und Michel Angelo blieben gegeneinander stets in der Entfremdung, in der wir auch Schiller und Goethe sechs Jahre lang gesehen haben. Man wird nicht auf das Verhältnis von Luther und Melanchthon hinweisen dürfen, denn dort war Melanchthon der Herrscherpersönlichkeit Luthers ganz und gar untergeben; hier aber behauptete jeder seine Selbständigkeit vollkommen. Es hatte deshalb auch der Bund für jeden von beiden nach seiner Persönlichkeit anderen Charakter und andere Bedeutung. Mehr unbefangen, mehr menschlich hat ihn Goethe aufgefaßt. Er hatte damals keinen persönlichen Freund, der in seinem Gemüt eine Stelle vor Schiller behaupten konnte. Er war durchaus nicht persönlicher Freundschaft unfähig; er hat in späteren Jahren noch in Zelter einen solchen Freund gewonnen; damals aber ersetzte ihm die Geistesgemeinschaft mit Schiller auch jede persönliche Freundschaft. Das Verständnis, was er bei dem jüngeren Dichter fand, erschien ihm, der nichts derartiges von der Welt erwartete, so wunderbar, daß kein Dank dafür ihm zu groß war. Auf Schillers Briefe über Wilhelm Meister erwidert er: »Nun überraschen mich, in meinen wahrhaft irdischen Geschäften Ihre .... Briefe, wahrhaft als Stimmen aus einer anderen Welt, auf die ich nur horchen kann.« Und als ihn wieder einmal die Verständnislosigkeit des Publikums tief verletzt hat, bricht er in die Worte aus: »Wie viele Menschen sehen das Kunstwerk an sich selbst, wie viele können es übersehen? und dann ist es doch nur die Neigung, die alles sehen kann, was es enthält, und, die reine Neigung, die dabei noch sehen kann, was ihm mangelt! Und was wäre nicht noch alles hinzuzusetzen, um den einzigen Fall auszudrücken, in dem ich mich nur mit Ihnen befinde.« In diesem Bewußtsein tiefsten Verständnisses war Goethe natürlich auch für Einwände und Tadel Schillers empfänglich, und wenn dieser in seinem Ausdruck auch immer sehr vorsichtig blieb, so hat er doch aus eigener Erfahrung erklären können, daß »man Goethe sehr viel Wahrheiten sagen dürfe«.

Aber nicht nur als Kritiker im besten Sinne des Worts war der jüngere Freund dem älteren von Wert, sondern auch schon im Prozeß des geistigen Hervorbringens selber. Goethe hatte von jeher eine Abneigung, die tief in seiner Organisation begründet war, den Reichtum seiner Ideen in ein logisches Gedankensystem umzusetzen; in seinem Geist war alles klare Anschauung; aber ihn auch zu begrifflicher Klarheit zu bringen überließ er gern anderen. So mußte ihm Schiller seine »Träume auslegen«, und er war dafür so dankbar, daß ei gegen sich selbst ungerecht wurde und es so darstellte, als meide durch diese Geistesoperation Schillers sein geistiger Besitz erst lebendig gemacht, wie der Stein, der wunderbar zu Brot umgeschaffen wird. Die Sendung eines Minerals aus seiner Sammlung begleitete er mit den fast demütigen Worten:

Dem Herren in der Wüste bracht'
Der Satan einen Stein,
Und sagte: Herr, durch deine Macht
Latz es ein Brötchen sein!

Von vielen Steinen sendet dir
Der Freund ein Musterstück;
Ideen gibst du bald dafür
Ihm tausendfach zurück.

Auch nach außen hin hat Goethe dieser nie versiegenden Anerkennung und Dankbarkeit immer neuen Ausdruck gegeben. Seitdem er Schiller einmal an sich herangezogen, hat er bis an sein Lebensende auch nicht einen tadelnden oder nur ungünstigen Ausspruch über ihn gefällt; was auch etwa seinem überlegenen Urteil hätte verfallen können, hielt er nicht für erwähnenswert; zahllos dagegen sind seine lobenden und bewundernden Hinweise auf Schillers großartige Persönlichkeit.

Schiller selbst faßte doch das Verhältnis anders auf; für ihn war es weniger ein persönliches, als eines vom höchsten sachlichen Wert. Er hatte einen intimen Freund in Körner, gegen den er stets auch über Goethe mit voller Offenheit geurteilt hat. Seinem Wesen entsprechend konnte er auch nicht eine so gleichmäßige Stellung festhalten wie Goethe. Sein Enthusiasmus für Goethe war jetzt groß; aber wenn dieser einmal seinen Erwartungen nicht entsprach, besonders es dem jüngeren Freunde nicht an rastloser Aktivität gleichtat, so konnten in den Briefen an Körner auch recht unmutige Äußerungen fallen. Doch greifen mir damit schon in eine spätere Zeit vor. Denn zunächst ließ es Goethe gerade in jenen Jahren an Produktivität nicht fehlen. Durch seinen »Wilhelm Meister« entzückte er Schiller aufs höchste. »Es gehört zu dem schönsten Glück meines Daseins,« schrieb dieser, »daß ich die Vollendung dieses Produkts erlebte, daß ich aus dieser reinen Quelle noch schöpfen kann, daß sie noch in die Periode meiner strebenden Kräfte fällt.... Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie sehr mich die Wahrheit, das schöne Leben, die einfache Fülle dieses Werkes bewegt. ... Ich verstehe Sie nun ganz, wenn Sie sagten, daß es eigentlich das Schöne, das Wahre sei, was Sie, oft bis zu Tränen, rühren könne. Ruhig und tief, klar und doch unbegreiflich wie die Natur, so wirkt es und so steht es da, und alles, auch das kleinste Nebenwerk, zeigt die schöne Gleichheit des Gemüts, aus welchem alles geflossen ist.... Wundern Sie sich nicht mehr, wenn es so wenige gibt, die Sie zu verstehen fähig und würdig sind. Die bewundernswürdige Natur, Wahrheit und Leichtigkeit Ihrer Schilderungen entfernt bei dem gemeinen Volk der Beurteiler allen Gedanken an die Schwierigkeit, an die Größe der Kunst, und bei denen, die dem Künstler zu folgen imstande sein könnten, wirkt die genialische Kraft, welche sie hier handeln sehen, so feindlich und vernichtend, bringt ihr bedürftiges Selbst so sehr ins Gedränge, daß sie es mit Gewalt von sich stoßen.«

»Dem Vortrefflichen gegenüber gibt es keine Freiheit als die Liebe«, so lautet Schillers eigenes Bekenntnis, nachdem er den Roman gelesen. Aber dies hinderte ihn nicht, zugleich auch eine eingehende, wahrhaft produktive Kritik zu liefern. Nicht vor der Öffentlichkeit, aber vor Goethe selber, der ihm das letzte Buch in der Handschrift zugesandt hatte. Wir haben es hauptsächlich Schiller zu verdanken, wenn der Roman im Gang der Handlung wie im Gedankeninhalt zu künstlerischer Abrundung und befriedigendem Abschluß gebracht wurde. Ohne Schillers Einwirkung hätte er vermutlich ein ähnlich unbefriedigendes Ende gefunden wie die »Wanderjahre«. Goethe hat sich in der Korrespondenz selbst darüber ausgesprochen, welch inneres Hemmnis er fühlte, wenn er die Summe eines großen Aufwandes ziehen, wenn er das Resultat einer Vorstellungsreihe zusammenfassen, wenn er ein dichterisches Kunstwerk gleichsam in einem großen Schlußtableau anschaulich und verständlich machen sollte. Er dankte es Schiller, daß er ihn aus dieser »perversen Manier« heraustreibe, daß er ihn hindere, seine eigenen Ergebnisse mutwillig zu unterschlagen und das Geleistete kleiner erscheinen zu lassen als es tatsächlich wäre. Natürlich wahrte er sich aber auch bei der Verarbeitung vollkommen die Eigentümlichkeit seiner Schaffensweise, er gab den Ideen, die Schiller aus seinem Roman abstrahiert hatte, »Körper nach seiner Art« und kleidete diese »geistigen Wesen« in »irdische Gestalt«.

Von noch größerer Bedeutung war Schillers Einwirken auf die Faustdichtung; hier handelte es sich nicht um Abschluß, sondern um einen entscheidenden Antrieb. Goethe hatte 1788 in Italien ernstlich den Gedanken gehegt, seinen kühnen Jugendentwurf zu einem Menschheitsdrama auszugestalten; einen umfassenden »Plan« hatte er dazu entworfen; aber vor der Ausführung war er zurückgeschreckt und hatte sich begnügt, 1790 ein »Fragment« zu veröffentlichen. Dies hatte keine große Aufmerksamkeit erregt, Schiller aber nutzte es zu würdigen, er nannte es den »Torso des Herkules« und drang bei Goethe auf die Fortführung. Goethe antwortete zweifelnd; aber wenn irgend etwas, meinte er, ihn dazu bewegen könnte, so sei es gewiß Schillers Teilnahme. Drei Jahre hatte der Freundschaftsbund schon gedauert, als Goethe sich endlich entschloß, den Faust vorzunehmen, und nun fand Schiller die schönste Gelegenheit, seinen Beruf der Traumdeutung zu üben. Bei einem philosophischen Drama, das notwendig eine gewisse Geschlossenheit und Strenge des Gedankenganges erhalten mußte, konnte gerade seine persönliche Einwirkung aufs schwerste ins Gewicht fallen. Hier jedoch hat Goethe ihn nicht in die wogende Masse der entstehenden und halbfertigen Szenen Einblick tun lassen; nur der Gang des Ganzen ist mit Schiller durchgesprochen worden.

Wie viel aber auch Schiller fördernde Teilnahme gewähren mochte, noch mehr hat er doch empfangen. Das Goethesche Wort, Schiller habe ihn wieder zum Dichter gemacht, ist mit mindestens gleichem Recht auf Schiller im umgekehrten Sinn anzuwenden. Er wurde tatsächlich nach einer Pause von sechs Jahren vom Historiker und Philosophen wieder zum Dichter. Gewiß war das von jeher seine Absicht gewesen; aber wir dürfen ohne Schwanken aussprechen, daß er ohne Goethes Einfluß niemals der Dichter hätte werden können, als den wir ihn verehren. Die Verbindung natürlicher Wahrheit mit künstlerischem Formgefühl, wie sie zuerst die Balladen und dann der »Wallenstein« so herrlich gezeigt haben, lag nicht in Schillers ursprünglichem Wesen; er hat sie von Goethe gelernt, aber freilich bleibt es sein volles Verdienst, daß er verstand, mit eisernem Willen zu lernen. Diesem Fortschritt im einzelnen nachzugehen ist an dieser Stelle nicht möglich; bei unserer Betrachtung der Werke wird er überall sichtlich zutage treten.

So groß war der Reichtum, der beiden Dichtern aus dieser schicksalsvollen Verbindung zuströmte, groß war aber auch der Gewinn, den sie für ihre Stellung zur Außenwelt daraus zogen. Vereinigt bildeten sie eine feste Macht, gegen die auf die Dauer sich niemand behaupten konnte. Heute dürfte es wohl seltsam erscheinen, daß sie beide, besonders ein Goethe, es noch nötig hatten, sich eine, »Stellung« zu geben, und doch war es so. Die Literatur wurde, damals – im Anfang der neunziger Jahre – im ganzen noch durch den Gegensatz zur hypergenialen Sturm- und Drang-Dichtung der siebziger und achtziger Jahre beherrscht. Diese selber fristete nur noch in den Ritter- und Räuberstücken ein kümmerliches Dasein, und hatte sonst der plattesten und nüchternsten Alltagspoesie weichen müssen. Der trockene Bücherfabrikant Nicolai und der steife Versdrechsler Ramler in Berlin waren die Protektoren dieser Literatur des »gesunden Menschenverstandes«; als Beispiele könnte man die »biedere und natürliche« Lyrik von Schmidt nennen, sowie die von Kosegarten, für die auch Schillers kleinlicher Schwager Reinwald schwärmte; dann die Erzählungen von Engel, die von wackeren Leuten dem Wilhelm Meister vorgezogen wurden, endlich die Dramen Ifflands, die bekanntlich sogar am Mannheimer Theater den Vorrang vor den Schillerschen gewonnen hatten, deren Popularität jetzt aber bald von denen Kotzebues übertroffen wurde. Diese literarische Mittelmäßigkeitsherrschaft, die, außer in Berlin, in Leipzig ihre Hauptvertretung besaß, hatte gegen Goethe und Schiller von jeher eine dummstolze Zurückhaltung bewiesen. Sie hatte Goethes gesammelte Werke (1786–90) mit sehr bedingter, kühler Zustimmung begrüßt und auf Schillers »Thalia« herablassend niedergeblickt. Gegen, die »Horen« verhielt sie sich noch schlimmer, weil sie von denen eine gefährliche Wirksamkeit fürchtete. Jetzt aber zeigten sich Goethe und Schiller vereinigt als unüberwindliche Macht. Wir werden sehen, wie sie in den »Xenien« ihr unerbittliches und entscheidendes Strafgericht übten. Aber auch ohne dies wäre ihre vereinte Kraft des Sieges sicher gewesen. Auch hier waren die Rollen beider ungleich; aber sie ergänzten sich aufs trefflichste. Schiller war gleichsam der Minister des Auswärtigen dieser Macht; Goethe der Präsident des Ministeriums; andere Minister scharten sich um sie. Schiller nahm durch den Bund an der Autorität Goethes teil; Goethe erhielt durch ihn Anteil an der Popularität Schillers. Beide vereinigt erreichten in wenig Jahren, daß durch ihre Namen, der Höhestand, auf den sich die deutsche Dichtkunst geschwungen, seine ewige Signatur erhielt.

Dieses große Ergebnis ruft unwillkürlich die Reflexion wach, wieviel raschere und sicherere Fortschritte auf geistigem Gebiet wohl zu erreichen waren, wenn große, ungleich geartete Kräfte sich immer zu so ergänzendem Wirken vereinigten, statt miteinander zu rivalisieren oder zu streiten! Nach dem gewöhnlichen Lauf der Welt würde Schiller, je höher er stieg, immer geringschätziger auf den »alternden« Goethe herabgesehen, und dieser sich immer starrsinniger und griesgrämiger zurückgezogen haben. Zum guten Teil war es eine Frucht sittlicher Reife, die hier Verwirklichte, was so selten nur möglich scheint. Der völlige Mangel von Neid und Eifersucht war die notwendige Bedingung des Verhältnisses, und diese Bedingung ward niemals angetastet. Stets hat Schiller zu Goethe als dem ihm überlegenen Geist hinaufgesehen, und von jenen früheren gehässigen Empfindungen war in ihm keine Spur geblieben; neidlos hat auch Goethe zugesehen, wie Schillers rasche dramatische Erfolge – seit dem Wallenstein – ihn selbst in den Schatten stellten und gar manchen zu dem Urteil brachten, in Schiller den größten Dichter Deutschlands sehen zu wollen. Im schönsten Gegensatz zu seinen früheren, gehässigen Urteilen hat Schiller nach sechsjähriger intimer Bekanntschaft mit Goethe jene herrliche Charakteristik des Freundes an die Gattin seines Gönners, des Grafen Schimmelmann, gerichtet, – jene Charakteristik, die den Urteilenden ebenso ehrt wie den Beurteilten. Die Gräfin hatte mancherlei gegen Goethes Lebensführung wie seine Schriften auf dem Herzen, was wohl mehr aus zugetragenem Klatsch als aus eigener Kenntnis hervorgegangen war; sie hatte Schiller darüber zur Rede gestellt. Dieser antwortete mit einer ausführlichen Schilderung Goethes, deren Kernstück die folgenden Sätze waren: »Die hohen Vorzüge seines Geistes sind es nicht, die mich an ihn binden. Wenn er nicht als Mensch für mich den größten Wert von allen hätte, die ich je habe kennen lernen, so würde ich sein Genie nur in der Ferne bewundern. Ich darf wohl sagen, daß ich in den sechs Jahren, die ich mit ihm zusammen lebte, auch nicht einen Augenblick an seinem Charakter irre geworden bin. Er hat eine hohe Wahrheit und Biederkeit in seiner Natur, und den höchsten Ernst für das Rechte und Gute. Darum haben sich Schwätzer und Heuchler in seiner Nähe immer übel befunden. Diese hassen ihn, weil sie ihn fürchten, und weil er das Falsche und Seichte im Leben und in der Wissenschaft herzlich verachtet und den falschen Schein verabscheut, so muh er in der jetzigen bürgerlichen und literarischen Welt notwendig es mit vielen verderben. . . . Ich bitte Sie,« schließt der Brief, »meine gnädige Gräfin, dieser langen Äußerung wegen um Verzeihung, sie betrifft einen verehrten Freund, den ich liebe und hochschätze, und den ich ungern von Ihnen verkannt sehe.«

Auch wir müssen vielleicht um Verzeihung bitten, daß unsere Betrachtung dieses Freundschaftsbundes sich so weit ausgedehnt hat. Aber es handelt sich hier um das wichtigste Ereignis nicht nur im Leben Schillers, sondern in der Entwicklung unserer gesamten Nationalliteratur. Wenden wir uns nun zu seiner ersten praktischen Äußerung, den Schillerschen Hören.

Ursprünglich war Schillers Absicht, einen begutachtenden Ausschuß sich selbst an die Seite zu stellen, der die hervorragendsten Schriftsteller und Kritiker zur Beurteilung der eingesandten Manuskripte vereinigen sollte. Indes kam diese Absicht nicht zu voller Ausführung. Es herrschte im ganzen Mangel an Stoff, und so verbot sich allzu peinliche Kritik von selbst. Nur zwei Männer traten als ständige Kritiker den beiden Freunden zur Seite, und zwar auf Schillers Betreiben, dem es Goethe dankte, daß er durch ihn »auf der letzten Strecke seiner Laufbahn auch mit der Kritik in Übereinstimmung komme«. Es waren Körner und Humboldt. Der langjährige Berater und Beurteiler Schillers wurde jetzt auch herangezogen, um seine Stimme über Goethes neue Erzeugnisse abzugeben, und er tat dies mit dem ruhigen, etwas nüchternen Ernst, der ihm eigen war, so daß Schiller manches nur in eigener Umprägung zu Goethes Kenntnis brachte. Er selbst wurde jetzt, da sein Selbstgefühl immer wuchs, etwas empfindlich gegen Körners Kritik, – und nicht ganz mit Unrecht. Denn dieser behielt gern den Ton des älteren und erfahrenen Freundes bei, auch jetzt, wo Schiller – ganz abgesehen von aller Genialität – durch Lebenskenntnis und vielseitige Studien weit über den in Aktenarbeit immer mehr versenkten Beamten hinausgewachsen war. Erst einige für ihn schmerzliche Äußerungen Schillers haben Körner sich endlich in die Rolle des hinaufsehenden Bewunderers finden lassen. Die persönliche Freundschaft wurde übrigens durch solche Differenzen niemals gestört.

Ganz und gar hat dagegen Wilhelm von Humboldt es verstanden, seine Kritik der Sachlage und den Persönlichkeiten anzupassen. Der glänzend begabte, aber damals noch wenig schöpferische Kraft zeigende Schriftsteller hatte sich schnell von der Beamtenlaufbahn, die er kaum betreten, wieder zurückgezogen, um ganz seinen geistigen Interessen, einer nie sich genugtuenden Selbstbildung zu leben. Für ihn wie für seine Gattin gab es keinen anziehenderen Aufenthalt als Jena, wo sie Goethe nahe und mit Schiller vereinigt waren. Etwa zwei Jahre haben sie dort zugebracht, ehe sie der Wandertrieb weiterführte. Humboldt, bedeutend jünger als Körner, hatte von seiner Kritik niemals eine andere Auffassung, als daß er sich zunächst auf den Standpunkt der beiden großen Dichter zu stellen und von da aus in ihrem eigenen Sinne nur zu beurteilen habe, inwieweit sie das selbstgesteckte Ziel erreicht oder nicht erreicht! Auf diese Weise gelang es ihm in der Tat, in einer von den Freunden unmittelbar zu nutzenden Weise Kritik zu üben; besonders die Briefe, welche er bei einem längeren Aufenthalt in Berlin an Schiller über dessen philosophische Gedichte schrieb, geben von dieser mitarbeitenden Art von Beurteilung glänzendes Zeugnis. Von seinen spärlichen selbständigen Arbeiten aus dieser Zeit hat der geistvolle Aufsatz »Über männliche und weibliche Form« sichtlich Schillers Gedicht von der »Würde der Frauen« beeinflußt.

Der intime Verkehr zwischen Schillers und Humboldts erhielt eine neue Bereicherung, als sich noch ein naheverbundenes Paar ihnen – in Weimar – zugesellte. Schillers Schwägerin Karoline, die inzwischen ihre Scheidung von Herrn von Beulwitz erreicht hatte, schenkte ihre Hand Wilhelm von Wolzogen, der schon lange hoffnungslos danach getrachtet hatte. Ohne eine Spur der früheren Leidenschaft erneuerte sich jetzt das geistig wertvolle Verhältnis der Schwägerin zu Schiller; sie wurde eine Mitarbeiterin der »Horen«, und auch mit ihrem Gatten, der in den Weimarischen Hofdienst trat, wurden Schillers Beziehungen immer wärmer und freundschaftlicher.

Inmitten dieses geistig belebten Kreises blieb die Produktion für die »Horen«, doch zum größten Teil Schiller überlassen. Die tiefsinnigen und gedankenreichen Männer, die er gewonnen, Herder, Humboldt, Körner, Jacobi, lieferten nichts, was viel Masse machte; Goethe gab ziemlich viel, vermochte sich aber nicht an bestimmte Termine zu binden. So wurde zum Zentrum der Zeitschrift Schillers kunstphilosophische Arbeit, die sich jetzt in zwei großen Abhandlungen sammelte: »Über ästhetische Erziehung« und »Über naive und sentimentalische Dichtung«. Die erstere war eine Umarbeitung und Erweiterung seiner Briefe an den Erbprinzen von Augustenburg, und nicht nur in formeller Hinsicht; sie war auch ein sachlicher Fortschritt, die reife Frucht von Schillers nun zu völliger Ausbildung gelangter Erkenntnis. Es war ein engeres Anschließen an Kant, und zugleich ein selbständiges Fortschreiten. Seine lang ausgesponnenen Versuche, zur Ausfüllung der von Kant gelassenen »Lücke« ein objektives Schönheitsprinzip in der Natur zu finden, hat Schiller jetzt aufgegeben. Es ist ihm klar geworden, daß, wenn nach seiner Definition die Natur dadurch schön erscheint, daß wir ihr »Freiheit leihen«, d. h. daß wir sie nicht als mechanisch gezwungen, sondern als lebendig und selbsttätig betrachten, dieser Vorgang aus der Tiefe des betrachtenden Subjekts entspringen muß. »Das Schöne ist kein Erfahrungsbegriff,« schreibt er jetzt (im Oktober 1794) an Körner, »sondern vielmehr ein Imperativ. Es ist gewiß objektiv, aber bloß als eine notwendige Aufgabe für die sinnlich-vernünftige Natur.« Und er führt weiter aus, wie der sinnliche Mensch alles bloß nach dem Maßstab der physischen Annehmlichkeit beurteile, der verständige nach dem Maßstab der »Vollkommenheit« (d. h. der höchsten Zweckmäßigkeit); wie dagegen das ästhetische Urteil nur bei wenigen Menschen rein erzeugt werde. Er leitete es aus einem eigenen Triebe, der zwischen sinnlichen und sittlichen Antrieben in der Mitte stehe, ab: dem Spieltrieb. Der Spieltrieb verlangt nicht nach bloß »materiellem Sein«, wie der »Sachtrieb«, nicht nach »formaler Gestalt«, wie der »Formtrieb«, sondern, zwischen beide gestellt, nach »lebender Gestalt«, d. h. nach dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, nach der »Konsummation der Menschheit«. In der Ausbildung dieses »Spieltriebs« erblickte Schiller die »ästhetische Pflicht«, die durch die »ästhetische Erziehung« realisiert werden sollte. Durch die ästhetische Betrachtung erhebt sich der Mensch über den Zwang der Sinnlichkeit; das »interesselose Wohlgefallen«, wie es Kant bezeichnet hatte, schließt den Gedanken an persönlichen Genuß oder Besitz aus. Andererseits ist auch kein sittlicher Zweckgedanke herrschend; in voller Freiheit gibt sich der Mensch einzig und allein dem souveränen Gebrauch seiner geistigen Kräfte hin. Und diese rein ästhetische Betrachtung führt ihn dann auch weiter zur richtigsten Erkenntnis des Wahren; zu einer Erkenntnis, die auf dem bloßen Wahrnehmen, ohne egoistische oder ideale Voreingenommenheit, beruht. Hier berührte sich Schillers Lehre mit der Goethes, welcher überzeugt war, daß die künstlerische Anschauung der Natur zur Erkenntnis ihrer tiefsten Gesetze führe, die im Einzelfall niemals rein und ungetrübt hervortreten. Die Natur ist nach Goethe schön in ihrer Anlage, aber nicht in ihrer Wirklichkeit. Das künstlerische Auge erblickt durch die Wirklichkeit das Gesetz, das kein mechanisch zwingendes, sondern ein organisch bildendes, freies ist. Beide aber, Schiller wie Goethe, haben in diesem Punkt auf Kantischer Grundlage ihre Lehre erbaut. Jene Sätze des Philosophen, daß die Natur schön sei, wenn sie uns als Kunst aussehe, und die Kunst nur schön, wenn wir uns bewußt seien, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussehe – diese Sätze haben die innige Verwandtschaft und zugleich die selbständige Wesenheit von Natur und Kunst offenbart.

Schiller hat in den »Briefen« die Gedanken über den Wert des Ästhetischen weit aus dem eigentlichen Kunstgebiet hinausgeführt. Mit großem politischem und sozialem Fernblick charakterisiert er den ästhetischen Trieb als den, der allein imstande sei, eine Gesellschaft, die wirklich diesen Namen verdiene, zu erzeugen. Der ästhetische Genuß vereinigt die individuelle mit der allgemeinen Befriedigung; er erlaubt weder den Egoismus, noch fordert er die Aufopferung.

Die ästhetische Bildung wird sich zu erweisen haben in der Fähigkeit, die Natur ästhetisch aufzufassen; aber zu ihr gelangen kann der Kulturmensch nur durch die Einwirkung der Kunst; das Kunstwerk ist das Mittel, der Künstler der Vermittler ästhetischer Bildung. »Haben wir uns dem Genuß echter Schönheit hingegeben,« heißt es in den Briefen, »so sind mir in einem solchen Augenblick unserer leidenden und tätigen Kräfte in gleichem Grad Meister, und mit gleicher Leichtigkeit wenden wir uns zum Ernst und zum Spiele, zur Ruhe und zur Bewegung, zur Nachgiebigkeit und zum Widerstand, zum abstrakten Denken und zur Anschauung. Diese hohe Gleichmütigkeit und Freiheit des Geistes, mit Kraft und Rüstigkeit verbunden, ist die Stimmung, in der uns ein echtes Kunstwerk entlasten soll, und es gibt keinen sichereren Probierstein der wahren ästhetischen Güte.« Diese Wirkung kann nicht durch den Stoff, d. h. den Gegenstand eines Kunstwerkes erzielt werden; sondern nur durch die Form. »In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt dagegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt.« Dies geschieht an der Hand gewisser, im Wesen der einzelnen Kunstgattungen liegender Gesetze, – und es wäre ein schlimmes Mißverständnis von Schillers Lehre und von der »Subjektivität des Schönen«, wenn man aus ihr heraus dies leugnen wollte. Das Subjektive liegt in dem persönlichen, schöpferischen Willensimpuls, aus welchem sogar schon der ästhetische Genuß, noch viel mehr die ästhetische Produktion hervorgeht; aber vollziehen muß sich diese Produktion nach den Gesetzen, die erfahrungsgemäß durch die Beschaffenheit des menschlichen Gemüts, auf das gewirkt werden soll, und der Mittel, durch die gewirkt werden soll, bestimmt sind.

Einzig und allein der Erziehung zum Schönen gelten die Briefe; das andere Gebiet von Schillers ästhetischer Betrachtung, das Erhabene – wird hier ganz beiseite gelassen. Allerdings statuierte Schiller einen Unterschied zwischen »schmelzender« und »energischer« Schönheit und definierte die zweite derart, daß sie im wesentlichen mit der Erhabenheit zusammenfiel. Aber auch zur Behandlung der »energischen« Schönheit gelangte er nicht; tatsächlich war ihm die Behandlung der »schmelzenden Schönheit« zur Lösung des ganzen ästhetischen Problems geworden. Und wohl nicht zum Schaden der Sache. Denn wie wir schon früher feststellten, ziehen Schillers Ausführungen über das »Erhabene« stets fremdartige, ethische Erwägungen hinein und beschränken die reine Unabhängigkeit des Ästhetischen. Es war aber von großem Wert, daß einmal die Bedeutung und der berechtigte Anspruch dieses Lebensgebietes unumwunden und in freier Selbständigkeit dargestellt wurde, und das ist nur in diesen »Briefen« geschehen. Denn Schiller war zugleich seinem ganzen Wesen nach viel zu sehr von ästhetischem Streben erfüllt, viel zu sehr auch durch Kants strenge Gewissenspredigt hingerissen, als daß er auf die Dauer die ethischen Probleme aus den Augen verloren hätte. Ja es nimmt sich fast wie eine Art Palinodie der »Briefe« aus, wenn er bald nachher zwei Aufsätze erscheinen läßt: »Von den notwendigen Grenzen des Schönen, besonders im Vortrage philosophischer Wahrheiten« und »Über die Gefahr ästhetischer Sitten« (später vereinigt unter dem Titel: »Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen«). Wir werden über das Verhältnis von Schillers ethischer Anschauung zu der ästhetischen weiteren Aufschluß bei der Betrachtung seiner philosophischen Gedichte gewinnen.

Der allgemeinen Untersuchung des künstlerischen Empfindens und Schaffens konnte Schiller nicht eine spezielle inbezug auf die einzelnen Künste folgen lassen. Es mangelte ihm dazu die nähere Kenntnis von den bildenden Künsten wie auch von der Musik. Nur über die Poesie war er der Welt schuldig, die gewonnene Einsicht klar darzulegen, und er tat es in dem zweiten der großen Horenaufsätze: »Über naive und sentimentale Dichtung«. Einige wichtige Gesichtspunkte hatte er schon kurz zuvor in der Besprechung von Matthissons Gedichten (in der Jenaer Literaturzeitung) angegeben, einer Rezension, die insofern ein Gegenstück zu der der Bürgerschen Gedichte bildet, als auch hier der besprochene Gegenstand nur ein Anlaß ist, um Schillers eigene Ansichten – hier in Form des Lobes – zu entwickeln.

Die Scheidung zwischen dem Naiven und dem Sentimentalischen hatte eine dreifache Begründung und Berechtigung. Zunächst die theoretische, wenn diese auch nicht als eine absolute gedacht werden und einen diametralen Gegensatz begründen kann. Sodann eine historische, insofern unsere deutsche Dichtung in ihrem ganzen Verlauf den Unterschied einer naiven, volkstümlichen und einer reflektierten, durch Kultureinflüsse bedingten Dichtung erkennen läßt. Endlich eine praktische, insofern der Gegensatz zwischen Goethes und Schillers Poesie, wenigstens in mancher Hinsicht, besonders in ihrer Lyrik dieselben Merkmale zeigt. Schiller fand sich ursprünglich – schon im Jahre 1794 – getrieben, sich das Wesen des ihm selbst versagten »Naiven« und der sich daraus ergebenden naiven Dichtung klarzumachen. Allmählich entwickelte sich ihm dann aus der Beobachtung der entgegengesetzten neueren, vor allem der eigenen Dichtweise der notwendige, dem Naiven korrespondierende Begriff des »Sentimentalischen«, dessen Bezeichnung wohl aus dem englischen Sprachgebrauch des achtzehnten Jahrhunderts zu erklären ist. Erst im Januar 1796 wurde die dem gewidmete zweite Hälfte der Abhandlung beendigt. Diese Gedankenarbeit wurde für Schiller zum Anlaß, seine ganze, durch Rousseau gepflanzte, aber weit über ihn hinausgewachsene Geschichtsphilosophie zu entwickeln. Der Mensch ist im einfachen Naturzustande glücklich gewesen; ohne mühevolle Absicht brachte er damals in Naivetät das vollkommene Kunstwerk hervor; in Homers Dichtungen ist das herrlichste Beispiel dieser Art uns aufbewahrt. Die Kultur brachte die Selbstreflexion, den Zwiespalt des Menschen mit der Natur und mit sich selber hervor; sie führte zu einer sentimentalischen Poesie, deren Wesen die Sehnsucht nach der verlorenen inneren Einheit ist. Aber diese Sehnsucht kann nicht befriedigt werden durch Rückwendung zum Vergangenen, sondern muß ihre Erfüllung zum Fortschreiten suchen, in bewußtem Wiedererwerben des Gutes, das die Menschheit einst in unbewußtem Reichtum schon besessen hat. Einzelnen glücklich organisierten Geistern ist es dennoch gegeben, auch in der Gegenwart durch geniale Unmittelbarkeit in »naiver« Vollendung zu schaffen. In Goethe erblickte Schiller eine solche geniale Persönlichkeit; ihn stellte er damit auf die höchste Stufe, und bald darnach sollte er in »Hermann und Dorothea« die schönste Bestätigung seiner Charakteristik und zugleich den »Gipfel der ganzen neueren Poesie« finden. Aber auch nur in Goethes höchsten Erzeugnissen fand er diese wunderbare Erscheinung naiver Poesie inmitten der modernen Welt; eindringlich betonte er, daß dies die Ausnahme bilde, daß wir im allgemeinen an die »sentimentalische« Poesie gewiesen seien. Scharf hob er hervor, daß das Naive, wo ihm jene Genialität fehle, zum Platten und Gemeinen herabzusinken pflege, daß dagegen die »sentimentalische« Dichtung uns auf jener Höhe erhalte, die unserem Kulturzustande, unserer Pflicht gegen uns selbst und die Mitwelt entspreche. – So wahrte er sich selbst seine Stellung neben Goethe und neben der »Naivetät« antiker Dichtung. »Es ist etwas in allen modernen Dichtern«, schrieb er voll Selbstgefühl an Humboldt, »was sie als moderne miteinander gemein haben, was ganz und gar nicht griechischer Art ist und wodurch sie große Dinge ausrichten.«

Aber auch Goethe war mit Schillers Theorie höchlich zufrieden. Wenn sie einerseits vor seiner realistischen, der homerischen Einfachheit zustrebenden Dichtung die höchste Ehrfurcht bewies, so rechtfertigte sie andererseits auch vollkommen einen anderen Trieb Goethischen Dichtens, die empfindungsvolle Vertiefung in die Probleme des Seelenlebens. Goethe hatte wohl hauptsächlich seinen »Faust« im Sinne, wenn er Schiller dankend schrieb, nach seiner Lehre brauche er nun manches nicht mehr zu schelten, was ihn ein unwiderstehlicher Trieb doch hervorzubringen nötige, was er aber – setzen wir hinzu – seit Jahren in sich selbst zurückgedrängt hatte.

Schillers Lehre von der »naiven« und »sentimentalischen« Dichtung hat große Wirkung geübt. Freilich war sie nicht völlig neu; im wesentlichen hob sie den längst bekannten Gegensatz von Volkspoesie und Kunstpoesie wieder hervor: aber sie begründete ihn tiefer als je vorher geschehen und gab ihm damit statt der formalistischen eine völkerpsychologische, eine geschichtsphilosophische Bedeutung. In verschiedenen Abwandlungen als »antik und modern«, »klassisch und romantisch«, »realistisch und idealistisch« kehrt der Gegensatz immer wieder; Goethe hat ihn später in dem Sinn acceptiert, daß er auch Shakespeare der naiven, klassischen Poesie zurechnete und zur modernen, romantischen im Gegensatz stellte.

Weniger Einfluß hat leider die feinsinnige Unterscheidung gewonnen, die Schiller innerhalb der sentimentalischen Poesie vollzog. Diese Scheidung nach dem Stimmungsgehalt der Dichtungen, nach der Art, wie in ihnen das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit empfunden wird, in satirische, elegische und idyllische Poesie war natürlich zu sein, um als gewöhnlicher Klassifikationsmaßstab dienen zu können; aber sie hätte in der späteren Ästhetik doch eine große Rolle spielen und weiter ausgestaltet werden sollen. Wollte man sie auf Schillers eigenes späteres Dichten beziehen, so könnte man den »Wallenstein« »satirisch«, »Wilhelm Tell« »idyllisch«, die drei dazwischen liegenden Tragödien »elegisch« nennen.

So gediegen und tief nun auch jene beiden großen Abhandlungen waren, – klar ist, daß sie gerade deshalb den »Horen« keinen weiteren Leserkreis gewinnen konnten. Überhaupt ging es mit der Zeitschrift nicht nach Wunsch. Die geistvollen oder berühmten Mitarbeiter gaben meistens etwas schwierige Sachen; man klagte, daß das Philosophische zu sehr überwiege, Goethes Beiträge waren allerdings leichterer Art; aber auch gegen sie erhoben sich allerlei Einwürfe. Die »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« erzeugten durch den politischen Disput Mißbehagen, die »Römischen Elegien« erregten sittlichen Anstoß, die »Episteln« und ein kurzer kritischer Aufsatz verletzten nach mancher Richtung die literarische Welt. Über einen Aufsatz Herders »Homer, ein Günstling der Zeit« fiel der erste Kenner des Dichters, der ein Monopol auf seine Behandlung zu haben glaubte, Friedrich August Wolf, mit wahrem Ingrimm her. Den von Anfang an neidisch und hämisch beiseite stehenden Literaten und ihren Organen war jedes Zeichen der Mißstimmung natürlich ein willkommener Fund und bald wimmelte es in Journalen aller Art von Besprechungen, welche die Horen und gerade ihre geistvollsten und tiefsinnigsten Beiträge in platter Art anödeten und entstellten. Cotta war im Einverständnis mit Schiller gegen diesen zu erwartenden Sturm auf ein dreistes Gegenmittel verfallen; er ließ in die »Jenaer Literaturzeitung« Rezensionen der »Horen« einrücken, die er selber der Redaktion bezahlte. Es ist uns peinlich, einen Schiller solcher Mittel sich bedienen zu sehen; aber er selbst war dabei ganz guten Mutes. Er betrachtete sich als im Kampf für eine gute Sache stehend, und jene Maßregel als ein Kampfmittel. Für das ganze Rezensentenwesen hegte er solche Verachtung, daß es ihm nicht in den Sinn kam, es ernst zu nehmen. Dem Publikum müsse man doch alles vormachen, meinte er. In solchen Einzelfällen tritt die scharfe Scheidung zwischen der empirischen und der idealen Welt zutage, die Schiller eigen war. Im Kreise seiner Familie, seiner Freunde und Mitstrebenden war er der zarteste und gewissenhafteste Mann; sobald er sich an die Welt da draußen wandte, hielt er sich für berechtigt und verpflichtet, sich der Mittel zu bedienen, deren sie selbst sich bediente. Für das Totalbild seines Lebens ist es aber doch ein wohltuender Zug, daß schließlich auch für ihn eine Zeit kam, wo er auf alle solche Außenwirkung verzichten konnte und verzichtete, und nur dem inneren Drang folgend, ausschließlich seinem Dichterberuf leben durfte.

Die »Horen« waren übrigens auch durch solche gewagte Mittel nicht zu halten. Eine Versammlung der ersten Kräfte Deutschlands war tatsächlich nicht imstande, sich gegen die Mittelmäßigkeit und Flachheit zu behaupten. Freilich hatte sie auch ein allzu hohes Visir genommen. Die Geschosse, die sie geschleudert hatte, waren hoch über die Köpfe der johlenden Gegner hinweggegangen. Es war notwendig, direkt mit Kartätschen auf diese zu schießen, und dazu entschlossen sich Schiller und Goethe während des zweiten Jahres der »Horen«.


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