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Erweitert ist jetzt des Theaters Enge,
In seinem Raume drängt sich eine Welt,
Nicht mehr der Worte rednerisch Gepränge,
Nur der Natur getreues Bild gefällt,
Verbannet ist der Sitten falsche Strenge,
Und menschlich handelt, menschlich fühlt der Held,
Die Leidenschaft erhebt die freien Töne,
Und in der Wahrheit findet man das Schöne.
Schiller.
Nachdem Schiller sein neues Werk im März 1803 auf die Bühne gebracht hatte, wandte er sich zunächst wieder zu einer leichteren, für das praktische Bedürfnis des Weimarer Theaters berechneten Arbeit. Er übersetzte zwei französische Prosalustspiele von Picard; das eine – der Neffe als Onkel – ist von harmloser Komik, das andere – der Parasit – macht etwas größere Ansprüche, kann diese aber doch nicht recht befriedigen; es wurde von Schiller wohl etwas überschätzt. Für das ernste Repertoire dachte er jetzt Klopstocks »Hermannsschlacht« zu bearbeiten: allein er fand sich durch dies Werk sehr enttäuscht und erklärte es für »völlig unbrauchbar«. Es ist interessant, daß wir Schiller hier zum erstenmal nach einem ernsten, aber nicht tragischen, dramatischen Stoff greifen sehen. Es erklärt sich dies leicht daraus, daß ihn damals zugleich der Plan eines eigenen historischen Schauspiels, nicht Trauerspiels beschäftigte. Von Wilhelm Tell zu Hermann war der Weg nicht allzuweit.
Auf den schweizerischen Befreier als dramatischen Helden war Schiller, wie er selbst gesteht, zuerst durch das ganz unbegründete Gerücht aufmerksam gemacht worden, daß er beabsichtige, diesen Stoff zu bearbeiten. Als er sich daraufhin wirklich mit ihm bekannt machte, kam ihm zu statten, daß Goethe auf einer vor wenig Jahren ausgeführten Schweizerreise sich Wilhelm Tell zum Helden eines epischen Gedichts ausersehen hatte; da er inzwischen diesen Plan aufgegeben, war er nun gern bereit, was er beobachtet und durchdacht, Schiller zugute kommen zu lassen. Der eigentliche epische Charakter der Tell-Sage hätte der dramatischen Behandlung große Schwierigkeiten bereiten können, wenn nicht Schiller sich aller Gewohnheiten seiner tragischen Dichtung gänzlich entschlagen und mit klarer Einsicht in die eigentlichen Bedingungen des Schauspiels die Arbeit begonnen hätte. Das Schauspiel hat an sich eine gewisse Verwandtschaft mit der epischen Dichtung, insofern in ihm der Konflikt nicht so hoch gesteigert, die Verwickelung nicht so weit getrieben werden darf, daß eine Versöhnung und Lösung unmöglich erscheint, und daher ein ruhigerer Gang als in der Tragödie in ihm herrschen wird. Es ist nun höchst interessant, zu beobachten, wie Schiller schon durch den Charakter des Helden die Voraussetzungen für eine befriedigende Auflösung des Ganzen gegeben hat. An dem tragischen Helden wird immer ein gewisses Mißverhältnis zu der Umgebung, zu den Aufgaben, in die er gestellt ist, wahrzunehmen sein; wenn er auch die übrigen Personen um Haupteslänge überragt; es ist in ihm »eine Stelle, wo er sterblich ist«, und er bewirkt, daß er in irgend einer Art sich den Verhältnissen nicht gewachsen zeigt. Tell dagegen ist seiner ganzen einfachen, sicheren, unerschütterlichen Weise nach der Mann, der in vollem Gleichgewicht mit der umgebenden Welt steht, – der Mann, der nur unternimmt, was er kann, der aber auch alles vollbringt, was er unternimmt. Bei seinem ersten Auftreten, bei seinem ersten Reden erhält der Zuhörer den Eindruck: dieser Mann ist nicht umzubringen, er wird sich immer behaupten, komme auch was da wolle. Und dasselbe gilt, wenn auch mit etwas anderer Nuancierung, von dem Haupte des Rütli-Bundes, von Stauffacher. Er ist in politischer Einsicht und Weitsicht dem Tell überlegen; er tritt darum der Gefahr nicht so unbekümmert entgegen wie jener; aber wo er hervorzutreten wagt, da wird auch er sich nicht mehr vom Platz drängen lassen. Der jugendlich vorschnelle Melchthal und der bedächtige Greis Walter Fürst müssen ihm die Führung überlassen.
Dementsprechend ist der Gegenspieler mit Eigenschaften ausgestattet, die ihm von vornherein keinen Erfolg verheißen. Geßler ist ein Märchentyrann, dem jede politische Einsicht abgeht. Überall schießt er über das Ziel hinaus, während sein Gegner es nur allzugut zu treffen weiß. Weder versteht er irgendwie die Stimmung des Volkes für sich und seine Maßregeln zu gewinnen, noch weiß er die Tiefe des Hasses zu ermessen, die sein gewalttätiges Vorgehen erregt. Wohl ist er »mit Reisigen furchtbar umgeben«; aber zu imponieren versteht er doch nicht, wie das Verhalten der verschiedensten Personen gegen ihn beweist. Unfähig, den Charakter seines Feindes zu begreifen, liefert er sich selbst zweimal in dessen Hände. Daß Geßlers Regiment nicht lange dauern könne, diesen Eindruck erhalten wir sehr bald.
Die sonst naheliegende Befürchtung, daß das Stück bei solcher Behandlung an Spannung und darum an Interesse verlieren werde, brauchte Schiller hier nicht zu hegen, da die einzelnen Phasen der Handlung, so wie sie überliefert war, schon genugsam dafür sorgten, die Teilnahme des Zuschauers nicht ermatten zu lassen. Von eigentlicher Spannung kann man freilich nur im dritten und vierten Akt reden. Aufs strengste schloß sich Schiller diesmal an den so ergiebigen und in so charakteristischer, herzergreifender Form überlieferten Stoff an.
Vor allem war es die zur Höhe des Volksepos heranreichende Chronik von Tschudi, welcher er folgte und aus der er manches selbst im schlichten, treuherzigen Wortlaut herübernahm. Doch war die Zahl seiner Quellen, sowohl der historischen und geographischen, als auch älterer dramatischer Versuche, teils volkstümlicher, teils kunstmäßiger Art, sehr groß. Er mußte sich hier mit einer Kulturform von ausgeprägtester Eigenart ganz und gar vertraut machen, ohne je auch nur den flüchtigsten Blick in sie getan zu haben. In glänzender Vollendung ist ihm das gelungen, und das naturalistische Vorurteil, der Dichter dürfe nur schildern, was er selbst gesehen, hat er durch die Tat völlig widerlegt. Gerade von schweizerischer Seite ist das immer rückhaltlos anerkannt worden. Und um so überraschender ist dieser Erfolg seines auf Forschung und Phantasiebetätigung gemischten Bemühens, als damals eine allgemein verbreitete Vorstellung von der alpinen Natur und ihrem Leben noch nicht vorhanden war. Heutzutage sind gewisse Grundbegriffe davon jedermann geläufig, auch wenn er nie die Alpen gesehen hat; damals war das durchaus nicht der Fall; selbst in den Reisebeschreibungen finden sich ganz verworrene Vorstellungen von Gipfeln und Pässen, von Gletschern und Firnen. Mit welcher Sicherheit und Freiheit aber überschaut Schillers Blick diese ganze, reiche Welt und weiß das Wesentliche hervorzuheben, um es zum anschaulichen Bilde zu vereinigen. Man erinnere sich an Melchthals epische Erzählung seines Werbezuges:
Durch der Surennen furchtbares Gebirg,
Auf weit verbreitet öden Eisesfeldern,
Wo nur der heisre Lämmergeier krächzt,
Gelangt' ich zu der Alpentrift, wo sich
Aus Uri und vom Engelberg die Hirten,
Anrufend grüßen und gemeinsam weiden,
Den Durst mir stillend mit der Gletscher Milch,
Die in den Runsen schäumend niederquillt.
In den einsamen Sennhütten kehrt' ich ein,
Mein eig'ner Wirt und Gast, bis das ich kam
Zu Wohnungen gesellig lebender Menschen ...
Ich kroch durch alle Krümmen des Gebirgs,
Kein Tal war so versteckt; ich späht' es aus;
Bis an der Gletscher eisbedeckten Fuß
Erwartet' ich und fand bewohnte Hütten, –
Und überall wohin mein Fuß mich trug,
Fand ich den gleichen Haß der Tyrannei;
Denn bis an diese letzte Grenze selbst
Belebter Schöpfung, wo der starre Boden
Aufgehört zu geben, raubt der Vögte Geiz.
Aber diese Schilderung und Belebung des Naturbildes ist erst die geringste Frucht von Schillers tiefem Eindringen in den Stoff. Weit mehr noch zu bewundern ist seine Versenkung in die schlichte, einfache Sinnesart des Naturvolks, die gerade seinem Wesen besonders fern lag. Ihre Bescheidenheit und Genügsamkeit wird uns ebenso vertraut wie ihr unbeugsames Festhalten an dem, was sie für ihre Notdurft und ihr Recht halten.
»Denn so wie ihre Alpen fort und fort
Dieselben Kräuter nähren, ihre Brunnen
Gleichförmig fließen, Wolken selbst und Winde
Den gleichen Strich unwandelbar befolgen,
So hat die alte Sitte hier vom Ahn
Zum Enkel unverändert fort bestanden.«
In dem verständnisvollen Aufnehmen und Wiedergeben dieses Volkscharakters und Volkslebens bewährte Schiller wiederum wie im »Wallenstein« die hohe künstlerische Objektivität, zu der er gelangt war, und es stellt sich damit der »Tell« als seine zweite große Kunstleistung neben die Trilogie. Und wenn wir die persönliche Bedeutung dieser Leistungen abwägen, so wird sich der Tell als noch höherer Beweis für Schillers innere Entwickelung und Festigung uns kundtun. Im »Wallenstein« hat der Dichter absichtlich einen Stoff ergriffen, der ihm innerlich gleichgültig war, so daß sich die Objektivität wie von selbst ergab; hier aber handelt es sich um Schillers eigensten, das Zentrum seines Wesens erfüllenden Begriff: die »Freiheit«; und mit welch realer Bestimmtheit, frei von aller Phantastik, ist dieser Begriff hier lebendig gemacht! Wenn wir die Reden des Marquis Posa über »Freiheit« mit den Reden Stauffachers in der Rütliszene vergleichen, so gewinnen wir den Maßstab für die künstlerische Selbstbeherrschung, die Schiller gewonnen hatte, und für das damit gewonnene Wachstum seiner Darstellungskraft. Diese Schweizer jagen nicht einem unfaßbaren Phantom von »Freiheit« nach; ihre Freiheit ist die Sicherheit des ihnen gemäßen und natürlichen Zustandes.
»Wir haben stets die Freiheit uns bewahrt« ...
»Freiwillig wählten wir den Schirm der Kaiser« ...
»Wir wollen frei sein wie die Väter waren!«
Noch konkreter, fast beschränkt zeigt sich dieser Begriff der Freiheit bei Wilhelm Teil persönlich; da hat er sich beinahe auf das uneingeschränkte Recht des Hausvaters und Hausherrn zurückgezogen; aber um so fester, um so unbezwinglicher ist der Widerstand gegen Eingriffe in diesen engen Kreis. Auf diesem Wege gelang dem Dichter nun ohne jede Gewaltsamkeit und tendenziöse Beimischung die dramatische Darstellung eines aus den natürlichen Bedingungen sich notwendig ergebenden Vorgangs.
Diese Objektivität und innere Wahrheit unseres Dramas ist auch jederzeit anerkannt worden; nicht selten aber hat man Vorwürfe gegen den Gang der dramatischen Handlung, überhaupt gegen die Komposition erhoben. Besonders die »doppelte Handlung« hat man gern getadelt: die Verschwörung der Rütligenossen und die davon abgesonderte Tat Tells. Aber dieser Vorwurf ist sehr übertrieben, wenn wir auch nicht leugnen wollen, daß wir im zweiten Akte Tell und im dritten Akte die Verschworenen allzusehr aus den Augen verlieren. Im ganzen sind doch beide »Handlungen« nur eine: die Befreiung der Schweiz von den Vögten. Wenn man als Helden sehr wohl das Schweizervolk insgesamt bezeichnen kann, so widerspricht das nicht dem Titel; denn Wilhelm Tell ist eben der, der nicht nur einen Teil, sondern den schwersten Teil der Handlung des Volkes vollführt. Freilich hat er auf dem Rütli nicht mitgeschworen; aber doch nicht, weil er in einem Gegensatz zu seinen Landsleuten steht, sondern nur weil das Ratschlagen und Plänemachen nicht seinem Naturell entspricht. »Bestimmte Tat« hat er aber ausdrücklich in Aussicht gestellt und unterrichtet ist er auch von dem im Rütli vollzogenen Schwur. Was er endlich tut, ist gerade das, was die Eidgenossen nicht haben vorsehen und sicherstellen können. Stauffacher hatte gesagt:
»Nur mit dem Geßler fürcht' ich schweren Stand,
Furchtbar ist er mit Reisigen umgeben;
Nicht ohne Blut räumt er das Feld; ja selbst
Vertrieben bleibt er furchtbar noch dem Land!
Schwer ist's und fast gefährlich ihn zu schonen.«
Und der Landmann hatte nur zu antworten gewußt:
»Die Zeit bringt Rat. Erwartet's in Geduld!
Man muß dem Augenblick auch was vertrauen.«
Und der Augenblick bringt eben die Tat des Tell, die alle Zweifel löst. Nun wäre der Einwand noch möglich, daß Tell aus einem anderen Motive als die Eidgenossen, nicht als Schweizer, sondern bloß als Familienvater handele. Aber sind nicht auch Melchthal, nicht Baumgarten durch ähnliche Motive getrieben? Diese besonderen Motive stehen zu den allgemeinen in gar keinem Gegensatz; die persönliche Bedrängnis des Einzelnen ist die Folge der Gesamtlage. Tell gerät nur durch sein mannhaftes Verweigern der »Reverenz« in eine besonders gesteigerte, eigenartige Zwangslage. Diese Steigerung aber war notwendig, um die Tötung Geßlers als einen Akt der Notwehr herbeiführen zu können. Als politisches Mittel haben die gewissenhaften Eidgenossen den Mord abgelehnt. Er ist aber unumgänglich für ihre Befreiung, und die Gewalt der Tatsachen trägt es über die Bedenklichkeiten des Gewissens davon, die ja auch Tell mit seinem Monolog erst in sich zum Schweigen bringen muß.
Mit Tells Tat ist aber anderseits das Handeln der Verschworenen durchaus nicht überflüssig geworden; im Gegenteil, es wird durch sie erst recht gefordert. Die Tötung Geßlers als vereinzeltes Faktum hätte weder dem Tell noch den Waldstädten etwas genutzt; sie hätte den Mörder aufs Schafott und all seine Landsleute unter noch schwereres Joch gebracht. Die Vertreibung des anderen Vogts, die Zerstörung der Burgen kann erst die Gesamthandlung zum guten Ausgang führen. Die Gründung eines neuen Rechtszustandes ist nötig, um Tells Tat vor gerichtlicher Ahndung zu schützen. Er selbst hat aber bei dieser Tat auch das Bewußtsein gehabt, daß er nicht preisgegeben werden wird, daß die Befreiung sich nach diesem entscheidenden Vorgang unzweifelhaft vollziehen wird. So darf er dem sterbenden Geßler zurufen: »Frei sind die Hütten!«
Durchaus zusammengehörig sind also diese beiden Haupthandlungen; mehr episodisch und bloß um dem Bild mehr Fülle und Reichhaltigkeit zu geben, ist eine dritte hineingewoben, die uns den alteingesessenen Adel der Schweiz zeigt. Diese Handlung führt jedoch nicht zu einem eigenen Ergebnis; sondern sie vereinigt sich mit dem Strom der anderen. Denn der alte Freiherr legt sterbend die bisherige Befugnis und Verantwortung in die Hände des »Landmanns«, und der junge schließt sich mit seiner Braut rückhaltlos an das Volk. Das Liebesverhältnis ist vom Dichter am gleichgültigsten behandelt und fällt gegen alles übrige merklich ab.
Es ist ein patriarchalisches Stück, und die Hauptpersonen haben etwas Patriarchalisches an sich. Attinghausen, Walter Fürst, Stauffacher, Reding, alles sind ehrfurchterweckende, mild herrschende, aber doch herrschende Gestalten. Es hat dies einen etwas sentenziösen, lehrhaften Ton mit sich gebracht, der sich zum Teil auch schon in den älteren, volkstümlich didaktischen Bearbeitungen, die Schiller vorlagen, erkennen läßt. Die Jugend (Melchthal, Rudenz) kommt dadurch in eine etwas gedrückte Stellung; immer und immer wieder muß sie es sich sagen lassen, daß sie noch jung ist. Tell steht zwischen beiden Gruppen; nach öffentlicher Autorität strebt er nicht, obgleich er sie ohne weiteres haben könnte; in seinem Hause ist auch er der absolute, seiner Autorität bewußte Herrscher. Die Frauen sind bei dieser strengen Lebensordnung in den Hintergrund gedrängt. Wenn wir den Verzweiflungsschritt der unglücklichen Armgart ausnehmen, so finden wir sie auf ihren häuslichen Kreis beschränkt. Innerhalb dessen aber hat der Dichter sie doch scharf kontrastiert; wozu ihm auch Tschudis Chronik schon Anlaß bot; der ängstlichen, auf das häusliche Interesse beschränkten Gattin des Tell steht Stauffachers klarblickendes und opferbereites Weib gegenüber. Mit gutem Bedacht hat Schiller die Worte, die uns am tiefsten ergreifen, die für die Gesinnung der Schweizer typisch sind, nicht den zum Handeln berufenen Personen zugeteilt; Gertrud Stauffacher im Gespräch mit ihrem Mann und der alte Freiherr in den Mahnungen an Rudenz, diese sprechen jene Worte, die wie Mottos des Stückes klingen. Die äußere Handlung ist in den Szenen, wo die Eidgenossen oder der Adel die Lage erwägen oder ihre Entschließungen fassen, natürlich gering; aber mit um so größerer Sorgfalt hat der Dichter hier die innere Entwickelung in dramatischer Steigerung durchgeführt. Meisterhaft ist in dieser Art schon das Gespräch der drei Ur-Eidgenossen am Schluß des ersten Akts, und staunenswürdig die Behandlung der Massen, der einheitliche Gang bei reichster Lebensfülle in der Rütliszene. Mit Recht hat Goethe hervorgehoben, daß es ein trefflicher Gedanke gewesen sei, hier gleich eine »Landsgemeinde zu konstituieren«; dadurch war der feste Rahmen gewonnen, in den sich alles, selbst der vorübergehende, schnell geschlichtete Streit, zwanglos einfügte, und war zugleich die hohe Bedeutsamkeit der Szene über den allernächsten Zweck hinaus unverkennbar festgestellt.
Von äußerer Handlung fast überfüllt sind dagegen die Szenen, in denen Tell auftritt. Ihr geschickter Aufbau, besonders in den beiden Hauptszenen des dritten und vierten Aktes, haben immer Bewunderung gefunden. Dagegen sind gegen die Vorgänge an sich mancherlei Bedenken und Einwürfe gerichtet worden. Schiller fühlte sich hier an den volkstümlichen und überlieferten Stoff gebunden, und bei freier Erfindung würde er manches wohl anders gestaltet haben. Besonders ist oft der Vorwurf geäußert worden, daß der Apfelschuß nicht genügend motiviert sei. Dieser Vorwurf ist zwar insofern unrichtig, als Geßler vorher die ungeheuerliche Drohung ausgesprochen hat: »Du schießest oder stirbst mit deinem Knaben«; aber er ist trotzdem berechtigt; denn wir müssen erwarten, daß ein Teil in solcher Zwangslage eher nach dem Peiniger als nach dem Haupt des Sohnes schieße. Konnte auch der Dichter den überlieferten Stoff gerade an diesem Punkt nicht ändern, so hätte er doch irgend etwas einschieben müssen, was den Gedanken einer Gewalttat in Tells Geist im Entstehen und im Unterdrücktwerden uns zeigte; ähnlich wie Lessing den Odoardo schon nach dem Dolch greifen läßt, um ihn auf den Prinzen zu zücken.
Dagegen ist, was man gegen die Szene in der »hohlen Gasse« eingewendet hat, unbegründet. Man hat den »Meuchelmord« als widrig, des Helden nicht würdig getadelt. Aber Tell begeht nach seiner Überzeugung überhaupt keine freiwillige Tat, sondern er handelt im Stande der Notwehr, – und nicht so sehr um sich selbst, als um seine Kinder zu schützen. Daß er sich da nicht bloßstellt, daß er seinen Pfeil aus sicherer Höhe entsendet, das ist seinem Charakter wie der Situation vollkommen angemessen. Gewiß ist Egmont, der der Gefahr sorglos entgegengeht, eine sympathischere Erscheinung; aber Tell macht auf dies Sympathische und Gefällige auch gar keinen Anspruch. Er ist ein ernster, kühler Mann, der tut, was er als notwendig erkannt hat. Anderseits hat man auch gerade um dieser Charaktereigenschaften willen seinen lang ausgesponnenen Monolog für unnatürlich erklärt. Aber dieser Monolog bleibt durchaus im Gebiet der eben angedeuteten Motive; Schiller hat sich hier jedes Versteigens in höhere Regionen, das er sonst sich so gern erlaubt, gänzlich enthalten; auch das Rhetorische ist sehr zur Seite gedrängt, das Lyrische völlig vermieden. Es bleibt also nur die Tatsache des Selbstgesprächs an sich, die zu tadeln wäre. Aber was ist der Monolog anderes als Lautwerden der Gedanken? Und wäre es wohl möglich, daß ein ruhiger und gesetzter Mann, der den ungeheuren Entschluß Tells gefaßt hat, irgend welche andere Gedanken hegen könnte als solche, die sich auf diesen Entschluß beziehen? Zum Warten ist er ja gezwungen; wie soll ihm nicht während dieses Wartens beständig das Bild seines Vorhabens vor Augen schweben? Ja man darf sagen, sobald nur ein anderer Gedanke in ihm aufstiege, würde es auch schon um den Entschluß geschehen sein, dessen Durchführung nur denkbar ist, wenn er sich der ganzen Seele vollkommen bemächtigt hat.
Je größer und sicherer die Wirkung dieser gesamten Szene ist, um so mehr ist zu bedauern, daß Schiller sie später durch Einführung des Parricida und durch den Vergleich der beiden Mordtaten abgeschwächt hat. Irgend eine unbeteiligte, aber gewichtige Persönlichkeit, etwa Walter Fürst, hätte wohl einige Worte über den Unterschied beider Handlungen aussprechen dürfen; lebendiger noch hätte ein solches Urteil Tells Gattin verkündigen können; freilich hätte dies eine andere Zeichnung ihres Charakters erfordert; unter keinen Umständen aber durfte Tell selber Verdammnis über Parricida rufen. Das ist unmenschlich und unnatürlich im Munde Tells, der doch kein moralischer Casuist, sondern ein Mann der Tat ist und für die Selbsthilfe, auch wenn ihre Berechtigung nicht erwiesen scheint, Verständnis haben muß. Übrigens kann diese Szene, die ein bloßes Anhängsel ist, bei der Aufführung leicht übergangen werden. Goethe hat bekanntlich ihre Entstehung »dem Einfluß der Frauen«, d. h. wohl der Gattin und Schwägerin Schillers, zugeschrieben.
»Wilhelm Tell« täuschte die Erwartungen Schillers nicht, der vorausgesehen hatte, das Stück werde »die Bühnen Deutschlands mächtig erschüttern«. Nach dem düsteren Ernst der »Braut von Messina« wirkte diese gesunde Lebensfrische als etwas Unerwartetes, fast Wunderbares. Iffland schrieb darüber: »Ich reiche Herz und Hand ihrem Genius entgegen. Welch ein Werk! Welche Fülle, Kraft, Blüte und Allgewalt! Gott erhalte Sie. Amen!« Aber nicht auf die Bühne allein beschränkte sich diese Wirkung. »Wilhelm Tell« wurde das populärste Drama Schillers, das in Herz und Sinn der ganzen Nation drang. Während der Fremdherrschaft der nächsten Jahre und im Befreiungskriege wurden die patriotischen Mahnungen und Gelübde dieser Schweizerhelden zu lebendigen Worten, an denen man sich stärkte und aufrichtete. In der Schweiz selbst wurde tatsächlich erst durch Schillers Drama der sagenhafte »Wilhelm Tell« zum allverehrten Nationalhelden.
Die Telldichtung hat auch auf Schillers Lyrik und Epik eingewirkt. Nicht nur die Stanzen, mit denen er das Drama Dalberg widmete, sondern auch das »Berglied« und der »Alpenjäger« zeugen davon, wie Schillers Phantasie in der Gebirgswelt heimisch geworden war. Und auch seine letzte, aber wahrlich nicht geringste Ballade, »Der Graf von Habsburg«, ist aus der Vertiefung in die Tschudische Chronik entstanden.
Die rasche Vollendung des Schauspiels im Winter von 1803 auf 1804 hatte den Dichter natürlich sehr in Anspruch genommen, so daß sein Leben und seine Tätigkeit einen ruhigen und gleichmäßigen Gang genommen hatten. Einige Unterbrechung, die Schiller störend empfand, hatte nur der längere Aufenthalt der Frau von Staël in Weimar herbeigeführt. Die geistreiche Tochter Neckers stand in ihrer romanischen Verstandesklarheit und Redefertigkeit deutschem Wesen so fern als möglich; aber sie hatte den aufrichtigen Wunsch, es kennen zu lernen und empfand eine gewisse Achtung davor. Mit Schiller und Goethe in persönlichen Verkehr zu kommen, lag ihr sehr am Herzen, und fast ein Vierteljahr hat sie sich hauptsächlich dadurch an Weimar fesseln lassen. Beide Dichter konnten sich den gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht entziehen, da der Hof sich lebhaft für die berühmte Dame interessierte. Diese war vom ersten Eindruck, den Schiller ihr machte, sehr überrascht; den hochgewachsenen, sehr energisch auftretenden Mann in der Hofuniform hatte sie beim ersten Anblick für einen General gehalten. Bald aber war sie ganz in philosophische Dispute mit ihm vertieft, die für sie um so befriedigender waren, als Schiller bei mangelhafter Kenntnis des Französischen ihr nicht mit voller Kraft opponieren konnte. Er nannte sie »das beweglichste, streitfertigste und redseligste Wesen«, das ihm noch vorgekommen, erkannte aber ihren Verstand, ihre »Liberalität« und »vielseitige Empfänglichkeit« gern an. Je weiter er aber in seinem Drama vorschritt und je länger sich der Aufenthalt der Staël hinzog, desto ungeduldiger wurde er darüber. »Die französische Dame, die mir hier in der besten Zeit meines Arbeitens auf dem Halse saß, habe ich tausendmal verwünscht.«
Einen bequemeren und harmloseren Zuwachs für seinen Umgangskreis gewann er in derselben Zeit durch den jungen Philologen Heinrich Voß, den Sohn des hochgeschätzten Dichters. Der junge Mann hatte die letzten Jahre in Jena studiert, wo auch sein Vater sich inzwischen niedergelassen hatte und von Goethe um der gemeinsamen klassischen Begeisterung willen mit großem Entgegenkommen begrüßt morden war. Zu Anfang 1804 wurde Heinrich Voß Gymnasiallehrer in Weimar und schloß sich dort gleich mit schwärmerischer Hingebung an Goethe wie an Schiller an. Bei dem letzteren wurde er ein wahrhafter Haus- und Familienfreund, dem wir auch manche hübsche Schilderung des intimen Lebens verdanken. Er beschreibt Schiller als »einen Mann von wirklich majestätischem Wuchs, einem schönen, freien, aber etwas eingefallenen und bleichen Antlitz, das, solange man ihn ruhig sieht, finster und ernst scheint, dessen Gesicht aber, durch eine freundliche Rede in Tätigkeit gesetzt, durchaus heiter und liebevoll ist.« Er schildert ihn als glücklichen und zärtlichen Hausvater. Unmittelbar nach der Vollendung des »Tell« wagte er es mit einigen jungen Freunden, Schiller zu dem öffentlichen Karnevals-Maskenball einzuladen. Schiller kam wirklich und wurde beim Champagner so heiter, daß er das Lied »So leben mir, so leben wir« anstimmte, »worüber sich einige Studenten, die zugegen waren, höchlichst verwunderten.«
Eine solche Stimmung fand sich damals aber nur selten bei Schiller ein, der sich im ganzen in Weimar nicht mehr wohl fühlte. Über Goethes Zurückgezogenheit haben mir schon gesprochen; nun kam (zu Ende 1803) Herders frühes Hinscheiden. Mit ihm hatte Schiller freilich keinen näheren Verkehr gehabt; aber er schlug seinen Tod doch als schweren Verlust für das ganze geistige Leben Weimars an. Auch Jena bot keinen rechten geistigen Rückhalt mehr, da gerade damals eine ganze Reihe bedeutender Gelehrter nach auswärts berufen wurden, so daß es recht schlimm um die Universität stand. Das ganze enge gesellschaftliche Leben Weimars bedrückte Schiller. Es sei doch seine Bestimmung, meinte er, für eine größere Welt zu schreiben; seine dramatischen Arbeiten sollten auf sie wirken, und er sehe sich hier in so kleinen und engen Verhältnissen, daß es ein Wunder sei, wenn er etwas leiste, was nur einigermaßen für die größere Welt tauge. Aus diesen Stimmungen entsprang der Gedanke, mit Berlin Fühlung zu gewinnen und zu prüfen, ob sich dort vielleicht Aussichten für eine befriedigende Existenz eröffneten. Auf Berlin wurde Schillers Blick wohl besonders durch das Hoftheater gelenkt, das unter Ifflands Leitung Schillers Dramen seit dem »Wallenstein« die würdigste Stätte und die glänzendste Aufnahme bereitet hatte. Mit dem Stil der Darstellung war Schiller freilich nicht einverstanden; aus dem Beispiel der berühmten Frau Unzelmann und Ifflands selber, die in Weimar gastiert hatten, schloß er auf einen zu naturalistischen, zu wenig ideal gehaltenen Ton; er stand in dieser Hinsicht ganz auf dem Standpunkt der Goetheschen, strenge Stilisierung fordernden Theaterleitung. Doch warum hätte er nicht auch in Berlin auf den Stil der Aufführungen Einfluß gewinnen können? Schnell entschlossen reiste er zu Ende April mit seiner Frau über Leipzig dorthin und verweilte fast drei Wochen. Iffland, der jetzt seine einstigen Mannheimer Intrigen reichlich sühnte, bereitete ihm die glänzendste Aufnahme. »Wallensteins Tod«, die »Jungfrau«, die »Braut von Messina« wurden mit großem Glanz gegeben und Schiller dabei hoch gefeiert. Von der Königin Luise wurde er empfangen, bei dem Prinzen Louis Ferdinand zur Tafel geladen. Gern fand er sich auch mit dem naturfrischen Musiker Zelter zusammen, dessen Kompositionen seiner Gedichte er schätzte. Mit dem Geheimrat Beyme besprach er vertraulich die Möglichkeit und die Bedingungen einer Übersiedelung nach Berlin. Aber seine Stimmung war doch geteilt. Das reiche Leben Berlins imponierte ihm; aber die Vorteile der vornehmen Abgeschlossenheit Weimars traten ihm doch auch lebhaft vor die Seele. Am liebsten hätte er abwechselnd in beiden Orten gelebt.
Über die folgenden Vorgänge ist es schwer zur Klarheit zu kommen. Sechsundzwanzig Jahre später hat Beyme in einer mit seinem Namen unterzeichneten Veröffentlichung erklärt, der König habe Schiller bei dem Berliner Besuch eine Anstellung als Mitglied der Akademie der Wissenschaften, ein Gehalt von dreitausend Talern zugesichert, und nur dessen nachher erfolgte Krankheit und frühzeitiger Tod hätten seine Anstellung vereitelt. In dieser Form ist die Mitteilung zweifellos unrichtig. Schiller hat in Berlin nur ganz allgemeine Eröffnungen erhalten, über die sich in den Akten der Akademie überhaupt nichts vorfindet; und als er nach seiner Rückkehr seine Bedingungen formulierte, hat er auf die betreffende Zuschrift an Beyme überhaupt keine Antwort bekommen. Seine »Krankheit« kann unmöglich als Ursache dafür gelten, da niemand wissen konnte, daß der Krankheitsanfall, der ihn einen Monat nach Absendung jenes Briefes traf, der Anfang vom Ende, das dreiviertel Jahre später erfolgte, sein würde. Man könnte etwa anführen, es habe in Berlin mißfallen, daß Schiller einen Teil des Jahres doch in Weimar zubringen wollte. Aber seine Bedingungen waren auch dementsprechend herabgesetzt; nicht dreitausend Taler, sondern nur zweitaufend verlangte er. Eine Äußerung Zelters, der ein scharfer Beobachter war, wird vermutlich das Richtige treffen; er bezeugt, Beyme habe sich der Sache wacker angenommen; »es fehlte aber auch nicht an Hindernissen; den Herren von der Gilde kniffen die Xenien noch in die akademischen Kaldaunen (Nicolai lebte ja noch!). Schiller war geachtet, aber Kotzebue gelesen, genossen, wiederholt. Der gute Wille sollte schon die Tat sein; Schiller sollte das alles zu Gute behalten.« Es scheint danach, daß die Feinde rührig waren, und daß die Freunde sich endlich damit trösteten, die Berliner Aussichten würden doch in Weimar für Schillers Position nützlich sein. Darin täuschten sie sich auch nicht, der Herzog erhöhte sein Gehalt auf 800 Taler, während er sich zugleich einverstanden erklärte, daß Schiller alljährlich einige Zeit in Berlin zubringe. Doch dazu kam es nun nicht; Schiller blieb ruhig in Weimar. Seine Frau war damit sehr einverstanden; an die Thüringer Berge ebenso gewöhnt wie an ihre dortigen Familienbeziehungen, hatten sie Natur und Menschen in Berlin abgestoßen. Und der Schwager Wolzogen, der sich eben als Weimarer Gesandter in Petersburg befand, schrieb von dort an den Dichter: »Es ist mir sehr lieb, daß Deine Pläne wegen Berlin jetzt im reinen sind. Ich glaube nicht, daß jene dürre Sandgegend, wenn auch des Getreibes viel ist, etwas für Dich wäre, alles ist dort kleinlich zugeschnitten, und nirgends, weder in Wäldern, Vieh, Menschenkind noch Feldern eine Fülle.«
Eine Besserung seiner äußeren Lage hatte Schiller immerhin erreicht, und zugleich wurde ihm in den letzten Jahren noch eine andere Erleichterung zuteil. Dalberg war endlich (1802) zum Kurfürsten und Reichserzkanzler emporgestiegen. Bei der Umwälzung, die gerade damals über die geistlichen Länder und besonders über das Erzbistum Mainz hereinbrach, war an eine Berufung und Anstellung Schillers freilich nicht mehr zu denken. Allein der »Goldschatz«, wie man ihn früher in Rudolstadt genannt hatte, wurde seinen Versprechungen trotzdem nicht untreu; er ließ Schiller alljährlich ein beträchtliches Geldgeschenk (gegen tausend Taler) zukommen und hat auch der Familie des Dichters, als sie mittellos zurückblieb, seine fürstliche Fürsorge zugewandt.
Noch ehe der »Tell« auf der Berliner Bühne erschienen war, hatte sich Schiller schon wieder an einen neuen dramatischen Stoff gemacht, der ihm schon einige Jahre zuvor aufgefallen war. Es war die Geschichte des englischen Prätendenten Perkin Warbeck, der sich für Richard, den Sohn Edwards IV., ausgab. Bei diesem Stoff mußte die Erfindung das Beste tun, und es erscheint als eine leicht begreifliche Nachwirkung des »Tell«, wenn Schiller, entgegen dem historischen Verlauf, das Stück zu heiterem Ausgang führen, also zum »Schauspiel« gestalten wollte. Man darf übrigens bezweifeln, daß die Wirkung befriedigend gewesen wäre. Denn die Entdeckung, daß Warbeck ein natürlicher Sproß des Hauses Plantagenet sei, daß er somit ein gewisses Recht, aber doch Unrecht habe, und die Situation, daß er sich schließlich nach Erscheinen eines legitimen Plantagenet mit der Rolle eines apanagierten Prinzen zufrieden gibt, dies alles wäre ein kümmerlicher, äußerlicher Abschluß gewesen, nach dem großen psychologischen Aufwand, den Schiller in den Entwürfen der ersten Akte gemacht hatte, und dem Ernst, mit dem er dort in die Tiefe des Problems hinabgestiegen war. Der Ausgang würde ähnlich gewirkt haben, wie der von Lessings »Nathan«, mit dem Schiller so wenig einverstanden war. Es mochte eine Einwirkung von Goethes »Natürlicher Tochter« sein, wenn Schiller den Widerstreit hoher Abstammung mit der durch die Illegitimität bestimmten Lebensstellung schildern wollte. Aber dieser Widerstreit treibt naturgemäß zu tragischem Abschluß (wie ihn auch Goethe beabsichtigte), weil ein Ausgleich zwischen den Forderungen der Persönlichkeit und den Verhältnissen nicht möglich ist. Schiller handelte daher gewiß sehr richtig, als er diesen Stoff, so große Geistesarbeit er auch schon auf ihn verwandt hatte, wieder fallen ließ und an seiner Stelle die Geschichte eines anderen Prätendenten, des falschen Demetrius, ergriff.
Es wäre von großem Interesse, hier die ganze Reihe der dramatischen Entwürfe unseres Dichters zu beleuchten; allein eine solche kritische Untersuchung würde den Rahmen dieser Darstellung weit überschreiten. Bis ins einzelne durchdacht und schon auszuführen begonnen hat er freilich außer den eben genannten Stoffen und den »Maltesern« nur noch zwei dieser Pläne; die Zahl der Gegenstände aber, die er flüchtig betrachtet oder zu künftiger Ausführung sich notiert hat, ist sehr groß. Die Lebhaftigkeit seines Geistes zeigt sich auch hier, und sie wird noch gesteigert durch eine Vielseitigkeit des Interesses, die er erst in späteren Jahren sich erworben hatte. Besonders muß es überraschen, unter Schillers Plänen auch solche zu finden, die nicht durch den Eindruck einer dramatisch wirksamen Handlung oder eines heroisch-tragischen Geschickes erzeugt sind, sondern durch das Bild von Zuständen, von Verhältnissen, innerhalb deren die Handlung erst noch zu erfinden war. Solche »Milieu«-Studien bilden einen entschiedenen Gegensatz zu Schillers sonstigem Schaffen. Es sind besonders zwei Interessenkreise: erstens die Pariser Polizei, und zweitens das Seeleben an fernen Küsten und in seinen Meeren. Von dem ersten sagt Schiller: »Paris als Gegenstand der Polizei muß in seiner Allheit erscheinen und das Thema erschöpft werden. Ebenso muß auch die Polizei sich ganz darstellen und alle Hauptfälle vorkommen«; über den zweiten lesen wir: »Die Aufgabe ist ein Drama, worin alle interessanten Motive der Seereisen, der außereuropäischen Zustände und Sitten, der damit verknüpften Schicksale und Zufälle geschickt verbunden werden.« Man hat festgestellt, durch welche Schriften Schiller auf den Stoff der »Polizei« geführt wurde; immerhin bleibt es höchst merkwürdig, daß sein dramatischer Genius sich durch sie angeregt fühlte. Das Thema des »Seefahrers« war ihm wohl entstanden durch den Eindruck, den die englischen Entdeckungsreisen auf ihn gemacht hatten. Von dem »Briten« heißt es im Gedicht »Der Eintritt des neuen Jahrhunderts«:
»Zu des Südpols nie erblickten Sternen
Dringt sein rastlos ungehemmter Lauf.«
Mit besonderem Interesse hatte er Cooks Reisen gelesen, so daß er sogar Goethe eine epische Behandlung dieses Stoffs vorgeschlagen hatte.
Angesichts dieser Pläne dürfen wir sagen, daß bei längerem Leben Schillers Schaffen noch ganz neue, gar nicht zu berechnende Wege hätte einschlagen können. Es war Wahrheit, was Humboldt dem Freunde anderthalb Jahre vor seinem Tode schrieb: »Für Sie braucht man das Schicksal nur um Leben zu bitten. Die Kraft und die Jugend sind Ihnen von selbst gewiß.«