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Den Weg –! Weißt du den Weg?« – »Welchen Weg –?«
»Nach unseren Zimmern!«
»Ich will nicht nach unseren Zimmern! Wir betreten sie nicht mehr. Ich lasse dich nicht eine Sekunde mehr, als unumgänglich nötig ist, in diesem verfluchten Hause, wo der Tod umgeht! Laufe, was du laufen kannst. Bleibe mir auf den Fersen! Wir müssen einen Ausgang nach dem See gewinnen. Der Palast hat hundert Ausgänge. Es gilt nur ein Boot zu finden – dann hinein und fort!«
Sie liefen, nicht mehr sprechend, nebeneinander her. Eines hörte den Atem des anderen keuchen. Säulen, Treppen, Hallen flogen an ihnen vorbei, von einem ungewissen Licht, das dem Monde glich, von oben her gestreift.
»Falle nicht –!« schrie der Mann, die Frau am Arm zurückreißend. Es ging eine Treppe hinab. Die Stufen waren naß und glatt und leuchteten, wie mit Phosphor bestrichen.
»Da können wir nicht weiter! Die Treppe führt in einen Kanal!«
Fürbringer wandte sich um und sprang die Stufen wieder hinauf.
»Irene –! Irene, wo bist du –?!«
Die Stimme seiner Frau antwortete ihm aus der Dunkelheit.
»Ich sehe dich nicht mehr –!«
Fürbringer streckte die Hand aus, erfaßte die Frau, zog sie mit sich.
»Bleibe neben mir – hörst du? Geh mir nicht von der Seite! Vielleicht versuchen sie, dich von mir wegzulocken – rufen dich bei Namen mit meiner Stimme. Höre nicht darauf! Bleibe bei mir!«
»Ja … Ja …«
Sie liefen.
Irenens Stimme flüsterte im Keuchen: »Hörst du? – Hörst du nichts?«
»Was –?«
»Es läuft jemand hinter uns her –!«
»Du täuschst dich …«
»Nein, nein … Es läuft jemand auf unserer Spur! Es ist ein Mann, der rennt … Er rennt auf nackten Füßen … Er holt uns ein …«
Fürbringer blieb stehen, drückte die Frau an die Mauer, stellte sich vor sie, bückte sich, horchte, seinen eigenen Atem hinunterwürgend.
Aus der Dunkelheit des Ganges hinter ihnen kam ein Mensch gelaufen. Er rannte mit allen Kräften. Ein Lichtschein siel auf sein Gesicht – auf das Gesicht Ramiganis.
Fürbringer tat einen Sprung ihm entgegen. Er hob die Hände, den Inder bei der Gurgel zu packen. Ramigani wich ihm aus.
»Warum steht du hier?« schrie er. »Warum läufst du nicht?«
Er sah Irene stehen, fuhr mit beiden Händen durch die Luft.
»Ich warnte dich!« rief er fast kreischend.
»Bleib stehen, Ramigani!«
Fürbringer packte den Inder im Genick. Er zerrte ihn in einen Lichtschein hinein, der durch ein unsichtbares Fenster fiel.
»Ich will dir ins Gesicht sehen … Ein Verräter bist du, so oder so … Ich will wissen, wen du verrätst –!« Der Inder verzerrte das Gesicht in einem lautlosen Gelächter.
»Mich, Sahib –! Mich!« rief er, sich mit beiden Händen in die Brust krallend. »Verflucht wird mein Name sein! Aber auch er –! Er hat Blut an den Fingern! Er hat mich gezwungen, meine Seele zu vernichten! Er wußte, daß die zweite Kobra ihr Gift noch besaß … Du suchst den Weg zum Wasser –? Ich will ihn dir zeigen!«
»Wenn du lügst, Ramigani – du kommst mit dem Leben nicht davon!«
»Ich lüge nicht! Vorwärts, Sahib! Vorwärts!«
Ramigani lief voran; Irene und Fürbringer folgten ihm.
»Traust du dem Menschen?« fragte Irene mit einem Schauder.
»Sein Haß ist ehrlich …«
Die Sekunden stürzten sich in die Dunkelheit hinab und türmten sich zu Bergen auf ihrem Wege.
»Wir haben zu viel Zeit verloren!« klagte die Frau. »Sie werden uns den Ausgang verlegen.«
»Sie sind auf falscher Fährte«, antwortete Ramigani, ohne sich umzuschauen. »Ich habe Nissa nach Süden geschickt. Noch traut mir der Fürst …«
»Wenn er den See erreicht und merkt, daß du ihn getäuscht hast –?«
»Die Boote treiben im See – alle … bis auf eines …«
»Wie lange brauchen wir noch bis zum Tor?«
»Ich habe den Riegel in der Hand …«
»Ich werde dir helfen.«
Die beiden Männer vereinten ihre Kräfte. Langsam, widerwillig öffneten sich die ungeheuren Flügel aus Erz.
Draußen lag der See. Sein glanzloses Wasser war unbeweglich. Am Fuß der fünf Stufen, die zum Spiegel hinunterführten, wartete das Boot. Die Ruder waren eingezogen. Niemand saß darin.
Fürbringer lief die Stufen hinunter, sprang in das Boot, streckte der Frau die Hand entgegen.
»Worauf wartest du, Irene –! Komm –!«
»Wir sind nicht allein –!« rief die Frau. Sie deutete mit beiden Armen in die Dunkelheit vor dem Palaste.
Schatten sprangen auf und verschwanden in völliger Nacht.
Ein langgezogener, geller Pfiff schrillte aus der Höhe.
Über Ramiganis Lippen kam ein wütendes Stöhnen. Er sprang die Treppe zum Boot hinab, stieß die Frau vor sich her, daß sie taumelte. Fürbringer fing sie auf. Der Inder bückte sich, riß an der Kette. Die Adern schwollen ihm auf der Stirn.
»Hilf mir, Sahib!« knirschte er.
Fürbringer drückte Irene auf eine Bank nieder und löste die Kette mit einem gewaltigen Ruck. Ramigani sprang ins Boot. Es trieb vom Ufer ab. Die Männer griffen nach den Rudern.
Ramigani brach in ein Gelächter aus.
Es war ihm noch auf den Lippen und erstickte gurgelnd. Hinter ihnen brach ein Vulkan schneeweißen Lichtes aus unbekannten Tiefen, daß der Palast auf der Insel in eisigen Flammen zu stehen schien.
Auf der obersten Stufe der Treppe stand der Radscha. Er stand etwas vorgebeugt, den Kopf in den Nacken gebogen. Er hob den rechten Arm und rief, nicht laut, mit einer Stimme, die blaugeschliffenem Stahl glich:
»Hierher, Ramigani –!«
Ramigani zog den Kopf in die Schultern. Er starrte den Fürsten an. Er hielt die Ruder unbeweglich in der Luft.
»Vorwärts, Hindu!« sagte Fürbringer ingrimmig.
Er brauchte die Ruder mit aller angespannten Kraft.
»Hierher, Ramigani –!« rief der Fürst zum zweiten Male.
Ramigani ließ die Ruder fallen. Er krampfte die Hände in sein Gewand, hob das Kinn und heulte mit verdrehten Augen, in denen das Weiße gespenstisch leuchtete, in langgezogenen Tönen wie ein Wolf in der Falle.
»Er ist wahnsinnig geworden!« schrie Irene.
Fürbringer brüllte ihn an.
»Nimm die Ruder auf, Kerl –! Bist du eine Kröte oder ein Mann –«
Ramigani hörte nicht. Er heulte.
»Hierher, Ramigani –!« rief der Fürst zum drittenmal.
Ramigani stand auf. Das Boot schwankte unter der Bewegung. Es war kiellos gebaut und begann sich zu drehen.
Fürbringer erwürgte einen Fluch zwischen den zusammengepreßten Zähnen. Er ruderte, daß ihm der Schweiß in den Nacken tropfte.
Der Radscha hatte es nicht nötig, zum vierten Male zu rufen.
Ramigani hielt die glühenden Augen stier auf seinen Herrn gerichtet, verstummte und warf die Arme in die Luft. So stand er mehrere Augenblicke unbeweglich, fiel vornüber und verschwand im Wasser. Irene schrie auf.
»Michael –! Michael, rette ihn! Er hat den Verstand verloren –!«
»Es gibt keine Rettung«, antwortete Fürbringer mit unterdrückter und verzweifelter Wut.
Der Kopf Ramiganis tauchte aus dem Wasser auf. Die kaum bewegten Wellen flossen über seinen klaffenden Mund. Er ging unter und kam nicht wieder in die Höhe.
Seine Hoheit der Radscha von Eschnapur ließ den Arm sinken, wandte sich und verschwand im Palaste.
»Er verfolgt uns nicht«, meinte Irene zwischen Angst und Hoffnung.
»Er wird uns verfolgen – verlaß dich darauf! Er muß nur erst ein Boot zur Stelle haben. Nimm die Ruder Ramiganis auf und hilf mir! Das Boot ist träge, wir kommen nicht von der Stelle.«
Irene gehorchte. Sie setzte sich auf den Platz, den Ramigani verlassen hatte, und nahm die Ruder auf. Aber es war, als hätten sie Schlamm statt Wasser unter sich. Das Boot kroch …
»Wir kommen nicht vorwärts!« rief der Mann in rüttelnder Ungeduld. »Sie werden uns den Weg verlegen … Kannst du erkennen, was auf der Insel geschieht?«
»Nein … Aber am westlichen Ufer ist ein Kahn abgestoßen und hält auf die Insel zu … Da – hörst du? Sie rufen sich an …«
Fürbringer stöhnte; er wandte den Kopf über die Schulter.
»Die Türme –!« schrie er fast überlaut.
Auf der Höhe der Türme, die das Tor jenseits des Sees ausholend überragten, flammten die Feuer auf und ließen lange, breite Wellen düsterroter Glut in die Dunkelheit der Tiefe stürzen.
Vom Widerschein schien Irenes Haar in Flammen zu stehen; ihr bleiches Gesicht hob sich geisterhaft aus einem rotbrennenden Kranze.
»Wohin willst du –?« fragte sie gehetzt.
»Zu den Pferden …«
»Du weißt die Wege nicht – es ist Nacht …«
»Wir suchen die Berge zu gewinnen und warten auf den Morgen …«
Sie hatten das Ufer erreicht. Das Boot stieß auf und schwankte. Fürbringer sprang ans Land; ihm auf dem Fuße folgte die Frau. Vor ihnen leuchteten die purpurnen Malven aus den Baumwollbäumen. Vom Feuer aufgescheuchte Vögel kreischten über ihren Köpfen.
Sie schrien laut, die wilden Vögel …
Fürbringer lief.
»Bleibe mir auf den Fersen, Irene –!«
»Ja –! Wende dich nicht um …«
Das Tor des fürstlichen Marstalls war unverschlossen. Fürbringer stieß es auf. Der warme Dunst der Tierleiber schlug ihm dick entgegen, raubte ihm sekundenlang den Atem.
Seine Hand tastete nach dem Lichtschalter. Das Licht flammte auf. Eine endlose Kette schwebender Leuchtkugeln spannte sich durch das Haus der fünfhundert Pferde. Kein Wächter war zu sehen.
Im strahlenden, verschwenderisch ausgegossenen Licht standen die Tiere in doppelter Reihe, rechts und links, sie alle wandten die Köpfe nach den Eingetretenen, und in ihren toten Edelsteinaugen sprühten die Farben auf und funkelten und tropften von Feuer.
Fürbringer lief die Reihen entlang. Er suchte den Rappen des Fürsten. Er fand ihn, die Opalaugen erkennend, nahm ihn beim Halfter und führte ihn ins Freie. Das schöne, blinde Tier gehorchte ohne den geringsten Widerstand.
»Lösche das Licht!« rief der Mann.
Irene tat es.
Fürbringer warf dem Rappen die Decke über, schnallte sie fest und schwang sich auf den breiten Rücken des Tieres.
»Komm herauf«, sagte er, die Hand ausstreckend.
Irene setzte den Fuß auf den seinen, griff in die Mähne des Tieres und zog sich empor.
»Wird er uns beide tragen können?«
»Er muß … Du bist nicht gewöhnt, auf blindem Pferde zu reiten … lege deine Arme um meine Brust und halte dich ruhig …«
Der Ritt in der Nacht begann. Von der Gopurah herüber leckten die langen Flammen der Turmfeuer und warfen Fetzen schwärzlicher Glut durch die Baumwipfel auf den Weg, den sie nahmen. Verworrenes Geschrei hatte sich erhoben; doch es war noch fern.
Die Bäume blieben hinter ihnen; sie hatten die Straße unter den Hufen des Pferdes. Das Pferd stolperte und blieb zitternd stehen. Fürbringer trieb es an.
»Vorwärts, mein gutes Tier, vorwärts – vorwärts …«
Der Rappe schnaubte und lief. Fürbringer beugte sich weit nach vorn, den Weg zu erkennen. Er war uneben und von Wagenspuren zerhöhlt, von der Sonne hartgebacken …
»Hörtest du etwas hinter uns?«
»Nein … Ja … Nein … Es war der Wind …«
»Die Stimmen kommen uns näher, hörst du das nicht?«
Fürbringer schwieg. Er trieb das Pferd zum Galopp. Das Tier gehorchte.
Sie erreichten den Fluß und überquerten ihn auf bebender Brücke. Sie ließen die Straße zur rechten Hand und ritten quer übers Feld. Vögel brausten auf, wo sie ritten. Das wütende Gekläff des Schakals wich ihnen aus. In den Gebüschen zur Seite glühten fremde, haßvolle Augen; die Tiere der Nacht standen wider den Menschen auf.
»Ich sehe Fackeln, die uns folgen«, sagte Irene.
Fürbringer wandte sich nicht um. Er biß die Zähne aufeinander.
»Folgen sie uns schnell?«
»Ja.«
»Haben sie Pferde?«
»Ja.«
»Sind sie schon jenseits des Flusses?«
»Es ist ein Heer von Fackeln. Eine ist allen voran. Sie braust durch die Dunkelheit wie ein fliegender Stern. Ich höre den Galopp des Pferdes, das diesen Reiter trägt …«
Fürbringer stieß dem Rappen die Fersen in die Weichen. Das Tier machte einen Satz und lief. Der Boden unter seinen Hufen war eben wie Marmor und weich.
Fürbringer dachte: Ich will nicht eher wieder fragen, als bis ich den Wald erreicht habe. Er fragte im gleichen Atemzug: »Sind sie nähergekommen?«
»Sieh dich nicht mehr um!« schrie der Mann.
Irene duckte das Gesicht an seine Brust. »Ich fürchte mich nicht!« sagte sie leidenschaftlich.
»Ich weiß es«, antwortete der Mann, sie heftig an sich drückend. Seine Augen verschlangen den Weg, den sie nahmen. Er keuchte mit offenen Lippen. »Irene«, sagte er, »ich liebe dich! Hörst du? – Achte nicht darauf, wenn ich rauh zu dir spreche! Ich liebe dich! Die Angst um dich ist es, die rauh aus mir spricht.«
»Ich fürchte mich nicht«, wiederholte die Frau mit heller Stimme.
Sie sprachen nicht mehr. Sie ritten. Minuten auf Minuten glitten unter ihre Füße. Über ihnen der Himmel verlor seine Sterne. Das Licht, das auf die Erde fiel, war kalt und grau. Es dämmerte über den Bergen, die vor ihnen lagen.
Der Atem des Tieres verlor seine Stetigkeit. Es begann zu röcheln. Das Tier zitterte; große, weiße Schaumflocken hingen ihm um Brust und Schultern.
»Es kann nicht mehr!« rief die Frau.
»Es muß –!«
Fürbringer beugte sich vor. Er schrie dem Pferde in die Ohren.
Das Tier verstand ihn. Es verstand die Angst, die aus dem Menschen rief. Es verdoppelte seine Anstrengungen. Sein schönes, glänzendes Fell war nicht mehr schwarz, es war grau von Schweiß. Die hochgetriebenen Adern lagen wie Stricke darüber.
»Es kann nicht mehr!« rief Irene, in Tränen ausbrechend.
»Es muß –!«
Die Dinge der Erde gewannen Form und Farbe. Sie tauchten aus der Dämmerung auf, verzerrt, feindselig, wie Wesen, die von böser Wanderung nach Hause kommen und ein schlechtes Gewissen haben.
Die Ebene ging zu Ende. Geröll lag in den Feldern. Felsblöcke hatten die Erde erschlagen. Die Häupter der Berge hoben sich kühl ins Licht der Frühe, als wollten sie darin baden. Über ihnen war der Himmel grün.
»Spring ab!« schrie der Mann, mit einem Griff die Arme der Frau von seinem Halse lösend. Irene gehorchte, blindlings niedergleitend ins Geröll. Sie fiel in die Knie.
Im selben Augenblick, da Fürbringer sich vom Rücken des Pferdes schwang, brach der Rappe zusammen. Er stöhnte und sprang wieder auf, warf den Kopf hoch und schüttelte sich. Er sank auf der Hinterhand ein, stemmte die Vorderhufe ins Gestein und stand so unbeweglich mit schlagenden Flanken. Im ersten Schein des Morgens schimmerten die sieben Farben seiner Opalaugen.
Fürbringer blickte in die Höhe. Er deutete mit der Hand. »Hinauf –!«
Irene raffte sich auf. Sie griff mit beiden Händen in die Steine. Fürbringer bot ihr die Schulter zur Hilfe. Sie schwang sich empor, klammerte sich ein, gewann festen Halt und stand. Sie bückte sich, dem Manne die Hand reichend.
»Halte dich nicht auf!« rief er. »Sieh dich nicht um! Nimm den Weg zur Höhe!«
Irene klomm voran. Die Felswand, vom Regen zerrissen, bot Händen und Füßen sicheren Halt. Fürbringer bewachte die Schritte seiner Frau mit den fast zornigen Augen der Sorge. Sie kamen rasch vorwärts; das Tal schien hinter ihnen wegzusinken.
Der Mann wandte sich um, rückwärts blickend. Er sah die Ebene hinter sich mit Menschen bedeckt, die auf Pferden saßen, klein wie Hunde.
Allen voran war der Fürst. Er sah in die Höhe. Fürbringer konnte sein Gesicht erkennen. Es war das Gesicht des Jägers, der sich freut an der Jagd und seiner Beute gewiß ist.
Er folgte ihnen nicht nach. Er lenkte sein Pferd ostwärts. Seine Begleiter folgten ihm. Sie verschwanden am Fuße des Berges.
»Er will uns den Weg verlegen«, sagte der Mann.
Irene antwortete nicht. Fürbringer hörte ihre tiefen Atemzüge.
Er fühlte, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand und in eisigen Tropfen über seine Schläfen rann. Sein Herz schlug, daß er es hörte. Vor seinen Augen trübte sich die Luft. Er wußte nicht mehr, wohin er griff; lockere Steine lösten sich unter seinen Fingern, glitten, dumpfaufschlagend, unter seinen Füßen fort in die Tiefe.
»Was hast du?« schrie Irene, mit ausgebreiteten Armen an der Felswand stehend.
»Sieh dich nicht um!« schrie er zurück.
Sie kletterten weiter.
Aus der Ferne und Tiefe scholl ein frohlockender Ruf zu ihnen herauf. Fürbringer wagte nicht, seiner Ursache nachzuspüren. Er dachte: Wir sind in die Hölle geraten, und der Satan läßt uns nicht mehr los.
»Was hatte der Ruf zu bedeuten?« fragte Irene. Ihre Stimme klang wie die einer Ertrinkenden.
»Frag nicht – beeile dich –!« antwortete Fürbringer unter stöhnendem Keuchen.
Irenes Hände bluteten. Der Mann sah es. Er preßte die Zähne übereinander. In seinen Ohren toste der Pulsschlag.
»Nicht schwach werden!« beschwor er sie. »Nicht schwach werden, Irene –! Noch fünf Minuten – noch drei Minuten halte dich tapfer!«
Irene machte eine Bewegung, als wollte sie in die Knie brechen. Sie hielt sich aufrecht, fiel gegen das Gestein zurück, stand wie eine Gekreuzigte, mit offenen Lippen, ihre leeren, verstörten Augen suchten den Himmel.
Sie sank vornüber.
Mit der Kraft des Wahnsinns überwand der Mann die Strecke zwischen sich und ihr. Er fing sie in seinen Armen auf. Er ließ seine Füße Wurzel schlagen in den Steinen. Er hob die Frau, ihren Widerstand überwindend, hoch auf vom Boden, warf sich den Körper über die linke Schulter, stand, die Knie straffend, die rechte Hand in den Felsen geschlagen; das Gebrüll, das ihm aus der Brust hervorbrechen wollte, wurde zum Röcheln der Erschöpfung.
Er suchte mit den Augen die Unendlichkeit des Himmels. Er suchte den Gipfel des Berges mit dem Blick. Er begann den Weg zur Höhe, als trüge er die Welt auf den Schultern. Er fühlte sich selbst nicht mehr. Blind, taub, empfindungslos schleppte er seine Last aufwärts.
Er erreichte den Gipfel und fiel hin. Er blickte in die Tiefe. Lotrecht stürzte die Felswand hinab. Drunten toste der Fluß.
Jenseits, am Fuße des Berges, standen die Verfolger. Sie entdeckten die Flüchtlinge. Sie begannen, den Berg zu erklimmen, allen voran der Fürst.
Fürbringer raffte sich auf. Er zerrte die Frau mit sich in die Höhe. Sie standen und hielten sich umklammert, als hätten sie nur einen Körper.
Fürbringer hielt die Frau in seinen Armen; er schaute nicht vorwärts, nicht rückwärts, er schaute geradeaus in die Grenzenlosigkeit der Ebene, die sich tief unter ihm breitete.
Die Sonne ging auf über den Bergen und Tälern von Eschnapur.
Und aus den Nebeln, die in den Tälern wogten, hob sich, ungeheuer, wachsend ins Riesengroße, ein Schatten …
Die Gipfel des Schattens brannten in weißem Feuer, wie ein Kristall, den die Sonne trifft.
Das indische Grabmal …
Fürbringer taumelte. Er fühlte den Boden unter seinen Füßen weichen.
Er hörte die Stimme seiner Frau, die seinen Namen rief: »Michael –! Michael –!«
Und er stürzte in die Tiefe …