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8

Fürbringer hielt das kleine Tuch in seiner Hand, als wäre es ein junger, weißer Vogel, der zu ihm gekommen war und ihn erschütterte mit der blinden Bedingungslosigkeit seines Zutrauens. Er setzte sich in den nächsten Stuhl, drückte das Gesicht in das zarte Tuch und holte tief trinkend Atem.

Er atmete mit dem Duft des Stoffes den Duft, der um die Frau her war, die er liebte – diesen frischen, süßen und heiteren Geruch Kölnischen Wassers, in dem sie eine Verschwenderin war. Er preßte seine Lippen in diese kühle Süßigkeit und spürte das Brennen seiner Lider. Er sehnte sich danach, zwecklos umherzugehen und zu lachen. Und er saß still, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, den Kopf in beiden Händen, und fesselte das Schluchzen, das ihn packte, mit den Zähnen.

Eine lange Zeit verging; und während der ganzen Zeit fühlte er, zuerst halb unbewußt, dann immer deutlicher, die Blicke Miriams wie zwei feine Flammen – Stichflammen auf sich gerichtet. Er riß sich hoch und ballte die Faust um das Tuch; er hob den Kopf und sah sich nach dem Kinde um.

Miriam kauerte, wenige Schritte von ihm entfernt, am Boden und sah ihn an. Ihr Gesicht, auf dem das Licht der Lampen weich und gleichsam ausruhend lag, schien noch schmaler geworden zu sein und litt unter seinem eigenen, fast todessüchtigen Ernst.

»Komm zu mir, meine kleine Schwester«, sagte Michael Fürbringer, die Hand ausstreckend.

Sie kam sofort, mit dem Gehorsam der Willenlosen. Aber als sie vor ihm stillhielt und den Blick zu ihm erhob, war es, als käme über sie die Erlösung derer, die lange Zeit gewandert sind, ohne zu wissen, ob sie jemals ihr Ziel erreichen würden. Sie atmete sanft und tief, mit ein wenig offenen Lippen, zufrieden, ernst und ohne Wunsch.

Sie diente …

»Sage mir, Kind« – Michael Fürbringer wußte nicht, wie hart sich seine Finger um die Hand des Mädchens geschlossen –, »wo ist sie?«

»Hier im Palaste, Sahib … Über diesem Tore, das nach Westen liegt, wohnt sie und hat viele schöne Zimmer.«

»Hast du mit ihr gesprochen?«

»Ja, Sahib.«

»Hat sie selbst dir das Tuch gegeben?«

»Ja. Für dich.«

»Warum hat sie mir kein Wort dazu geschrieben?« rief der Mann.

Das Mädchen zögerte mit der Antwort.

»Sahib, mein Ohr und mein Mund sind sicherer als ein Blatt Papier. Wenn ich starb auf dem Wege zu dir – und wenn ich nicht wiederkam, so war ich tot –, dann starben auch die Worte, die sie sprach. Aber ein Blatt beschriebenes Papier, das redet, auch wenn der Bote starb …«

»War dir der Tod so nahe auf deinem Wege?« fragte Fürbringer, fast wider seinen Willen innehaltend im Drang seiner eigenen Wünsche, um bei dem Kinde zu verweilen.

»Er ist es immer«, antwortete Miriam gelassen.

Fürbringer lächelte.

»Jedem Menschen, kleine Miriam«, sagte er gütig. »Aber du bist noch ein Kind und solltest ihn nicht fürchten.«

»Ich fürchte ihn nicht, Herr«, entgegnete das Mädchen. In ihren sehr weit geöffneten Augen, die sich dem Manne wie Tore auftaten, lag ein Ausdruck fast der Strenge.

»Ich weiß es«, sagte er ernst. »Du hast es bewiesen. Du fürchtest das Leben mehr … Kleine Schwester, wenn ich und die Frau, um derentwillen ich einzig und allein noch hier bin, dieses spukhafte Land verlassen, dann werden wir dich bitten, mit uns zu gehen, und dann wirst du es lernen, das Leben zu lieben, kleine Miriam …«

»Ja, Sahib«, antwortete sie, wunderlich geduldig. Ihr Blick wie ihre Stimme waren ganz ohne Glauben.

»Willst du mir nun sagen, meine kleine Schwester, was die Frau, bei der du warst, dir für mich aufgetragen hat?«

»O Sahib«, rief Miriam, in ein plötzliches Schluchzen ausbrechend, »sie liebt dich, und das soll ich dir sagen: Es gibt kein Wort, das heilig genug wäre, um dir zu schildern, wie groß ihre Liebe zu dir ist. Als ich zu ihr kam, da weinte sie; und sie lachte, als ich ging; denn sie wußte, daß ich zu dir gehen würde. Ich glaubte, sie liebte mich, weil deine Augen auf mir geruht haben. Oh, sie ist schön, die Frau, die du liebst! Sie ist schön, wenn sie lacht, und wenn sie weint. Sie ist am schönsten, wenn sie deinen Namen nennt; dann leuchtet ihre Seele!«

»Du wirst mich zu ihr führen, Miriam!« rief der Mann ausbrechend.

»Nein, Sahib – o nein! Niemand darf merken, daß ich eine Botschaft gebracht habe, die dich suchen läßt, was sie vor dir verbergen! Wenn sie es merkten, so würden sie mich von dir nehmen und einsperren, und ich würde mir den Kopf zerschlagen an der Tür und dir doch nicht helfen können. Du mußt Geduld haben, Sahib …«

»Kleine Miriam, wenn dein Herz so voller Angst und Liebe wäre wie das meine – du würdest nicht sagen: hab' Geduld! Du würdest nicht mehr sprechen, sondern aufstehen und mich zu der Frau führen, die wartet, daß ich zu ihr komme. Ich will dich nicht in Gefahr bringen. Du sollst den Weg nicht zum zweiten Male gehen. Du sollst ihn mir nur beschreiben – und sei gewiß, ich werde ihn nicht verfehlen. Ich würde diesen Weg mit geschlossenen Augen gehen und ans Ziel kommen! Sage mir, kleine Schwester – wohin muß ich gehen?«

Miriam stand auf. Ihr schmales Gesicht, das schwer war von seinem strengen Ernst und ihrer Jugend spottete, schien plötzlich nichts als die Maske eines übermenschlichen Willens zu sein, der durch die Haut leuchtete wie ein Feuer.

»Geh nicht, Sahib!« sagte sie sanft und fest. »Ich werde sie zu dir bringen!«

»Ohne Gefahr für sie?« fragte der Mann.

»Ohne Gefahr für sie«, wiederholte Miriam lächelnd.

Fürbringer drückte sich die Fäuste vor die Stirn. Er starrte das Mädchen an.

»Spiele nicht mit mir, Miriam!« sagte er etwas verhalten. »Du mußt nicht versuchen, mich zu betrügen, indem du sagst, daß du sie holen willst – und es wäre nur ein Vorwand für dich, fortzugehen und nicht wiederzukommen, weil du fürchtest, ich würde mir den Weg erzwingen. Ich will warten, Miriam – sehr lange Zeit warten. Aber wenn du vor Morgengrauen nicht wiedergekommen wärst, dann würde ich gehen müssen und ans Ziel zu kommen suchen ohne dich. Ich bin schon einmal eine fürchterliche Nacht hindurch auf den Treppen, in den Gängen und Hallen dieses Palastes umhergeirrt, und du mußtest mir die Hände heilen, die ich mir wundgeschlagen hatte an einer ehernen Tür. Vergiß das nicht, Miriam, wenn du mir sagst, daß du gehen willst und sie zu mir bringen!«

»Ich werde sie dir bringen, Sahib«, entgegnete das Mädchen still.

Fürbringer atmete ein paarmal tief auf; er drückte die Zähne auf seine Lippen.

»Wie lange soll ich auf dich warten?« fragte er.

»Lange, Sahib!« antwortete ihm Miriam. »Der Weg ist weit und hat viele Wächter, du wirst nicht wollen, daß wir unvorsichtig sind.«

»Nein …«

»Die Nacht wird nicht vorübergehen, ohne daß wir kamen«, sagte das Mädchen.

Fürbringer lächelte. Er beugte den Kopf in den Nacken.

»Dann geh, meine kleine Schwester!«

Miriam ging. Lautlos schloß sie die Tür hinter sich.

Fürbringer stand und blickte auf diese geschlossene Tür, bis ihm das Blut in den Augen flimmerte. Er wandte sich ab und fuhr sich über die Stirn. Er zog die Uhr aus der Tasche, sah auf das Zifferblatt und steckte sie wieder ein, ohne zu wissen, wie spät es war. Er begann im Zimmer hin und her zu gehen; schließlich, da der eine Raum ihm nicht genügte, stieß er die Türen der beiden anderen auf und wanderte vom Schlafzimmer zum Arbeitszimmer, blieb an den Fenstern, an den Tischen und Stühlen stehen, nahm hundert Dinge in die Hand, betrachtete sie und wußte nicht, was er sah. Zuweilen horchte er, den Atem anhaltend, glaubte Geräusche zu hören – hörte sie wirklich …

Eine Tür fiel ins Schloß … gleich darauf eine zweite, eine dritte …

Jemand entfernte sich, als liefe er. Dann war es wieder still. Wasser tropfte …

Dieses gleichmäßige, feine Wassertropfen wurde zu einer Melodie, die leise mit sich selbst schwatzte und durch die in sich abgeschlossene Gleichgültigkeit gegen alles andere zur Folter wurde.

Fürbringer fühlte, daß ihm der Schweiß an den Schläfen hing. Er fror, daß es ihn schüttelte, und sein Gaumen war trocken wie Staub.

Er dachte: Ich muß irgend etwas anfangen, um meine Gedanken zu bändigen. Er begann zu zählen; aber die Zahlen verwirrten sich in seinem Hirn.

Er ging in sein Arbeitszimmer und brannte alle Kerzen an; er entzündete das Räucherwerk in der Bronzeschale. Er sah die schwermütigen, bläulichen Wolken aufsteigen und atmete den Duft mit einer gewissen drängenden Inbrunst.

Die Kerzen brannten still und ernst empor, fast unbewegt mit ihren schönen Flammen. Eine knisterte, heller brennend, auf, und der sehr zarte Laut gewann in der großen Stille der Erwartung eine fast erschütternde Bedeutung.

Plötzlich, ganz übergangslos und mit einer stürzenden Kraft löste sich die Gespanntheit des Wartens in einen Glückstaumel auf, der sich danach sehnte, gellend zu schreien. Fürbringer drückte sich die Nägel ins Fleisch und schloß die Augen. Er hörte das heimliche, das ungebändigte Schreien seiner Seele, wie sein Blut brauste in seinen Ohren. Es war ein durchdringender, heller, hoher Laut, der kein Ende nahm.

Er löste in seinem Hirn sich jagende Bilder aus, die alle wie von ausgeschütteter, unsinnig verschwendeter Mittagssonne überflutet waren. Schwalben schwirrten mit flirrenden Ssswssss … ssswsss … um einen Kirschbaum, der, über und über mit dem Schnee seiner Blüten bedeckt, auf einem kleinen Hügel unter flammendblauem Himmel stand … Ein Gießbach stürzte sich kopfüber aus strahlender Höhe in eine Tiefe, die ihn klingend empfing, und spannte über dem Donner, Blitz und Regen seines Falles selbst den zitternden Regenbogen. Zwei schönmähnige Pferde, Füchse mit silbernen Schweifen, die im Winde flogen wie Fahnen, fegten über eine Wiese, daß die Erde dröhnte; Schaum hing in Flocken an ihrer Brust, aus der das stürmische Gewieher der Tierfreude gleich Posaunenstößen hervorbrach und frohlockte; denn sie brausten vor Kraft.

Der große Sturm der Freude war in der Welt und fing sich für die Dauer von Sekunden im Herzwinkel des Mannes, daß er den Anprall der überströmenden Fülle in körperlichem Schmerz empfand.

Er breitete die Arme aus, um den vom Sturm des Blutes beengten Lungen Raum zu schaffen.

Er sprach vor sich hin, zwischen aufeinandergepreßten Zähnen: »Komm – komm –!« Mit einem jähen Ruck zog er die Arme zurück und faßte mit den Händen ins Leere.

Und diese Leere kam ihm zum Bewußtsein.

Es war, als ob ihm dies Bewußtsein, als einem Menschen, der in freier Höhe stand, einen Stoß in den Rücken gäbe. Seine Seele, die noch eben den Sturm des Glücks in sich empfangen hatte, fiel in Leere und Dunkelheit.

Wie, wenn sie nun nicht kam – nicht kommen konnte? –

Wie, wenn Miriam auf ihrem Wege entdeckt und angehalten worden war? –

Wie, wenn Irene selbst auf ihrem Gang zu ihm ein Opfer von Ramiganis Wachsamkeit wurde?

Fürbringer stöhnte in sich hinein.

Narr, der er gewesen war, diese Möglichkeiten nicht zu bedenken! Vielleicht, wenn er sich mit Miriam besprochen hätte, wäre ihm auch ein Mittel eingefallen, ihnen zu begegnen …

Miriams geheimnisvolle Reden fielen ihm ein, vom Tode, der dicht neben ihr gewesen war. Er hatte nur halb darauf geachtet – seine Gesunken waren andere Wege gegangen.

Jetzt fielen ihre Worte ihm wieder ein. Die Flammen der Kerzen an den Wänden fingen an zu tanzen und bildeten Buchstaben von Miriams Worten. Die leise ziehenden Wolken des Weihrauchs formten sie über seinem Haupte und schleppten sie wie ein Gebet, das sich zwecklos weiß, aufwärts zur Höhe der Kuppel.

Mit derselben hemmungslosen Wucht, die in seiner Freude gewesen war, fiel jetzt die Angst über ihn her und wuchs mit dem Verrinnen jeder Minute mehr und mehr ins Unmeßbare.

Er hätte die Gefahr nicht zu nennen vermocht, von der er die Frau, die er liebte und die zu ihm kam, weil sie sein war, belauert glaubte. Aber das Namenlose schien seine Schrecken zu verdoppeln.

Er kehrte in sein Wohnzimmer zurück; er ertrug die feierliche Schweigsamkeit der Kerzen nicht mehr und litt unter dem inbrünstigen Duft des Weihrauchs.

Er starrte die Lampen an der Decke an, bis sie zu taumeln schienen, und fühlte die unterschiedlose Freundlichkeit ihres Leuchtens wie etwas Feindseliges.

Zehnmal in einer Minute horchte er auf, daß sich zuletzt die Kraft seines Gehörs zur Krankhaftigkeit steigerte und die Stille um ihn her zu klingen begann.

Er öffnete die Tür und spähte in die Finsternis der Gänge. Die Faust gegen den Mund gepreßt, um der Versuchung, laut nach Miriam zu rufen, nicht zu unterliegen, stand er und lauschte.

Er konnte die Zeit nicht schätzen, die mit seinem Warten verging. Aber er fühlte, daß keine Minute ihm einen Bruchteil ihrer Dauer schenkte. Wie ein vollgerüttelt Maß der Qualen boten sie sich ihm dar, und er leerte ihre Schale, weil er mußte.

Als er, der Kraft seines Widerstandes nicht mehr vertrauend, sich endlich niedersetzte und in einem Ausatmen, das fast ein Stöhnen war, den Kopf auf den Tisch legte, hörte er, wie sich die Tür auftat.

Er saß, ohne sich zu rühren, hielt die Augen geschlossen. Dem Übermaß der Hoffnung dämmte sich die Feigheit vor Enttäuschung ringend entgegen.

Aber plötzlich riß er sich hoch, tat, noch immer mit geschlossenen Augen, aufs Geratewohl ein paar Schritte, streckte die Hände aus und fühlte sie erfaßt, und hielt die Frau, die er liebte, an seinem Herzen.

Keines von ihnen sprach.

Sie klammerten sich aneinander, bis sie die Schläge ihrer Herzen nicht mehr unterscheiden konnten.

Sie küßten sich nicht. Sie standen nur still und spürten einander von den Stirnen bis zu den Füßen als ein Einziges – waren wie ein Baum, dem ein Keil ins lebendige Leben getrieben worden war, und der geblutet hatte und sich, befreit, von neuem zum Ganzen schloß.

Eine unendliche Ruhe überströmte den Mann. Ein Gefühl, in dem viel Heiterkeit war. Er hob das Gesicht der Frau zu sich empor und küßte ihre überströmenden Augen und ihren hingegebenen Mund mit den trinkenden Küssen endlichen Wiedersehens. Er spürte das Zucken ihrer Lippen, die reden wollten, und deckte sie mit seinen Lippen zu.

»Sage nichts …«, murmelte er, als spräche er zu ihrem Munde statt zu ihren Ohren. »Sage nichts … Du bist da … Ich habe dich bei mir … Ich habe dich in meinen Armen … Alles andere ist unwichtig … Alles andere hat keinen Sinn … Du bist da, Irene … Du bist da …«

Die Frau erwiderte nichts. Als er den Kopf hob, um sie zu betrachten, sah er, daß sie lächelte. Und ihr Lächeln war das einer Verklärten.

»Wie bist du hierhergekommen?«

»Das ist eine lange Geschichte, Lieber … Soll ich sie dir erzählen?«

»Ja, aber du mußt in meinen Armen bleiben … Setze dich; ich will dir ins Gesicht sehen können. Ich will neben dir sitzen und deine Hände halten. Ich will dich anschauen, wenn du sprichst … Vielleicht wirst du manches deiner Rede zweimal sagen müssen, geliebte Frau, wenn ich über dem Lauschen auf deine Stimme den Sinn der Worte nicht erfasse … Du mußt nicht mehr weinen – dazu hast du keinen Grund … Sieh mich an mit den Augen, die mir gehören! Ich will mich im blanken Spiegel deiner Augen wiederfinden, was mehr an Glück ist, als ich jemals wiederzugewinnen hoffte. Mir ist das Herz schwer um dich gewesen, Irene. In einer Stunde habe ich mir fast das Gehirn zerrüttet um dich … Nun bist du da …«

Er schüttelte leise den Kopf, sah der Frau ins Gesicht und lachte vor sich hin.

»Hast du meine Briefe bekommen?«

»Ja, Liebster. Keine zwölf Stunden, nachdem du sie geschrieben hattest …«

»Wie ist das möglich?«

»Ich war niemals so weit von dir entfernt, daß du mich nicht hättest errufen können …«

»Nun frage ich nichts mehr … Nun mußt du erzählen. Ich habe schon fast verlernt, mich zu wundern …«

»Es ist bald erzählt, mein geliebter Mann …« Am letzten Abend, da du noch halb im Fieber zu Hause lagst, wurde ich angerufen. Von meiner Schwester. Sie bat mich, sofort zu ihr zu kommen. Sie hätte eine Nachricht erhalten, vor der sie völlig kopflos stünde, und müßte sich unbedingt mit mir aussprechen. Sie bäte mich inständig, um unserer herzlichen Liebe willen, sie jetzt nicht im Stich zu lassen.«

»Sehr merkwürdig«, meinte Fürbringer.

»Was, Liebster …«

»Hanna ist nicht der Mensch, der den Kopf verliert, wenn er ihn am nötigsten braucht.«

»Freilich nicht. Aber das kam mir erst später in den Sinn. Sie weinte so verzweifelt, während sie mit mir sprach, daß ich mich ernstlich erschreckte und ihr zusagte, sofort zu kommen. Ich zog mich an, überzeugte mich, daß du fest schliefst, gab Franz die nötigen Anweisungen und ging aus dem Hause.«

»Um welche Zeit war das?«

»Gegen halb neun.«

»Hm … Und weiter?«

»Das nächste war, daß ich weit und breit kein Auto bekommen konnte. Es regnete. Die Straßen troffen. Die Elektrischen waren überfüllt. Es dauerte endlos, bis ich mitfahren konnte. In einer halben Stunde ging der Zug, den ich benutzen wollte. Als ich den Bahnhof erreichte, hatte er ihn soeben verlassen. Der nächste fuhr in fünfzig Minuten. Wenn ich mir ein Auto nahm und dem Fahrer zehn Mark versprach, hätte er mich vielleicht bei rasendem Tempo in einer guten Stunde zu Hanna gebracht. Aber ich war nun auch ruhiger geworden, überlegte mir die Sache mit mehr Besonnenheit und beschloß, Hanna unbedingt erst noch einmal anzurufen, ehe ich dich stundenlang allein ließ, und sie schlimmstenfalls zu bitten, lieber zu mir zu kommen, wenn sie mich durchaus noch in dieser Nacht sprechen müßte. Es dauerte Ewigkeiten, ehe ich die Verbindung bekam. Als ich sie endlich hatte, war Hanna selbst am Fernsprecher und fragte mich im muntersten Ton, wie es dir ginge, und wann sie dir die ersten Märzglocken aus dem Garten bringen dürfte; sie wären eben aufgeblüht …«

»Sehr gut!« sagte Fürbringer etwas grimmig.

»Es gab ein langes und lebhaftes Hin und Her. Hanna schien mich für verrückt zu halten. Wenigstens riet sie mir dringend, deine Pflege wenigstens für kurze Zeit einer anderen Kraft zu überlassen. Ich gab ihr die Versicherung, daß ich durchaus nicht geistig gestört und im übrigen völlig Herrin meiner Nerven sei; aber ich könnte einen Eid darauf ablegen, daß sie mich um halb neun Uhr angerufen und mich um Gottes und des Himmels willen gebeten habe, zu ihr zu kommen und ihr in einem schweren Kummer beizustehen. Darauf erwiderte sie, daß sie mir mit demselben Nachdruck schwören könne, weder mich angerufen noch einen Kummer zu haben, und die ganze Angelegenheit sei so rätselhaft wie möglich …«

»Arme Hanna!« sagte Fürbringer lächelnd. »Ich kann mir vorstellen, wie ihre liebenswerte, fröhliche Nüchternheit sich sehnte, dem Spuk zu Leibe zu gehen …«

»Liebster, danach sehnte ich mich auch. Und ich tat es. Ich schloß das Gespräch mit Hanna und rief unsere Nummer an. Franz antwortete. Ich wußte, daß die Glocke der Nebenstelle an deinem Schreibtisch nicht anschlagen konnte; wir hatten sie ausgeschaltet, damit du nicht gestört würdest. Ich fragte Franz, ob irgend etwas sich ereignet habe während meiner Abwesenheit. Ja … Ein fremder Herr sei dagewesen; du habest ihn weggeschickt und dann zurückgerufen, und er hätte das anscheinend nicht anders erwartet, denn er wäre vor dem Hause auf und ab gegangen, als Franz ihn holte. Als ich ihn aufforderte, mir den Fremden zu beschreiben, wußte er nur zu sagen, daß er eine Haut wie nasser Lehm habe und ein merkwürdiges Deutsch spreche. Ich verbot ihm, dir oder dem Fremden etwas von meinem Anruf verlauten zu lassen, nahm mir am Bahnhof ein Auto und fuhr nach Hause. Als ich ankam, warst du seit zehn Minuten fort …«

»Mein armer Liebling … Hast du dich geängstigt?«

»Ich weiß nicht, ob dies das rechte Wort ist … Ich weiß nur, daß ich eine sinnlos lange, verschwendete Zeit vor deinem leeren Bette stand und das Kissen anstarrte, das noch die Stelle zeigte, wo dein Kopf gelegen hatte. Franz stand neben mir und redete auf mich ein. Aber ich verstand kein Wort von dem, was er sagte. Ich war am ganzen Körper eiskalt und fühlte irgendeinen unbestimmten Schmerz, der vom Gehirn ausging und mir gleichzeitig die Füße lähmte. Ich setzte mich auf den Rand deines Bettes und ließ die Arme hängen. Ich glaube, wenn einer gekommen wäre, um mich totzuschlagen – ich hätte mich nicht gewehrt …«

Fürbringer streichelte die Hände seiner Frau. Er hob sie an die Lippen und hielt sie dort fest.

»Jetzt, da du's überstanden hast, freut's mich beinahe«, sagte er halblaut. »Sei mir nicht böse, Irene … Du weißt, wie eigensüchtig mein Herz ist, wenn es sich um dich handelt. Und du hast es um dieser liebenden Selbstsucht willen manchmal am innigsten geliebt … So nehme ich auch deine arme, schmerzliche Angst als ein Geschenk deines Herzens, du Frau aus Gold … Hat dir der Diener denn nicht gesagt, was ich ihm aufgetragen hatte?«

»Doch, mein Liebster … Aber ich habe ihn nicht verstanden. Vielleicht hat er Angst vor mir bekommen; vielleicht fürchtete er, wenn auch mit mehr Grund als Hanna, wie sie, daß ich den Verstand verloren hätte. Er sprach unaufhörlich auf mich ein, wiederholte unentwegt den gleichen Satz, die Kraft seiner Stimme beständig steigernd, bis er zuletzt mit der vollen Wucht seiner Lungen schrie, um mich aus meiner Starrheit aufzuwecken. Es gelang ihm auch, wenigstens teilweise. Allmählich hatte er mir die Worte: ›Außerordentlich wichtige Berufsangelegenheit … Besuch eines fremden Herrn … sofort abreisen … in keiner Weise sorgen … vollkommen gesund … morgen früh telegrafische Nachricht‹ … so ins Gehirn gehämmert, daß ich sie begriff. Aber das half mir nicht aus der Angst heraus … Du mußt bedenken, mein Geliebter, daß ich dich nach endlosen Wochen der Krankheit, auf den Tod erschöpft und nicht frei von Fieber, im ersten, tiefen Schlummer der Genesung verlassen hatte. Und nun warst du aufgestanden, warst fortgegangen – mit einem wildfremden Menschen, ohne mir eine erklärende Zeile zu hinterlassen …«

»Ich hatte es versucht, Irene – aber es war mir nicht gelungen …«

»Das weiß ich jetzt, mein Lieber – damals wußte ich's nicht. Ich hielt dein Tun und Unterlassen für die gefährlichsten Ausgeburten des wiedergekehrten Fiebers, das ein Mensch, den ich nicht kannte, und dem ich grenzenlos mißtraute, sich zum Helfershelfer geworben hatte. Ich fragte Franz aus – er wußte nichts. Der Fremde war im Auto gekommen, war mit dir im Auto weggefahren. Auch der Fahrer war ein Mann mit einem Lehmgesicht gewesen. Du hattest keinerlei Gepäck mitgenommen – nicht einmal eine Handtasche. Du warst anscheinend völlig wohl gewesen, kaum etwas aufgeregt, und hättest mich bitten lassen, ganz ohne Sorge zu sein. Jeden einzelnen dieser kargen Umstände mußte mir Franz unzählige Male wiederholen, ohne daß ich dadurch zur Klarheit und Ruhe gekommen wäre. Als ich eben mit mir zu Rate ging, ob ich die Polizei von der Angelegenheit in Kenntnis setzen sollte, klingelte es. Franz stürzte zur Tür. Ich war nicht imstande, ihm zu folgen. Die Zeit bis zu seiner Rückkehr wurde mir zum Jahr. Er öffnete die Tür deines Arbeitszimmers, machte Licht und kam zu mir herein … ›Seine Hoheit der Fürst von Eschnapur‹, meldete er.«

»Was?!« – fragte Fürbringer.

Irene lächelte.

»Da du dich wunderst, weiß ich, daß du mich ganz richtig verstanden hast«, sagte sie.

»Der Fürst war bei dir?«

»Ja.«

»Am Tage, als ich abreiste?«

»Es war beinahe Mitternacht, Liebster …«

Fürbringer schüttelte den Kopf.

»Ich wollte mich nicht mehr wundern«, murmelte er.

»Liebster, er hat mir auch keine Zeit dazu gelassen. Er stand mitten im Zimmer, der offenen Schlafzimmertür gegenüber, den Hut in der Hand, im Anzug und mit den Manieren des besterzogenen Mitteleuropäers und mit dem asiatischen Gesicht, in dem die starken Zähne glänzten, denn er lächelte, während er sich verbeugte.

›Ich bitte Sie tausendmal um Verzeihung, meine gnädigste Frau, daß ich es wage, Sie jetzt zu stören‹, begann er, als ich eintrat, ›aber ich nehme an, daß Ihnen keine Stunde zu spät wäre, in der Sie Nachricht von Ihrem Gatten erhalten würden. Also das Wichtigste zuerst: Ihr Gatte befindet sich vollkommen wohl, in ausgezeichneter Pflege und durchaus mit freiem Willen auf dem Wege nach Indien, wo er, wie ich hoffe, ein Werk schaffen wird, das die Weltwunder des Altertums in den Schatten stellen soll.‹

Die Angst um dich hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht, ich war weder höflich noch gerecht.

›Woher wissen Sie das?‹ fragte ich.

›Er tut es in meinem Auftrag‹, antwortete der Fürst verbindlich. Aber ich war nicht gesonnen, mich fangen zu lassen.

›Geschah es auch in Ihrem Auftrag, Hoheit‹, fragte ich, ohne ihn zum Sitzen aufzufordern, ›daß mein Mann nach kaum überstandener Krankheit in einem Zustand, der vielleicht gefährlicher als die schlimmsten Tage des Fiebers ist, aus dem Bett geholt und mitten in der Nacht der Regenluft ausgesetzt wurde? Und weiter: Geschah es auch in Ihrem Auftrag, daß man mich durch einen gefälschten Auftrag aus dem Hause lockte und für etliche Stunden von ihm fernzuhalten suchte?‹

›Beides, gnädige Frau‹, antwortete der Fürst. ›Und in gewisser Beziehung war es außerordentlich schade, daß Sie den Zug nicht mehr erreichten. Wir hatten einen Rechenfehler gemacht und Ihr Pflichtbewußtsein als Krankenpflegerin unterschätzt. So etwas rächt sich immer. Wenn Sie, wie es ursprünglich in meinem Plane lag, zu Ihrer Frau Schwester gefahren wären, dann würden Sie vor ihrem Hause einen Mann gefunden haben, der Ihnen einen Brief überreicht hätte, mit der dringlichen Weisung, ihn sofort zu lesen. Und Sie hätten ihn gelesen und die Erklärung darin gefunden, die ich Ihnen nun mündlich geben muß. Obgleich ich auf diese Weise den Vorzug, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen, etwas eher genieße, als beabsichtigt war, muß ich Ihnen ehrlich gestehen, gnädige Frau, daß ich bedaure, zu dieser mündlichen Erklärung gezwungen zu sein. Sie sehen mich mit großem Mißtrauen an. Ich gebe zu, daß Sie dazu berechtigt scheinen. Aber Sie sind es nicht. Sie haben keinen Grund, mir zu mißtrauen; im Gegenteil …‹

›Geben Sie mir den Beweis davon, Hoheit‹, antwortete ich. ›Und wenn Sie das können, wird niemand darüber froher sein als ich.‹

Siehst du, und da erzählte er mir alles. Er rollte den Plan des Grabmals geistig vor mir auf; und du solltest es bauen. Du wirst mich nicht auslachen und nicht mißverstehen, geliebter Mann, wenn ich dir sage, daß ich von diesem Augenblick an die Angst um dich vergaß – daß mir das Herz heiß brannte, wenn ich an das dachte, was du schaffen solltest. Es ist nicht Ehrgeiz – du weißt es! Mein Frauenehrgeiz wäre satt geworden am Hause auf dem Roten Hügel und an der Kirche der Immaculata. Aber während der Inder sprach, fühlte ich, daß er deine Werke liebte – ja, daß er deine Gedanken liebte, deine Seele – dein Wesen, das er, der Asiate, mit einer uneingestandenen, aber in ihrer Wehmut sehr beredten Sehnsucht zu gewinnen suchte. Obwohl es dir ganz sinnlos erscheinen mag, hatte ich Mitleid mit ihm, weil ich mich im Vollbesitze deines Wesens und deiner Liebe reich und ihm überlegen fühlte …

Wir hatten uns doch gesetzt. Er sprach, und ich hörte ihm zu. Und als er fertig war, sagte ich: Ich hätte ihn sehr gut verstanden, und ich liebte das Werk, das er in deine Hände gelegt hätte, und hoffte, du würdest es schaffen und vollenden. Nur eines hätte ich nicht begriffen – warum er diesen Auftrag mit solch einer Fülle von Geheimnissen umschleiert hätte. Das hätte er meiner Ansicht nach nicht nötig gehabt. Was dich beträfe, so hätte die Schönheit und die Größe des Planes genügt, um dich zu locken. Und ich wäre wahrlich die letzte Frau gewesen, dich zurückzuhalten.

›Das weiß ich‹, entgegnete der Fürst und sah mich ernst an. ›Es handelt sich auch nicht darum, kraft dieser Geheimnisse einen möglichen Widerstand Ihres Mannes zu überwinden oder Sie aus unserem Plane auszuschalten. Es handelt sich vielmehr darum, in der Seele Ihres Mannes Europa auszulöschen. Denn sonst könnte er das indische Grabmal nicht bauen. Sein Geist, sein Gefühl, fast möchte ich sagen: sein Blut muß ganz angefüllt werden mit der Seele und dem Blute Indiens. Sie müssen entwurzelt werden und sich haltlos gierig ansaugen in dem neuen Erdreich, in dem sie schaffen sollen. Er muß eine Zeitlang im Dunkeln gehen und den abendländischen Tag vergessen. Die wütende Sonne Indiens muß vor ihm aufgehen ohne die Mildheit einer deutschen Morgendämmerung, und die Nächte Indiens, die wie unerlöste Dämonen sind, müssen sich vor ihm aufrecken gleich Bergen, die auf ihn zu stürzen drohen, die er nie erklimmen kann und nie umwandern … Darum wollte ich nicht, daß Sie mit ihm gingen; denn solange Sie bei ihm wären, wäre Europa bei ihm – das Geheimnislose, das Starke, Heitere und Furchtlose – das, was nie den Boden unter den Füßen verliert und die Sinnlosigkeit des Grauens vor dem Nichts nicht kennt. Sie werden das begreifen, denn Sie sind klug und haben Ehrfurcht vor dem Künstler, der sein größtes Werk schaffen soll. Die Frau wird es ihm nicht verderben wollen.‹«

»Das hat er sehr geschickt gemacht«, meinte Fürbringer in erboster Anerkennung.

»Ja. Aber damit kaufte er sich nicht los. Ich sagte ihm: Vor dem Künstler liebte ich den Menschen Michael Fürbringer, und wenn ich auch fest davon überzeugt wäre, daß von seiner Seite alles geschähe, dich zu pflegen, so wäre es doch gänzlich ausgeschlossen, daß ich dich auf unbegrenzte Zeit hinaus entbehren könnte, ohne zu wissen, wie es dir erginge, und ohne mich selbst davon überzeugen zu können …

›Das sollen Sie auch nicht‹, sagte der Fürst sehr ruhig. ›Wenn Sie mir Ihr Wort geben, bis zu einem Zeitpunkt, den ich mir vorbehalte, der aber durchaus in den Grenzen des Möglichen und Vernünftigen liegt, keinerlei Verbindung mit Ihrem Gatten zu suchen, weder durch schriftliche noch durch mündliche Vermittlung, weder durch einen Boten noch durch sich selbst, so mache ich Ihnen den Vorschlag, mit mir nach Indien zu reisen. Sie würden unter einem Dache mit Ihrem Gatten wohnen; die Größe des Daches bürgt dafür, daß Sie sich trotzdem nicht begegnen würden. Aber Sie hätten jedenfalls Gelegenheit, das Befinden Ihres Gatten selbst zu beurteilen, und ich gebe Ihnen meinerseits die Versicherung, daß ich Sie bei dem geringsten Anlaß zur Besorgnis benachrichtigen würde.‹«

»Hast du ihm das Versprechen gegeben?« fragte Fürbringer ungläubig.

»Nein.«

»Und doch bist du hier?«

Die Frau lächelte.

»Er mußte wohl einsehen, der kluge und sehr mächtige Fürst von Eschnapur, daß ihm kein Ausweg blieb, als der, mich bedingungslos unter ein Dach mit dir zu führen. Denn darauf gab ich ihm mein Wort, daß ich deine Spur finden und dir nachgehen würde wie eine gute Hündin – und daß ich dich ganz gewiß finden würde, mitten im Herzen von Indien, und obwohl ich der Sprache unmächtig sei. Er schien mir die Ausführung dieses Gelübdes wohl zuzutrauen, denn er erklärte sich nach kurzem Bedenken mit meinem Wunsche einverstanden, wobei er, wie er sich ausdrückte, es allerdings für seine Pflicht hielt, mich darauf aufmerksam zu machen, daß er seinerseits jede Gegenmaßregel treffen würde, eine vorzeitige Zusammenkunft zwischen dir und mir zu verhindern. Und das hat er getan.«

»Hat er dich als Gefangene gehalten?«

»Es war eine sanfte Gefangenschaft, Liebster – eine Gefangenschaft in vielen Sälen und Zimmern und mit einer verwirrenden Fülle von Dienerschaft. Ich glaube, ich habe in den Tagen meines Hierseins niemals das gleiche Gesicht unter meinen Mädchen gesehen. Das kann ein Zufall sein. Aber wenn man lebt, wie ich gelebt habe, dann wird man mißtrauisch.«

Michael Fürbringer stand auf.

»Laß dir sagen, geliebte Frau – wir haben auch Grund zum Mißtrauen. Weißt du, für wen ich das Grabmal bauen soll?«

»Ja.«

»Weißt du, daß die Frau noch lebt?«

»Wir müssen ihr helfen, Michael.«

»Ja, das müßten wir. Und es war auch mein fester Entschluß, wenigstens den Versuch zu machen. Noch ehe ich dich zum ersten Male hier sah.«

»Wann hast du mich gesehen?«

Michael Fürbringer strich seiner Frau mit einer etwas schwermütigen Bewegung übers Haar.

»Weißt du das nicht mehr?«

»Nein. Du sprichst, als hätte ich dich auch gesehen …«

»Du sahst mich und hörtest mich rufen und hast mir auch Antwort gegeben, meine Geliebte. Warum wichest du mir damals aus?«

Irene wehrte die Hände ihres Mannes ab; erhob sich, stand nahe und sehr gerade aufgerichtet vor ihm und sah ihm mitten in die Augen hinein.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst …«

»Irene!« –

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst!« wiederholte die Frau leidenschaftlich. »Aber ich habe dich niemals gesehen, niemals deine Stimme gehört, niemals dir geantwortet …«

Sie hielt inne, da ihr die Stimme versagte. Michael Fürbringer starrte seiner Frau ins Gesicht. Ihr wie ihm standen die Lippen offen. Er fuhr sich mit der Hand über den Hinterkopf.

»Was ist das –?!« murmelte er. »Sind wir behext? Sind wir in einem Lande, das von einem Wahnsinnigen beherrscht und von Wahnsinnigen bewohnt wird?«

Irene erwiderte nichts. Sie stand bewegungslos. Plötzlich, als hätte sie einen fürchterlichen Stoß erhalten, warf sie ihre Arme dem Manne auf die Schulter und sagte mit einer Stimme, die das Grauen erstickte: »Laß uns fortgehen aus diesem Lande … Hörst du … Laß uns fortgehen …«

Fürbringer hielt sie fest. Er hatte die Lippen zwischen die Zähne gezogen und blickte über ihren Kopf hinweg mit verschnürten Brauen ins Leere.

»Wir dürfen nicht ins Blaue hinein handeln«, sagte er langsam. »Wir müssen die Überlegung bewahren. Wenn wir hier bleiben, bleiben wir zusammen. So viel steht fest. Wenn wir fortgehen, geben wir die Frau ihrem Schicksal preis, das unsere Gegenwart vielleicht zu verhindern vermag. Du wirst keine Angst haben, Irene – wenn du bei mir bist, nicht wahr?«

»Nein, mein Geliebter …«

»Ich möchte nicht, daß wir einmal für die Feigheit einer Stunde mit unserer Seele büßen müssen, Irene. Möchtest du das?«

»Nein …«

»Das wußte ich … Ich werde, wenn es hell geworden ist, zum Fürsten gehen und ihm sagen, daß ich dich gefunden habe. Nach seiner Antwort und seinem Verhalten werden wir uns zu richten wissen. Eines steht fest«, fuhr er fort, die Frau noch inniger an sich ziehend, »uns beide trennt er nicht wieder. Und wenn er wirklich glaubt, daß meine asiatischen Baupläne unter deiner Gegenwart zu abhängig von Europa würden, so müssen ihm meine Entwürfe den Beweis bringen, daß der künstlerische Wille dem menschlichen durchaus nicht unterliegen muß.«

»Hast du das Grabmal schon entworfen?« fragte Irene mit einer gewissen Zärtlichkeit.

Fürbringer nickte.

»Willst du die Pläne sehen?«

Irene zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein«, sagte sie. »Ich glaube, es würde dich traurig machen. Denn vielleicht wäre dies Werk, das du nicht schaffen wirst, dein schönstes geworden …«

»Vielleicht«, wiederholte Fürbringer. »Aber was tut das? Wenn wir daheim zusammensitzen werden … es ist still geworden auf den Straßen … es regnet, daß es in den breiten Ahornbäumen rauscht … Dann will ich das Grabmal aufbauen vor dir und mir und keinem sonst, und wir werden es lieben und von ihm sprechen, und es wird ganz gewiß vollkommen sein …«

»Sieh«, sagte Irene, die Hand ausstreckend, »es wird Tag.«

Fürbringer wandte sich um. Das Licht der Lampe hatte seine Kraft verloren; das feine Gewebe in den Fensterhöhlen begann zu glühen.

»Der Fürst ist ein Frühaufsteher«, sagte Fürbringer. »In einer Stunde werde ich zu ihm gehen. Willst du mich begleiten?«

»Ich möchte nicht allein zurückbleiben«, sagte die Frau halblaut, als ob sie fröre. »Ich weiß nicht, was sie im Sinne haben, aber ich glaube, sie lieben uns nicht, und sie werden es uns fühlen lassen, daß wir ihre Pläne durchkreuzten.«

Der Mann zuckte die Achseln.

»Sie sollen tun, was sie nicht lassen können. Ich habe dich an der Hand und bin fest entschlossen, mich durch keinen Spuk mehr aus der Fassung bringen zu lassen.«

»Ich weiß nicht, ob ich für meine Nerven einstehen könnte«, meinte Irene, ohne ihn anzusehen. »Es ist nichts, das mit der Vernunft zu tun hat; es ist auch nichts, dem man mit Vernunft beikommen könnte. Es liegt etwas in der Luft des Landes, das sie schwer zu atmen macht. Aber es läßt sich nicht fassen; es läßt sich nicht einmal bei Namen nennen. Dennoch ist es da; und ich glaube, auf die Dauer würde ich krank davon werden …«

»Hast du Fieber?« fragte Fürbringer, nach ihren Schläfen fühlend.

Sie sah ihn an. Die Tränen traten ihr in die Augen.

»Nein«, antwortete sie. »Ich fürchte mich.«

Da nahm er sie in seine Arme …

Eine Stunde später öffnete er die Tür, die aus seinem Wohnzimmer in die Gänge führte.

Quer vor der Türe, gleich einem Bündel Lumpen, das einer achtlos fortgeworfen, lag Miriam.

Sie schlief nicht. Sie wachte. Ihre offnen Augen, die aussahen, als hätten sie sich die ganze Nacht lang nicht geschlossen, boten sich schmerzhaft ernst dem Licht der jungen Frühe, das auf sie fiel.

Sie gewahrte den Mann und die Frau wohl, aber sie stand nicht auf.

Es war, als wünsche sie, daß ihre Füße über sie wegschreiten möchten. Eine zum Höchsten gesteigerte Inbrunst der Unterwerfung sprach aus ihrem regungslosen Hingestrecktsein.

Irene bückte sich und hob das Mädchen auf.

Miriam wehrte sich nicht gegen sie. Sie war gehorsam.

Sie ließ sich umschlingen und halten und entzog sich nicht den sanften Lippen und Händen, die sie liebkosten. Aber in dem unbewegten Ernst ihres Blickes lag die volle Erkenntnis der Wahrheit, daß diese Liebkosungen nur wie Tropfen waren, die vom Rande eines übervollen Bechers strömen und die segnen müssen, weil sie sind – ohne zu fragen, wen sie segnen.

»Dich hatten wir vergessen«, murmelte die Frau. »Es soll nicht mehr geschehen …«

»Warum hast du vor der Tür gelegen, Kind?« fragte Fürbringer.

»Das war nicht dein Platz, meine kleine Schwester, und das wußtest du auch.«

Das Mädchen sah ihn an; es stand mit hängenden Armen in der sachten Hut der fremden Frau.

»Jemand mußte sein, der wachte«, sagte es.

»Auch wir haben nicht geschlafen, kleine Schwester«, antwortete Fürbringer lächelnd.

»Wer glücklich ist, schläft«, sagte Miriam eintönig.

Darauf wußten die beiden weißen Menschen nichts zu erwidern.

Irene nahm das Mädchen bei der Hand.

»Sie darf mir nicht mehr von der Seite kommen«, sagte sie, zu ihrem Mann gewendet. »Als sie mich zu dir brachte in dieser Nacht, schrie die Angst aus ihren stummen Lippen, daß es mich am Herzen riß. Vielleicht täuscht sie sich; vielleicht droht ihr gar keine Gefahr. Aber sie ängstigt sich, und ich will nicht, daß sie sich ängstigt; mir ist ihre kleine Seele lieb, als wäre sie wirklich deine kleine Schwester …«

»Du kannst sie nicht mit zum Fürsten nehmen, liebste Frau; er denkt nicht wie wir über ein armes Kind, das sie zur Witwe gemacht haben, kaum daß es laufen konnte.«

»Dann bleibe ich hier … Ich warte auf dich in deinem Zimmer … Ich fürchte mich nicht mehr, da ich etwas zu beschützen habe …«

»Sahib«, sagte Miriam plötzlich mit einem merkwürdig hellen Ton, als spräche sie aus einem Traum heraus, »willst du zum Fürsten gehen und ihm sagen, daß du deine Frau gefunden hast?«

»Ja, meine kleine Schwester«, erwiderte der Mann.

Miriam sah ihn an. Ihre Augen grübelten.

»Wolltest du mir etwas Besonderes sagen, Kind?« fragte Fürbringer, zum Gehen gewendet.

»Nein, Sahib … Der Fürst wird heute abend ein Fest geben …«

»Nun – ist das etwas Besonderes?«

»Nein, Sahib«, antwortete Miriam tonlos.

Fürbringer ging …


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