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3

Fürbringer sah sich in seinem Zimmer um. Es hätte nach der Art seiner Einrichtung besser in ein modernes europäisches Hotel als in einen indischen Palast gepaßt. Von dem niedrigen, breiten Bett bis zum Schuhbock hinunter war jedes Möbelstück von jener verbindlichen Zweckmäßigkeit, die in ihrer Vollkommenheit an Schönheit grenzt. Nur daß kein Teppich auf den Marmorfliesen lag. »Es ist besser so«, hatte der Fürst gesagt, als er sich wegen dieses Mangels entschuldigte. »Der Kobras wegen …«

Die Fensterhöhlen, in schöne Konturen von Blumen auslaufend, hatten kein Glas. Vier verschiedenartige Rolläden, übereinander angebracht, schützten das durchsichtige Gewebe, das, den Augen kaum wahrnehmbar, Schutz gegen die Moskitos gewährte. Der zarte, straff gespannte Schleier zitterte unter dem Anprall ihrer schwirrenden Leiber. Das milde Licht der elektrischen Flammen, die in Marmorschalen von der Farbe rauchigen Bernsteins, tiefschwarz geädert, brannten, lockte die Todessüchtigen an.

Im Nebenraum ließ Nissa das Wasser in die Badewanne. Seine nackten, dunkelbraunen Füße glitten völlig lautlos über den Marmor des Bodens.

Fürbringer hatte das Gefühl, von einem Schatten bedient zu werden; und Nissa war der Anführer von zwölf. Der Stumpfsinn seines Gehorsams verneinte sein Menschentum; wenn er kein Geist war, so war er ein Tier. Und ein Anführer von Geistern oder Tieren.

Nach dem Bad legte Fürbringer sich ins Bett und versuchte zu schlafen; es gelang ihm nicht. Er hatte das Licht ausgelöscht; aber die Dunkelheit, die um ihn her war, schien nicht die Nacht zu sein. Sie war gleichsam rund wie ein Ball, der jeden Augenblick ins Rollen geraten konnte, und der Mensch lag in seiner Mitte. Fürbringer setzte sich im Bett auf und lauschte in die Stille. Er hörte etwas – er wußte nicht, was. Es klang wie das ruhelose, unregelmäßige Hin- und Wiederschreiten von weichbeschuhten Füßen, unbestimmt an Zahl. Er hatte es vorher nicht vernommen. Nun, in der vollkommenen Stille, war es da, aufreizend und peinigend in seiner Unerklärtheit.

Fürbringer suchte mit der ausgestreckten Hand nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe. Er fand ihn nicht. Er stieß an das Glas, das ihm Nissa, mit Eisstückchen gefüllt, ans Bett gestellt hatte. Es fiel und zersprang auf dem Steinboden.

Seinem Klirren antwortete ein Laut, irgendwo – ein ärgerliches und erschrecktes Fauchen.

Eine Tür öffnete sich in der Dunkelheit; die Marmorschalen an der Decke füllten sich mit ihrem schönen, beschwichtigenden Licht.

»Nissa!«

»Sahib?«

»Wer geht da in der Nacht noch immer auf und ab?«

Die gänzlich ausdruckslosen Glutaugen des Dieners starrten ihn an. Er hatte deutsch gesprochen. Er wiederholte die Frage englisch.

Nissa horchte.

»Es sind die Tiger, Sahib«, sagte er gleichmütig.

Er bückte sich, um die Scherben aufzuheben.

Fürbringer sah ihm gedankenlos zu.

Auf seinem Wege vom Boot in dieses Zimmer hatte er sie gesehen, die schönen, starken Katzen. Als er mit dem Fürsten die Flucht der Säulenhallen durchschritt, waren sie auch über einen Hof gekommen, der, hochummauert, ein enges Viereck, dem inneren Palaste vorgelagert schien.

Da hatte er sie gesehen, wie sie aufstanden, sich reckend, dem Licht der Fackeln die sprühenden Augen verschließend; ihre langen Ketten klirrten auf dem Steingrund. Als sie den Herrn des Palastes erkannten, duckten sie sich und murrten leise.

Der große Haß der Angst schürte das Feuer ihrer Augen.

»Seien Sie unbesorgt«, sagte der Fürst mit einem Blick nach den Gefesselten. »Dies ist ein wenig Theaterdekoration, wenn auch das Stück, zu dem sie gehören würden, noch nicht oder nicht mehr vorhanden ist. Ich fing die beiden, als sie sich, toll vor Furcht, vor der Raserei der Menschen und Hunde unter die Veranda eines meiner Jagdhäuser geflüchtet hatten. Da ich sie schön fand, nahm ich sie mit. Und manchmal liebe ich es, ihnen zuzusehen, wenn sie am Mittag neben dem kleinen Brunnen in der Sonne liegen und die Pranken vor sich hinstrecken. Wenn sie mich sehen, wünschen mir ihre Augen den Tod. Und ich liebe ihren Haß. Er ist ohne Lüge. Es gibt nichts in der Welt, das ohne Lüge wäre, außer dem Haß.«

Michael Fürbringer hatte das Gesicht des Fürsten nicht sehen können, während er sprach. Aber er hatte den Ausdruck dieses Gesichtes entdeckt, als der Widerschein der Feuer es im Boot erhellt hatte. Der Klang seiner Worte blieb ihm im Ohr wie ihr Sinn.

»Kannst du nicht schlafen, Sahib?« fragte der Diener.

Fürbringer gab keine Antwort.

»Gib mir zu trinken!« sagte er.

Der Diener verschwand.

Fürbringer stand auf und setzte sich im Schlafanzug an eines der Fenster. Durch ein Gewebe, dünner als ein Blatt, von ihm getrennt, lag da draußen, was er nicht kannte – die indische Nacht. Und er spürte ihre glühende Dunkelheit, die angefüllt war mit Wesen, die nur in ihr lebendig waren und ruhelos umhergetrieben wurden, gleich einem schabenden Messer an der Wurzel seiner Nerven. Alles, was er seit seiner Ankunft gesehen und erlebt hatte, war aufgereckt ins Ungeheuerliche, verzerrt und spukhaft.

Noch schmerzten ihm die Augen von dem Orkan der Farben, der sie bestürmt hatte; das Tosen des Erzes, die Brandung der Menschenstimmen verstopfte ihm noch das Ohr.

Noch immer glitt er in einem Boote, das stumme, nackte Menschen ruderten, über die Schwärze eines Wassers, dessen Grund am Mittelpunkt der Erde zu liegen schien.

Noch immer sah er, hingegeistert in die Lichtlosigkeit einer Nacht, in der kein Mond am Himmel stand, das weiße Wunder der Palastinsel vor sich. Seine Füße schritten über tausend Stufen; an tausend Säulen stieß sich der Hall seiner Tritte. Er sah die Schlußringe von zwei eisernen Ketten an schwarzen Säulen und an den Hälsen sich duckender Raubtiere.

Aber dies alles war nicht das Wesentliche. Das Wesentliche war der Ausdruck im Gesicht des Mannes, der mit ihm über den grundlos erscheinenden See gefahren war und vom Haß der Geschöpfe wie von einer Erquickung sprach.

An dieser jäh enthüllten Nacktheit von Gefühlen, die den Tag um sich selbst betrogen, hatte sich das Fieber dieser Nacht entzündet, an dem sein Pulsschlag krankte. Die Luft schien angefüllt mit Schwingungen, die dem Schreck entstammten und ihn zeugten. Wie mit gelähmten Fersen hockte die Dunkelheit über dem Palast und quälte das Lebendige.

Unten in der völligen Dunkelheit des Hofes liefen die Tiger hin und her. Sie schienen ihrer Ketten ledig zu sein. Sie gaben keinen Laut von sich.

Der Diener trat wieder ein, ein Glas tragend, das beschlagen war von der Eiskühle seines Inhalts.

»Seine Hoheit der Fürst schickt dir dieses Getränk, Sahib. Er läßt dir sagen: ›Trinke, denn ich will, daß du schläfst unter dem Dache meines Hauses‹.«

Fürbringer trank. Er schmeckte nichts als den ungesüßten Saft der Ananas. Er legte sich nieder, ohne die Augen zu schließen. Wie eine langsame, kühle Welle fühlte er eine tiefe Gleichgültigkeit gegen alles Bestehende in sich aufsteigen.

Er folgte den Bewegungen des Dieners mit Blicken, die auf halbem Weg vergaßen, wohin sie ursprünglich wollten, und am Nebensächlichen haften blieben, bis sie sich seiner bewußt wurden.

Das letzte, dessen er gewahr wurde, ehe ihm die Augen zufielen, war, daß Nissa an das Kopfende seines Bettes trat und den Punka in Bewegung setzte. Unter dem weichen Schwingen des Windfächers schlief er ein …

Er hatte einen merkwürdigen Traum; wenigstens hielt er es für einen Traum, aber er hatte der Wirklichkeit alle Züge entliehen.

Er träumte, daß ihn Stimmen weckten, die im Hofe unter seinen Fenstern laut wurden. Die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Die, denen sie gehörten, gingen ruhig nebeneinander her, vom östlichen nach dem westlichen Tore.

 

Der Mann sagte:

»Er wird es tun.«

Die Frau antwortete:

»Er wird es nicht tun.«

Und abermals sprach der Mann:

»Er wird es tun.«

Dann war Stille.

 

Die Stimme des Mannes war die des Fürsten. Die andere gehörte Irene, Fürbringers Frau.

Michael Fürbringer lag mit offenen Augen. Die fast greifbare Lebhaftigkeit des Traumes hatte ihn aus dem Schlaf gescheucht. Er horchte. Er hörte nichts. Nur das regelmäßige, weiche Flügelschlagen des Punka ging über sein Bett hin.

»Nissa?«

»Ja, Sahib?«

»Warst du die ganze Zeit hier?«

»Ja, Sahib.«

»Hast du eben Stimmen gehört – die Stimme eines Mannes und einer Frau?«

Nach einer Weile kam die Antwort des Inders, eintönig wie der Tropfenfall langsamen Regens:

»Du hast geträumt, Sahib …«

Fürbringer schwieg.

Trotz der Sinnlosigkeit dieser Vorstellung war er jetzt fest davon überzeugt, nicht geträumt zu haben. Ich muß meine Nerven in die Hand nehmen, dachte er. Sie spielen mir einen Streich nach dem anderen. Und vielleicht brauche ich sie, und ihre Spannkraft muß zuverlässig sein.

Er griff nach seiner Taschenuhr und ließ sie schlagen. Sie schlug fünfmal.

»Geh zu Bett, Nissa; ich brauche dich nicht mehr«, sagte er zu dem Diener.

Der Diener ging; geräuschlos schloß sich die Tür hinter ihm.

Aber der Schlaf, den Fürbringer sich ersehnte, blieb ihm fern. Er sah die Nacht von seinen Fenstern weichen; die Gegenstände des Zimmers gewannen ihr Gesicht zurück. Der Tag war da.

Eine halbe Stunde später, als er in dem achtfenstrigen Saal, der ihm als Wohnzimmer dienen sollte, das Frühstück eingenommen hatte, ließ sich der Fürst bei ihm melden.

Fürbringer ging ihm entgegen. Zum ersten Male sah er die Züge des Radscha in natürlicher Beleuchtung, und er war, als er sie betrachtete, sehr geneigt, die verworrenen Eindrücke der Nacht vor sich selbst zu widerrufen.

Der Inder, der ihm den Brief des Fürsten überreichte, hatte gesagt, daß sein Herr noch jung sei. Sicherlich mußte er es wissen. Was Fürbringer vor sich sah, war ein zeitloses Gesicht, ohne Leidenschaften, ohne Schwermut. Es war das Gesicht eines Mannes, der nicht weiß, was Widerstand ist, der nichts verehrt und viel verachtet, und dessen Spott ohne Gutmütigkeit ist.

»Guten Morgen!« grüßte der Fürst, Fürbringer die Hand schüttelnd. »Ich hörte, Sie hatten keine gute Nacht. Das war zu erwarten. Nach einer Reise von nahezu acht Wochen mit einer Art Kopfsprung mitten hinein in die Quintessenz des indischen Lebens springen zu müssen, ist eine starke Zumutung für die Nerven eines Europäers. Man muß sich an dieses Land gewöhnen. Ich glaube kaum, daß es allen Indern gelingt. Für den, der sie durchwacht, sind die indischen Nächte etwas Entsetzliches. Darum hoffe ich, daß Sie in Zukunft sie verschlafen.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Fürbringer. Er sah den Fürsten unentwegt an. »Machen Sie sich um mich keine Sorge, Hoheit – ich bin eine zähe Natur. Was in mir den Eindrücken dieses Landes unterworfen ist – und sich ihnen gern unterwirft –, das ist der Künstler, nicht der Mann. Sollte der Mann neben dem Künstler vor irgendeine Aufgabe gestellt werden, so wird er ihr gewachsen sein.«

»Das freut mich«, antwortete der Fürst; er lächelte dabei. »Es gibt sehr wenig Männer hierzulande; weder als Freunde noch als Gegner sind sie zu gebrauchen. Und die letzteren vermißt man zuweilen am stärksten … Übrigens eine Frage an den Künstler: Fühlen Sie sich frisch genug, einen Morgenritt mit mir zu machen?«

»Selbstverständlich, Hoheit.«

»Ich möchte Ihnen die Stelle zeigen, wo Ich das Grabmal erbaut haben will. Der Reitanzug, den Nissa für Sie zurechtlegen sollte, wird Ihnen hoffentlich passen … In einer Viertelstunde schicke ich Ihnen Ismael; er bringt Sie zur Bootsstelle. Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, Hoheit!«

Der Reitanzug paßte; aber Ismael war nicht pünktlich, und Seine Hoheit war es auch nicht.

Fürbringer hätte es nicht nötig gehabt, seinen Führer auf dem Wege durch den Palast so oft und zuletzt so grimmig zur Eile zu mahnen, was freilich keinerlei Wirkung erzielte.

Die dunklen Augen des Moslem sahen ihn verständnislos und fast verächtlich an.

Was, o Mensch, der du weniger bist in der Hand des Allerhalters – gepriesen sei sein Name! – als ein Blatt an einem Mangobaume, was bedeutet eine Viertelstunde im Lauf der Ewigkeit? fragten seine Augen. Es hat keinen Sinn, daß du deinen Atem verschwendest auf den Treppen und unter den Säulenbögen. Du kommst doch keine Sekunde früher ans Ziel, als dir im Buche des Lebens verzeichnet ist.

Während Fürbringer sich die Pfeife stopfte, versuchte er, an die marmorne Brüstung der Seetreppe gelehnt, seiner eigenen Überlegenheit froh, zu ergründen, ob sich Seine Hoheit auf die Unpünktlichkeit Ismaels – oder Ismael sich auf die seines fürstlichen Herrn verlassen hatte.

Es war schon sehr heiß. Der Spiegel des Wassers flimmerte; in großen Funken sprang das Licht von ihm zurück. Jenseits des Sees, über den Türmen des Tores, zitterte die Luft vor Glut und Helligkeit. Die Höhe des weißen Palastes schien aufgelöst in eine Wolke des Glanzes, körperlos, ohne Gewicht.

Ein Vogel, ein brauner Falke, strich südwärts unter der Sonne hin.

»Salaam, o Sahib«, grüßten die Ruderer, die Hände zur Stirn erhebend.

Ihre sanften Gesichter tropften von Schweiß.

Es war ein Zufall, daß Fürbringer die Uhr gerade in dem Augenblick um Rat fragte, als der Fürst aus dem weißen Palast der Insel trat; aber jener faßte die Bewegung auf, und er lächelte wie ein Knabe.

»Sie hätten ihn beizeiten verbrennen sollen, den gefährlichen Handwerker«, sagte er liebenswürdig, »ehe er sich vermaß, die Meere des Unendlichen in Tropfen aufzuteilen und sie den Menschen, die gar nichts damit anzufangen wissen, in die Taschen zu stecken. Dieser mittelalterliche Minutenfänger hat euch zu Sklaven der Zeit gemacht. Wir sind ihre Herren.«

Er sah Fürbringer an; das Lächeln blieb auf seinem Gesicht.

Er bestieg das Boot.

»Kommen Sie!« sagte er. »Wenn Sie glauben, mir widersprechen zu müssen, dann tun Sie es. Ich kenne kaum etwas Reizvolleres, als die Antwort auf einen Widerspruch suchen zu müssen. Sie treibt die Dinge auf die Spitze, und dann erst kommt man ihnen nahe. Nun, was denken Sie?«

»Ich denke, Hoheit«, antwortete Fürbringer, während er sich setzte, »daß man, um Herr der Zeit zu sein, Herr der Ewigkeit sein muß.«

»Um als solcher mit Minuten und Stunden zu geizen?«

»Der Mann, der mir Ihren Brief überbrachte, Hoheit, sagte: ›Es gibt keine Zwillinge unter den Stunden‹ …«

»Ah, Ramigani … Ramigani ist ein Philosoph. Es ist seine Stärke, den Menschen mit einer gewissen Feierlichkeit Dinge vorzutragen, mit denen sie im täglichen Leben nichts anzufangen wissen. Darin gleicht er den großen Philosophen Europas. Übrigens, wenn Sie Lust bekommen sollten, Einkäufe zu machen, dann stelle ich Ihnen Ramigani zur Verfügung. Er wird für Sie handeln wie für mich selbst und die Betrügerei auf eine vernünftige Grundlage hinabdrücken.«

»Er scheint ein treuer Bursche zu sein«, meinte Fürbringer lächelnd, »und Ihnen grenzenlos ergeben.«

Das Gesicht des Fürsten wurde kalt.

»Ich bezahle ihn gut«, sagte er. »Besser, als andere ihn bezahlen könnten. Das ist alles. Käme einer, der ihm mehr zu bieten vermöchte als ich, so würde er zu jenem gehen und meinen Namen ausspucken wie Betelsaft.«

»Ich glaube. Sie irren sich, Hoheit.«

Der Inder zuckte die Achseln.

»Jeder Mensch hat seinen Preis, um den er feil ist«, sagte er. »Manche sind es um dreißig Silberlinge, andere um hunderttausend Rupien. Die Billigeren bereuen manchmal hinterdrein den Verrat und hängen sich auf. Die Teueren finden für ihre Tat ein sittliches Moment und bleiben am Leben. An keiner Börse der Welt ist es so von Wichtigkeit, eine gute Witterung zu haben und zur rechten Zeit viel Geld auszugeben, wie an der Börse, wo man Menschen kauft. Wer die Stunden kennt und ausnutzt, in denen die Seelen fallen, der hat sie alle.«

»Ich hoffe. Sie lassen Ausnahmen gelten, Hoheit«, sagte Fürbringer mit einer etwas betonten Höflichkeit.

»Ich kenne keine«, antwortete der Fürst.

»Halten Sie sich selbst für käuflich?« fragte der Deutsche fest.

Der Inder lächelte.

»Ganz gewiß«, sagte er. »Aber ich fürchte, ich würde außerordentlich teuer sein. Das ist das einzige, worauf es ankommt. Dann ist man im Vorteil gegen den Käufer und gegen das, was ich vorhin das sittliche Moment nannte. Jenseits einer gewissen Summe hat es die Wirkung verloren.«

»Hoheit«, begann Michael Fürbringer und legte die flachen Hände gegeneinander, »falls Sie die Absicht haben sollten, derartige Versuche auch mit mir anzustellen, dann haben Sie die Liebenswürdigkeit, mich wissen zu lassen, wie ich auf dem schnellsten Wege aus Eschnapur hinauskomme. Sie ersparen damit sich selbst wie mir eine höchst peinliche Stunde.«

»Habe ich Sie verletzt?« fragte der Inder kopfschüttelnd. »Nichts konnte weniger in meiner Absicht liegen! Verzeihen Sie, und reden wir von etwas anderem! Wir werden reiten. Lieben Sie's, im Sattel zu sitzen?«

»Wenn der Sattel und das Pferd darunter gut sind …«

»Ich verbürge mich für beide«, sagte der Fürst aufstehend.

Sie hatten das Ufer erreicht, das zur Linken des Palastes auf der Insel lag, und sprangen ans Land. Im Schatten eines ungeheuren Baumwollbaumes, der über und über bedeckt war mit rotblühenden Malven, standen die Pferde, arabisches Blut, mit der prunkvollen Reschmah aufgezäumt.

»Beim Polo bevorzuge ich den englischen Sattel; aber zu einem Spazierritt in die Berge taugt diese wunderbare Erfindung eines Sybariten mehr«, meinte der Fürst.

Michael Fürbringer war stehengeblieben. Plötzlich, mitten in der glühenden Sonne, schüttelte ihn die Kälte. Er öffnete die Lippen, aber er sprach nicht. Er würgte die Worte hinunter.

Vier Diener, tiefbraune Tamilen, das blutrote Mal der Göttin Durga auf der Stirn, standen an den Köpfen der Pferde – eines Rappen und eines Goldfuchses, eines Grauschimmels und eines Falben. Die Schweife der Pferde berührten ihre Hufe, die vergoldet waren. Sie trugen auf ihren Stirnen das Zeichen Schiwas, des Zerstörenden: drei senkrechte Striche, rot, weiß, rot. Sie hatten die Köpfe ihrem Herrn zugewendet; aber sie sahen ihn nicht an.

Sie hatten keine Augen.

In den Höhlen ihrer Augen funkelten ungeheure Kristalle, Halbedelsteine von der Größe einer Kinderfaust, Goldtopase wie Äpfel.

»Es sind die vier schönsten Tiere von fünfhundert«, sagte der Fürst. »Wählen Sie!«

»Ist unter fünfhundert keines mit lebendigen Augen?« fragte Fürbringer.

»Nein«, antwortete der Inder erstaunt. »Würden Sie sie schöner finden als die Opale meines Rappen?«

»Unbedingt«, sagte Fürbringer. In diesem Augenblick haßte er den Inder mit einem kalten, nachhaltigen Haß.

»Das tut mir leid«, meinte der Radscha liebenswürdig. »Aber Sie kennen wahrscheinlich die Vorzüge blinder Pferde nicht. Es gibt kein sanfteres Geschöpf als ein blindes Pferd. Sie wissen nicht, was Schwindel ist. Ihr Gehorsam ist bedingungslos. Sie haben etwas von den herrlichen Rossen der Sage gewonnen. Und es ist hübsch, wenn die Sonne in ihre strahlenden Augen scheint oder wenn sie sich am Licht der Fackeln entzünden. Was haben Sie gegen die schönen Augen meiner Pferde?«

Fürbringer war zu dem Goldfuchs getreten und liebkoste den Hals des Pferdes.

»Abgesehen von der Grausamkeit, die in dieser Liebhaberei liegt, finde ich, daß es den Pferden einen ausgesprochen weiblichen Zug verleiht«, sagte er unverbindlich.

Der Radscha lächelte.

»Und Sie lieben das Weibliche nicht?« sagte er etwas vorsichtig.

»Ich liebe es da, wo es hingehört: am Weibe, Hoheit«, meinte Fürbringer, seinerseits lächelnd und entwaffnet.

»Dann hätten Sie nicht nach Indien kommen dürfen«, sagte der Fürst, während er aufstieg.

»Warum nicht?«

»Da haben wir den Deutschen!« meinte der Radscha. »Es gibt kein Volk auf Erden, das mit solcher Leidenschaft fragt wie das deutsche. Wahrscheinlich«, fügte er mit einer gewissen Anmut hinzu, »weiß es darum auch mehr als die anderen. Wenn Ihnen der Goldfuchs gefällt, Herr Fürbringer, dann klettern Sie getrost in Ihren Hörnersattel. Ich weiß aus Erfahrung, daß es schwierig ist, von ihm herunterzufallen. Und während ich die Ehre haben werde, Sie mit dem Herzen von Eschnapur bekannt zu machen, werde ich versuchen, Ihnen an der Hand lehrreicher Beispiele zu erläutern, warum ein Mensch, der das Weibliche nur am Weibe liebt, nicht nach Indien kommen dürfte.«

Fürbringer stieg auf. »Seien Sie versichert, Hoheit, daß Sie an mir den aufmerksamsten Zuhörer haben werden, denn ich liebe dieses Land. Es war die Sehnsucht des Knaben und das Ziel des Mannes. Meine Träume wie meine Pläne haben ihm gegolten.«

»Weil Sie es nicht kannten«, entgegnete der Fürst im langsamen Vorwärtsreiten. »Sie dürfen es mir ruhig glauben, Herr Fürbringer: Wer es kennt, kann Indien nur trotz Indien lieben. Jetzt werden Sie gleich wieder fragen: Warum? Weil Indien ein Weib ist, Herr Fürbringer – das Weib unter den Ländern Asiens. China ist der Greis, der – wer weiß es? – seine Wiedergeburt und nach ihr seine neue Kindheit erleben wird; Japan ist der Mann von dreißig Jahren; Indien ist das Weib. Wenn Sie länger in diesem Lande leben werden, bedürfen Sie zu dieser Behauptung keiner Erläuterung mehr. Wenn sich Ihnen die Seele Indiens erst einmal ganz entschleiert hat, dann werden Sie die Entdeckung machen, daß es keine andere Schönheit hat als Ihren Traum von seiner Schönheit, kein anderes Mysterium als den Betrug, keine Religion als den Wahnsinn.«

»Ich glaube«, sagte Fürbringer, »daß Sie Ihrer Heimat unrecht tun, Hoheit. Wenn ich von Indien nichts anderes zu sehen bekäme als den weißen Palast auf der Insel, von der wir kommen, so wäre mir das schon die Erfüllung einer Traumsehnsucht.«

»Der Palast ist schön; aber er ist nicht indisch – sowenig wie die Tadsch-bibi-karoza, das Grabmal der Herrin über die Nächte Dschehans, die Ardschamand Banu Begam hieß und die er ›Auserwählte des Palastes‹ nannte. Wenn Sie im Abendlande an die Märchenbauten Indiens denken, dann denken Sie zunächst an dies marmorne Wunder, das die Engländer in ihrer Kautschuksucht, alles zusammenzuziehen, Tadsch Mahal nennen. Doch der es baute, war ein Abendländer, und der Palast auf der Insel stammt noch aus der gewaltigen Zeit, in der das grüne Banner des Propheten siegreich über Indien war. Ich bin ein Hindu aus Überlieferung, aus Trägheit oder aus Stilgefühl, wenn Sie es so wollen. Aber meine Liebe gehört dem Islam – jene Liebe, die aus bewunderndem Haß erwächst. Indien ist ein Land ohne Geschichte; denn es ist nur ein Kapitel in der Geschichte des Islam. Davor liegt das Chaos, dahinter der Verfall. Uns ist nichts geblieben aus der Kindheit unseres Landes als die erschütternde Schönheit und Wucht seiner Sagen – uns, die wir häßlich und schwach geworden sind. Und was schlimmer ist als dies: wir sind ein Volk ohne Kunst. Denn wir haben in Jahrhunderten nur von den Überresten gezehrt, die aus der Herrschaft des Islams dem Indien von heute verblieben sind, und deren Schönheit uns nicht gehört. Wo wir uns vermaßen, selbst zu schaffen, da brach der steinerne Wahnsinn aus, der mit Kunst ebensowenig oder soviel zu tun hat wie der Gorilla mit dem Menschen.«

»Verzeihen Sie mir eine Frage, Hoheit!« warf Fürbringer ein. »Wenn das, was Sie sagen, Ihrem innersten Empfinden entspricht, – was soll ich dann hier?«

Der Radscha hielt sein Pferd an, mit einer unwillkürlichen Bewegung, die ansteckend wirkte.

»Das will ich Ihnen sagen«, entgegnete er. »Ich habe alles gesehen, was nach Ihren Plänen gebaut worden ist. Und ich habe gefunden, daß Sie die schlafwandlerische Sicherheit des Künstlers besitzen, für alle Wesen, welcher Art sie auch seien, den höchstgesteigerten Ausdruck zu finden. Sie bauen einer jungen Liebe das Haus auf dem Roten Hügel, und wenn man es sieht, begreift man, daß junge Liebe nirgends anders wohnen kann. Sie bauen eine Kirche, und wer sie sieht, spricht leiser. Sie bauen das Grabmal einer jungen, blonden Frau, und wir, die wir sie nicht gekannt haben, wissen aus ihm, wer sie war. Darum glaube ich. Sie wären der Mann dazu, das Wesen der indischen Kunst zu entdecken.«

»Sie stellen mich damit vor eine ungeheure Aufgabe, Hoheit«, sagte Fürbringer mit verhaltener Stimme.

Der Fürst sah ihn an.

»Zweifeln Sie daran, daß Sie sie lösen werden?« fragte er.

Fürbringer gab keine Antwort.

»Sie werden Sie lösen«, fuhr der Radscha fort, mit einer gewissen Schwingungslosigkeit des Tones. »Und ich werde Sie an die Quellen führen, aus denen Sie die Kräfte schöpfen sollen. Sie sollen Indien sehen, das Land, das ein Weib ist – bis auf die Knochen, bis auf das letzte Pochen seines Blutes sollen Sie ihm blicken. Sie sollen den Schleier von allen Geheimnissen ziehen und erkennen, daß es keine Geheimnisse hat. Sie sollen an den Ursprung des Wahnsinns rühren, der ein Volk von vielen Millionen zur höheren Ehre selbst wahnsinniger Götter sich zerfleischen läßt; der Schlangen, Kühe und Affen heilig spricht, der Menschen dazu zwingt, in fürchterlicher Freiwilligkeit mit emporgereckten Armen auf einem Fleck zu stehen, bis ihnen die Fingernägel aus den Handrücken der Fäuste wachsen, auf Nagelbrettern zu schlafen und sich in brennendem Kuhmist zu vergraben. Sie sollen die Tempel kennenlernen, wo die achtarmige Durga, auf ihrem Tiger reitend, die Opfer der Besessenen empfängt, und jene, in denen jede Säule, jedes Bildwerk ein hundertfacher Schrei vom Wahnwitz der Unzucht ist. Sie sollen die Krankheiten dieses Volkes sehen, denn es ist, als wären selbst die Krankheiten vom Irrsinn ergriffen worden. Die Glieder schwellen den Menschen an, bis sie Ganescha gleichen, dem Sohne Schiwas, dem Gotte mit dem Elefantenkopfe. Der Schnee des Aussatzes bedeckt sie wie fressendes Salz, und die Pest reitet auf den Ratten, die keiner zu töten wagt, denn der Hindu darf nicht töten. Und ich will Sie dahin führen, wo die Regierung des abendländischen Kaisers von Indien nicht hingedrungen ist und niemals hindringen wird – in die Häuser, in denen das neugeborene Kind, wenn es ein Mädchen ist, in Milch gelegt wird, um sich den Tod zu trinken. Das ist Indien, Herr Fürbringer – das Indien, dessen Schoß noch keine Kunst geboren hat, und das eben darum von sich selbst noch nicht erlöst werden konnte. Denn immer hat die Kunst das letzte Wort zu sprechen über Zeiten, Menschen und Dinge. Und es ist, als wäre ihre Zeit vorbei, wenn die Kunst sie über sie selbst erhoben hat.«

»Sie sprechen zu mir, Hoheit, als sei ich ein Maler oder ein Bildhauer. Vergessen Sie nicht, daß ich nur ein Baumeister bin!«

»Glauben Sie, daß man die Hölle malen kann oder den Himmel meißeln? Wenn ein Volk oder eine Zeit sich selbst in einem letzten Ausdruck offenbaren wollte, dann konnte es sich nicht mit Gemälden und Bildwerken begnügen. Dann tobte es sich aus in Domen und Palästen. Und ich habe Sie, den Baumeister, gerufen, damit Sie diesem Lande eine Offenbarung seines Wesens geben.«

Der Radscha schwieg; Fürbringer erwiderte nichts. In seinem Gesicht, dessen Lippen schmäler wurden über aufeinandergepreßten Zähnen, spielten die Muskeln. Eine ungeheure Sammlung spannte es an. Er blickte geradeaus über den Kopf seines Pferdes. Die roten Hibiskusblüten hingen über den Weg; er gewahrte sie als Wesen, nicht als Blumen. Scharen von Eichhörnchen jagten sich um die dicken Stämme der Mangobäume. Grüne Papageien mit roten Halskrausen schienen die Luft mit ihrem gellenden Geschrei gleichsam undurchsichtig zu machen. Fürbringer sah und hörte nichts. Er grübelte. Der Radscha störte ihn mit keinem Wort.

Hätte Fürbringer ihn jetzt angesehen, dann hätte er um die Lippen des Mannes, der auf einem Rappen mit Opalaugen neben ihm ritt, das indische Lächeln gesehen, das die Götter Indiens haben, wenn sie zufrieden sind.

Sie kamen an einen Fluß, der schmal und tief zwischen zerklüfteten Ufern hinströmte. Die Bohlen einer Holzbrücke summten unter dem Hufschlag der Pferde. Dann ging es aufwärts unter Bäumen, in deren Wipfeln sich die Affen jagten. Als sie die Höhe des Berges erreicht hatten, hielt der Radscha sein Pferd an und legte Fürbringer die Hand auf die Zügelfaust.

»Steigen Sie ab!« sagte er und schwang sich selbst aus dem Sattel.

Fürbringer gehorchte. Die blinden Pferde standen regungslos. Ihre Edelsteinaugen funkelten im Halblicht, das unter den Bäumen herrschte. Die beiden Männer schritten dem Rand der Kuppe zu. Die Stämme wichen auseinander.

»Dies ist das Tal, in dem Sie bauen sollen«, sagte der Fürst, die Hand ausstreckend.

Fürbringer stand, ohne sich zu rühren. Er hatte die Lippen geöffnet, aber er sprach nicht. Er holte langsam Atem.

Das Tal war nicht tief; seine große Sanftheit bot sich schattenlos dem breitströmenden Licht der Sonne. Und es lag unter einem Himmel, dessen Blau wie blaues Feuer war, gleich einer Schale, angefüllt mit Proben von allen Schätzen der Erde.

Marmorblöcke, die vierzig Pferde nicht zu bewegen vermocht hätten, waren übereinandergestürzt, fleckenloses Weiß auf fleckenlosem Schwarz; goldgeäderte Quadern wie von erstarrten Strömen Bernsteins; das steingewordene Rosa von den Hälsen der Flamingos.

Kein Baum, kein lebendiges Gewächs zwischen Süden und Norden. Nur Gestein, hundertfarbiges Gestein; das Flimmern des Flusses, Felsbrocken wie vom Nabel der Erde losgesprengt, gleißend von edlem Erz, dem alle Adern offen lagen.

Jenseits des Tales, unendlich weit hinter den Hügeln, die es nach Norden begrenzten, wuchs das Gebirge auf, ein Thron aus Lazur, auf dem der Himmel ruhte …

»Bitte, lassen Sie mich einen Augenblick allein, Hoheit!« sagte Michael Fürbringer.

Er fetzte sich nieder unter dem Baum, der seine breiten Äste schon über dem Abgrund reckte, stützte das Kinn in die rechte Hand und schaute.

Lautlosen Schrittes war der Inder gegangen.


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