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Fürbringer erwachte, ohne die Augen zu öffnen, von dem Geräusch eines sanften, gleichmäßigen Regens. Auf dem Rücken ausgestreckt, die Hände flach an den Seiten ruhend, lag er still und horchte auf den vertrauten, fast herzlichen Laut, der so ganz mit sich selbst beschäftigt war. Er war müde auf den Tod und hatte doch das Gefühl, eine Kette von Ewigkeiten verschlafen zu haben.
Er wollte sich auf seine Hände stemmen, um sich aufzurichten, aber seine Hände versagten ihm den Dienst. Sie knickten in den Gelenken zusammen. Mit einer Bewegung des Stumpfsinns hob er sie auf wie etwas Fremdes, nicht zu ihm Gehörendes, und betrachtete sie. Sie waren dunkelrot und geschwollen; an den Knöcheln stand über Wunden geronnenes Blut.
Das Erztor.
Michael Fürbringer stöhnte in sich hinein. An seinen zerschundenen Händen war ihm die Erinnerung an den rasenden Spuk der Nacht wiedergekommen.
Er wandte den Kopf zur Seite, starrte nach den Fenstern …
Sie schienen fließendes Gold zu sein.
Die Rolläden, aus Holzfasern künstlich geflochten, waren herabgelassen und wurden von außen überspült von einem feinen, unablässig niederrieselnden Wasserfall, der im Feuer der Sonne dampfte. Am Kopfende des Bettes stand Nissa und ließ den Windfächer schwingen. Auch das Gewebe des Punka war durchfeuchtet von einer starken und erquickend duftenden Flüssigkeit.
Fürbringer drehte den Kopf zurück und schloß die Augen. Er preßte die Zähne zusammen und horchte, bis das Brausen seines Blutes ihm wie eine Maske vor den Ohren lag.
»Nissa!«
»Sahib?«
»Warum sind die Tiger so still?«
»Sie sind fort, Sahib«, antwortete der Inder schläfrig.
»... Fort –?«
»Ja, Sahib.«
»Sie sind nicht mehr in dem Hof, der unter meinen Fenstern liegt?«
»Nein, Sahib.«
Fürbringer hielt den Atem an.
»Seit wann?« fragte er verhalten.
»Seit gestern morgen … Unser Herr wünschte nicht, daß du noch einmal gestört werden solltest vom Geräusch ihrer Füße. Du wirst sie nicht wieder hören.«
Fürbringer entgegnete nichts. Er rang das Würgen nieder, das ihm nach der Gurgel griff. Er spürte vor seinen geschlossenen Lidern den goldenen Taumel des Lichtes, das sich im Rieseln des Wassers badete, und er empfand jede Schwingung des Windfächers wie ein Geschenk an Kraft.
Der Fürst hat recht, dachte er. Die Nächte dieses Landes sind entsetzlich – man darf sie nicht wachend erleben wollen. Aber die Tage sind doppelte Tage, und ich will sie benutzen.
Während er sich erhob, in Eiswasser badete und sich von vier braunen Schatten, die einander beständig im Wege waren, ankleiden ließ, weil er seine Hände nicht zu rühren vermochte, entwarf er seine Pläne; beim Frühstück ging er an die Ausführung.
Er fragte nach Ramigani.
Ramigani trat ein. Er grüßte, die Hände zur Stirn erhebend, und blieb an der Tür stehen.
»Höre, Ramigani!« begann Fürbringer mit einer gewissen Kraftentfaltung, »ich langweile mich.«
In dem Gesicht des Inders regte sich kein Muskel. Er sah seinen abendländischen Gebieter schwermütig an.
»Befiehl, Sahib«, sagte er.
Fürbringer schüttelte den Kopf. »Ich möchte deine Vorschläge hören, mein Freund«, sagte er aufmunternd.
Ramigani verbeugte sich.
»Du hast Macht über alles, was Eschnapur besitzt, Sahib. Fünfhundert Pferde, mit Augen, deren jedes einen Goldbarren wert ist, warten darauf, daß du sie besteigst. In den Höfen schreien die Kamele, sie bieten dir ihre Rücken dar, und ihre Höcker strotzen von Kraft. Befiehl, und die Elefanten knien vor dir nieder, daß du ihre Rücken ersteigen mögest; sie machen die Erde dröhnen mit dem Gestampf ihrer Beine und dem Geschmetter ihrer Stimmen. Wenn du jagen willst, so nenne das Tier, das du suchst, und die Jäger des Fürsten werden dich zu seiner Sänfte bringen. Sie sind kühn und fürchten den Tod nicht.«
»Später, Ramigani«, antwortete Fürbringer; »ich habe mir die Hände verletzt – laß sie heilen!«
»Soll ich dir die Zauberer rufen, Sahib? Sie, die Feuer verschlingen, an deren nackter Haut die Schärfe des Stahles stumpf wird, die Bäume wachsen lassen aus einem Fruchtkern, daß du den Duft ihrer Blüten atmest und zuletzt mit deiner eigenen Hand die reife Frucht von den Zweigen brichst und ihre Süße schmeckst? Oder willst du die Schlangenbeschwörer kommen lassen, die den Sinn der Kobra berücken mit dem Ton ihrer Flöte, daß sie, die Heilige, die Tödliche, tanzt?«
»Laß sie am Abend kommen, Ramigani! Die Sonne des Mittags ist eine Feindin der Zauberei.«
Ramigani zögerte. »Die Tänzerinnen des Fürsten, o Sahib, sind um ihrer Schönheit willen berühmt. Willst du sie sehen?«
Fürbringer hob den Kopf und sah dem Inder mit einem stillen Lächeln ins Gesicht. »Gibt es auch Frauen in eurem wunderlichen Lande?« fragte er. »Ich glaube, daß sie Durga gleichen, weil sie sich dem Blick so ganz entziehen.«
»Sieh sie dir an, Sahib!« sagte der Inder einfach.
Fürbringer schob die Lippen vor. »Vielleicht«, meinte er. »Gib mir eine Zigarette, Nissa!«
Nissa gehorchte. Fürbringer stand auf und ging im Zimmer hin und her. Ramigani stand unbeweglich an der Tür.
Fürbringer warf die Zigarette fort und wandte sich um. »Nun?« fragte er. »Geh voran, Ramigani!«
Der Inder öffnete die Tür vor ihm. Sein messingfarbenes Gesicht war ebenso leer und ebenso aufreizend wie seine Höflichkeit. Fürbringer blickte auf den mageren Nacken und die unmännlichen Schultern des Voranschreitenden. Er betrachtete ihn, diese Vollkommenheit des Gehorsams, mit der sichersten Überzeugung von der Unfehlbarkeit des Instinkts, mit dem dieser Mensch die Grenzen innehalten würde, die sein abwesender Herr seiner Untertänigkeit gegen den Fremden gezogen hat.
Fast ohne es zu wollen, rief er ihn an: »Höre, Ramigani …«
Der Inder blieb stehen und sah sich um.
»Sahib?«
»Liebst du deinen Herrn?« fragte Fürbringer etwas zögernd.
Die glühenden und dennoch leeren Augen des Inders hielten seinem Blick stand. Für die Dauer weniger Atemzüge verkroch sich der Ausdruck seines Gesichts so gänzlich bis unter die Haut, daß er fast einfältig aussah.
»Warum sollte ich ihn nicht lieben?« entgegnete er sanft.
»Wenn du es nicht tätest«, sagte Fürbringer, ohne ihn aus den Augen zu lassen, »dann würdest du wissen, warum.«
»Ja, Sahib«, antwortete der Inder.
Er wartete, ob Fürbringer noch etwas hinzuzufügen hätte, wartete mit großer Höflichkeit. Der metallische Ton seiner Haut war ausgelöscht.
»Gehen wir weiter«, sagte Michael Fürbringer.
Der Weg, den sie machten, führte sie in den südlichsten Teil des Palastes, und sie brauchten nahezu eine Viertelstunde, um ihn zurückzulegen. Ramigani schlug einen Vorhang zurück, dessen Brokatstoff in schweren Falten erstarrte.
»Tritt ein, Sahib!« sagte er, zur Seite tretend.
Der Raum, der Fürbringer empfing, war klein, rund und leer bis auf einen köstlichen Teppich und einige Polster an den Wänden.
»Setze dich nicht, Sahib«, sagte der Inder mit der schwermütigen Bestimmtheit der Wissenden. »Die Krait braucht wenig Platz, und sie ist tödlicher als die Kobra.«
Er wandte das Polster um und glättete eine Falte des Teppichs.
»Glaubst du, gegen Schlangen gefeit zu sein, daß du mit nackten Händen nach ihnen suchst?« fragte Fürbringer.
Der Inder sah ihn an.
»Sie können mich nicht töten, wenn es mir nicht bestimmt ist«, antwortete er. »Und wenn es mir bestimmt ist – wie sollte ich mich vor ihnen schützen?«
»Und ich?« fragte Fürbringer lächelnd.
»Du bist ein Fremder.«
Fürbringer schwieg. Er setzte sich.
»Soll ich die Tänzerinnen rufen?« fragte Ramigani.
»Rufe sie!«
Der Inder verschwand durch eine Seitentür. Als er zurückkam, folgten ihm fünf Mädchen, bei deren Anblick Fürbringer sich unwillkürlich zurücklehnte, denn sie schienen in ihrer Gesamtheit den kleinen Raum auseinandersprengen zu wollen. Sie glichen den heiligen Zebukühen, die in ihrem eigenen Fett ersticken; sie dampften von Schweiß und klirrten einher wie Gepanzerte unter der Last ihres Schmuckes. Auf den Zehen ihrer nackten Füße funkelten Smaragde, und ein Smaragd funkelte ihnen im linken Nasenflügel.
Ihr Lächeln war das Lächeln Gott wohlgefälliger Torheit, und ihre Zähne waren rot wie Granatblüten von dem geheimnisvollen Allerlei, das sie, in die Blätter des Betelstrauchs eingewickelt, gekaut hatten.
»Befiehlst du, daß sie tanzen sollen, Sahib?« fragte der Inder.
»Nein, mein Freund«, sagte Fürbringer kurz.
Ramigani verzog keine Miene. Er hob die Hand, und die menschlichen Zebukühe entfernten sich mit demselben lächelnden Stumpfsinn, mit dem sie gekommen waren. Ramigani stieß einen Ruf aus, einen kurzen, scharfen Kehllaut.
Ein altes Weib von der Häßlichkeit einer Dämonin erschien, ohne den Fremden eines Blickes zu würdigen, und hielt den Vorhang der Tür mit einem Griff ihrer Krallenhände zurück.
Unter diesem Vorhang kam der Zug der Frauen herein, eine nach der anderen, geschmückt wie die Götzenbilder, von fremden, betäubenden Düften umwogt, die älteren, die höchstens sechzehn Jahre zählten, mit verschwommenen Zügen und fett wie das gemästete Laster – die jüngeren, kaum der Kindheit entwachsen, sehnsüchtig hingleitend in einer wunderlichen Gerecktheit der Körper, die an Orchideen erinnerten, an diese wilden Tiere unter den Blumen.
Die jüngsten, voll aufgeblüht zu einer süßen und wilden, gleichsam überstürzten Liebesbereitschaft, die Furcht zu haben schien, das Leben zu versäumen.
Sie alle, so viele ihrer waren, sprachen im Vorübergleiten mit den geschminkten Lippen grüßende Worte einer verzückten Zärtlichkeit, halblaut, fast nur hauchend, wie ein heißer Wind über einen Wald hingeht.
»Willst du wissen, was sie sprechen?« fragte Ramigani, der am Boden kauerte. »Sie sagen: ›Erwähle mich zu deiner Sklavin, o du mein Geliebter, du Licht vom Himmel, du Strom der Glückseligkeit! Laß mich der Teppich unter deinen Füßen sein, der Becher, aus dem du trinkst! Vergönne mir, an deinem Knie zu sitzen, o du Auserwählter unter den Söhnen der Menschen, und laß mich dir Kühlung zufächeln, wenn die Sonne im Mittag steht … Höre meine Stimme, die nach dir ruft, die Stimme meines Herzens, das die Sehnsucht nach dir verbrennt! Höre mich, o mein Geliebter‹!«
»Es klingt schön, was sie sagen, die Mädchen deines Landes«, meinte Fürbringer, ohne den Kopf zu wenden. »Aber du wirst begreifen, Ramigani, daß Liebesworte eine Übersetzung nicht vertragen. Und eine stumme Freundin ist wie eine stumme Flöte. Ich aber liebe die Musik des Holzes und der Menschen … Ist keine unter den Frauen des Palastes, die ein wenig von den Sprachen des Abendlandes verstünde?«
»Nein, Sahib.«
»Wirklich nicht?«
»Nein, Sahib.«
Fürbringer sah den Inder an; er drückte die Lider leicht zusammen.
»Ich glaube, du lügst, mein Freund«, sagte er gelassen.
»Ich lüge nicht, Sahib. Es ist ein Weib hier im Palaste, das etwas Englisch spricht, aber –«
Das Gesicht des Inders wurde hart vor Verachtung. »Sie ist nicht wert, daß ihr Name deinen Mund beschmutzt, Sahib. Ihr starb der Mann.«
»Ich bin ein Europäer, Ramigani.«
Ramigani hob die Hände zur Stirn. Sein Messinggesicht blieb unbewegt.
»Willst du sie sehen, Sahib?«
»Ja. Ich will sie sehen.«
Irgend etwas in dieser Antwort veranlaßte den Inder, aufzublicken. Aber Fürbringer lächelte wie ein Mensch, der sich auf die landesübliche Weise und ergeben langweilt. Und Ramigani verscheuchte die Frauen mit einer Handbewegung, ging und kam wieder.
An seinen Fersen folgte ihm ein Kind – ein Mädchen.
Es war ein jämmerliches Geschöpf, von Schmutz starrend, mit den Augen nie gestillten Hungers und den schmalen Schultern der Angst. Ein Wort Ramiganis ließ sie wie ein Bündel Lumpen an der Türschwelle niederfallen und den Boden mit der Stirn berühren. So blieb sie liegen, zitternd wie ein junger Vogel, von ihrem verwahrlosten Pechhaar überspielt.
Fürbringer stand auf. Seine frische, europäische Haut, seine Nase und seine Augen empfanden unleugbaren Ekel. Aber das Mitleid behielt die Oberhand.
»Steh auf, Kind!« sagte er. Es kreuzte die Arme vor der Brust, daß die Hände auf den Schultern lagen, und drückte sich, offenen Mundes, mit den blöden Zügen der Furcht, die Stumpfsinn geworden ist, an die Mauer neben der Tür.
»Ramigani sagte mir«, fuhr Fürbringer fort, »daß du ein wenig Englisch verstündest …«
Das Mädchen schwieg, ihn anstarrend.
»Gib Antwort, du Auswurf!« raunte Ramigani.
»Ja«, sagte das Mädchen, wie aus dem Schlaf heraus.
Es war dem Ausdruck des Gesichts anzusehen, daß sie das Wort wie die Bedeutung dessen, was sie hörte, aus einer langverschütteten Grube ihres Gehirns ausgraben mußte.
»Wer ist das Mädchen?« fragte Fürbringer den Diener halblaut.
»Es ist die Tochter eines reichen Mannes, der mehr Rupien besaß, als Wellen in einem Fluß sind, o Sahib. Darum wurde sie einem Fürsten vermählt, der alt war, ehe sie gehen konnte. Sie brachte ihm den Reichtum ihres Vaters, und er starb und ließ ihn seinem Sohne, und seine Leiche wurde verbrannt am Ufer des heiligsten Ganga. Seine Witwe, die sieben Jahre zählte, stand dabei, und sie fühlte die Sperre des Hasses und der Verachtung, weil die Götter sie ausgestoßen und des Mannes beraubt hatten. Sie wollte ins Feuer laufen, und man hätte sie ruhig laufen lassen sollen. Aber ein Narr hielt sie fest und brachte sie in das Haus, in dem fremde Frauen ihr Leben vergeuden, um schmutzige und verworfene Dinge, wie kleine Kinder, die Witwen sind, aufzuziehen und der Welt eine Last zu geben. Von dort hat unser Herr sie mitgebracht. Warum? Die Laune trieb ihn, der Herrin eine Dienerin zu geben, die selbst eine Fürstin gewesen war. Er brachte eine Krähe ins Haus.«
»Nun, Ramigani«, sagte Fürbringer, ins Leere blickend, »mich lockt es auch, eine Dienerin zu haben, die eine Fürstin war … Schicke das Mädchen ins Bad und laß ihr Haar waschen und flechten, gib ihr Kleider, die schön und sehr sauber sind, und weiche Schuhe, wie ihr sie tragt. Und wenn sie gebadet hat, bringe sie zu mir, daß sie mir Gesellschaft leiste …«
Ohne Ramigani Zeit zu einer Antwort zu lassen, verließ er das Gemach.
Als er eine Stunde später, mit den Plänen des Grabmals beschäftigt, in seinem Arbeitszimmer saß, tat sich lautlos die Tür auf.
Er wandte sich um. Auf der Schwelle stand Ramigani. Er stieß das Mädchen an der Schulter herein und schloß die Tür hinter ihm. Seine Bewegung verachtete zugleich das Mädchen und den Mann.
Fürbringer betrachtete das Kind, wie er eine Merkwürdigkeit unter den Blumen betrachtet haben würde, einen rätselhaften Stein oder ein seltsames Tiergeschöpf. Es war ihr anzusehen, daß sie heftig gebadet hatte; ihre braune Haut leuchtete vor Frische. Das sehr lange Haar war noch feucht, sie hatte es an den Schläfen geflochten, daß die breit niederfallenden Zöpfe ihr schmales Gesicht noch schmaler machten.
Sie hatten ihr ein indigoblaues, hemdartiges Gewand gegeben, das bis auf die Knöchel fiel. Ihre Füße steckten in Bastschuhen. Sie trug keinerlei Schmuck.
Der Ausdruck ihres kleinen Gesichts zeigte weder Glück noch Kummer, weder Hoffnung noch Angst. Nur eine grenzenlose Verwirrtheit prägte sich in ihm aus.
Unwillkürlich mußte Fürbringer lächeln.
»Wie heißt du, Kind?« fragte er brüderlich.
Es dauerte lange, ehe das Mädchen Antwort gab. Es schien, als müsse sie sich nicht nur auf die Worte, sondern weit mehr noch auf sich selbst besinnen. Sie schien vergessen zu haben, daß sie einen Namen besaß, und schien sich noch mehr zu wundern, daß ein Mensch nach diesem elenden Namen fragte.
Sie öffnete die Lippen mit einer fast körperlichen Anstrengung.
Sie sagte:
»Meine Mutter nannte mich Unglück, mein Vater nannte mich Überdruß. Die weißen Frauen nannten mich Miriam.«
»Waren sie gut zu dir, die weißen Frauen?« fragte Fürbringer.
Verständnislos sah ihn das Mädchen an. Nach einer Weile sagte sie: »Sie haben mich dem Fürsten gegeben.«
Fürbringer begriff, daß dies eine Anklage war.
»Ich will dich auch Miriam nennen«, sagte er zuredend. »Es paßt zu dir, dieser Name, weil man, wenn man ihn hört, an die Bitterkeit der Myrrhen denken muß. Komm zu mir, Kind; fürchte dich nicht! Du sollst bei mir bleiben und mir Gesellschaft leisten, als wärst du ein kleiner Vogel, den ich gefunden habe. Willst du das?«
»Du hast befohlen, Sahib«, murmelte das Mädchen. Sie sah erschrocken aus; sie hatte in ihrem Leben wahrscheinlich noch nie etwas gewollt, außer dem einen: sterben.
Als sie begriffen hatte, daß sie den fremden Gebieter unterhalten sollte, kramte sie verstört und schüchtern ihre armen Künste aus: »Willst du, daß ich tanze, Sahib? Oder soll ich singen?«
Fürbringer stand auf und näherte sich ihr. Und der Mann des Abendlandes blickte in großer Ergriffenheit auf das ganz glücklose Geschöpf einer fremden Welt, die im Schatten lag, wie es sich schmal und zerdrückt an die Mauer drängte und zu ihm aufsah mit dem Blick der Tiere, die wissen, daß sie sterben sollen.
Er streckte die Hand aus und strich dem Mädchen über das Haar. Er tat es immer wieder, mit der sachten Bewegung eines Bruders, der seine kleine Schwester liebt und sie trösten möchte, ohne zu wissen, wie er es anfangen soll.
Er dachte an seine Frau: Ja, wenn du da wärest! Du brauchtest nur zur Tür hereinzukommen und zu lächeln – brauchtest nur mit deiner schönen schenkenden Gebärde die Arme auszustrecken und diese Seele wäre dein. Du würdest mit ihr plaudern von Sonne, Mond und Sternen, würdest sie nach dem Namen eines Vogels fragen oder nach der Stelle des Gartens, wo der Hibiskusstrauch in Blüte steht. Und das Ende wäre, daß sie weinen und lächeln würde, und daß sie dich liebte …
Das Mädchen hatte sich unter der Berührung seiner Hand zusammengeduckt und die Augen geschlossen. Nun tat sie sie wieder auf. Und der Blick, mit dem sie den Mann ansah, war schleppend schwer von nichts begreifender Verwunderung; und ganz allmählich entzündete sich in ihm das aufstrahlende Licht einer Dankbarkeit, die nur darum nicht zum Weinen wurde, weil sie fürchtete, zudringlich zu erscheinen.
»Sahib«, murmelte sie und öffnete die Hände wie eine Opfernde, »was willst du von mir? Sage mir, was soll ich tun?«
»Vielleicht, meine kleine Miriam«, entgegnete Fürbringer nicht ohne Schwermut, »wird sehr bald die Stunde kommen, in der ich dich fragen werde, ob du mir helfen willst. Vielleicht werde ich dich bald meine kleine Schwester nennen und von deinen schmalen Füßen und Händen eilige Dienste erbitten. Aber erst will ich, daß du dich nicht mehr vor mir fürchtest, weil ich ein Mensch bin und die Menschen dich gelehrt haben, vor ihnen zu zittern. Ich will, daß du heiter bist, und du sollst dich freuen. Du sollst dich schmücken und deine eigene junge Herrin sein. Warum drückst du dich so an den Wänden hin? Fürchte dich nicht mehr, denn du hast nichts mehr zu fürchten!«
»Ich will gehorchen Sahib«, sagte das Mädchen inbrünstig.
Fürbringer verließ das Arbeitszimmer und rief nach Ramigani. Eine große Freudigkeit war über ihn gekommen – das Frohlocken des Gebenden.
»Bringe mir Schmuck, Ramigani – bunten Schmuck, wie ihn die Kinder eures Landes lieben! Und laß mich nicht warten, hörst du?«
Ramigani verschwand. Fürbringer ging im Zimmer hin und her, von einem Fenster zum anderen. Er pfiff. Er spürte zu seiner herzlichen Befriedigung, daß er Hunger hatte.
»Komm, Miriam«, sagte er, sich umwendend, »nimm die schönste Ananas, die du finden kannst, und mische ihren Saft mit Eis! Du sollst mich bedienen, Kind, denn ich kann meine Hände nicht rühren.«
Die entsetzten Augen des Mädchens hingen an seiner zerschundenen Haut. Sie öffnete die Lippen, aber sie sagte nichts. Sie brach in Tränen aus.
»Es ist ja nichts – es ist ja nichts, du Kind!« meinte Fürbringer glücklich.
Aber sie kauerte sich in einen Winkel, drückte das Gesicht gegen die Wand und weinte.
Fürbringer ließ sie gewähren.
Ramigani trat wieder ein. Ihm folgte ein Tamile, der einen flachen Korb auf beiden Händen trug. Wie Wein über den Rand eines Bechers tropften Glasketten, bunter Tand, hochaufgehäuft, ein gefangenes Feuerwerk, über den Rand des Korbes.
»Der Schmuck, Sahib!« meldete Ramigani feindselig und feierlich.
»Gib ihn her!«
Der Diener gehorchte; er verließ das Zimmer. Ramigani blieb stehen. Er sah zu dem Mädchen hinüber.
»Ich brauche dich nicht mehr, Ramigani«, sagte Fürbringer gleichgültig.
Der Inder sah ihn an, verneigte sich und ging.
Fürbringer nahm den Korb und schüttete seinen Inhalt auf den Tisch, daß es war, als zerspränge ein niederfallender Regenbogen zu tausend Tropfen siebenfarbigen Feuers.
»Nun wähle, Kind!« sagte er und lachte.
Miriam wandte sich um. Einer der großen, grünen Steine, wie sie die Nasenflügel der Frauen schmückten, war über den Marmor des Bodens bis vor ihre Füße gerollt. Sie bückte sich gedankenlos und hob ihn auf. Sie sah Fürbringer an und ließ den Stein wieder fallen. Ihre Lippen zitterten. Der Ausdruck ihres Gesichts war beinahe vorwurfsvoll.
»Warum wirfst du ihn fort?« fragte der Mann, »ist er dir nicht schön genug? Dann suche dir einen anderen aus, der größer ist und noch heller funkelt! Sei wählerisch, kleine Miriam, denn du sollst das Schönste haben, was Ramiganis schlechte Laune für uns aufgetrieben hat!«
Miriam blieb ganz ernst. Sie begriff nichts – oh, nicht das geringste! Der Sahib war vergnügt; er machte sich einen Scherz mit ihr. Was hätte ihn davon abhalten sollen?
Sie zog die Schultern zusammen, als ob sie fröre.
»Nein, meine kleine Miriam – es ist durchaus kein Scherz«, sagte Michael Fürbringer auf den stummen Blick ihrer Augen.
Und als sie begriffen hatte, nach vielen, vielen Minuten dumpfen Staunens, hoffenden Zweifels, da stieß sie einen Schrei aus – einen hohen, schrillen Schrei, wie ein junges, wildes Tier, aus dem das Blut schreit, lief auf den Tisch zu und faßte mit beiden Händen, sie füllend und schöpfend, als ob sie Wasser griffe, in das kalte, tolle Feuer der hingeschütteten Steine. Und immer wieder ihre kleinen, spitzen Schreie ausstoßend, wie wenn die aufzuckenden Funken des geschliffenen Glases ihr die Haut der Fingerspitzen versengten, ließ sie fallen, was sie eben erfaßt hatte, nahm es wieder auf und warf es abermals hin und trieb dieses Spiel der kindischen Verzücktheit, als würde in jedem bunten Strahl, der ihr Herz tanzen machte, ein Tag des Elends ungeschehen.
Sie steckte sich Spangen ins Haar, wand sich Ketten um Hals und Arme, schmückte sich die Knöchel und die Handgelenke. Und zuletzt, da all dies noch nicht genug war, raffte sie ihr blaues Kleid zum Bausch, worauf sie ganz versunken, ganz vergessend, wo sie war, das Spiel der sieben Feuer weiterspielte.
Fürbringer hatte sich an eins der Fenster gesetzt und sah ihr zu. Und als sie endlich, wie erschöpft von zu großer Freude, Arme und Hände sinken ließ und regungslos, schimmernd in ihrem wohlfeilen Schmuck, mit halbgeschlossenen Augen, lächelnd wie eine kleine, zärtliche Gottheit des Glücks auf den Knien lag, rief er sie an.
»Willst du mir nicht zu trinken geben, Miriam?«
Sie lächelte aus ihrer Seligkeit heraus, ganz ohne Schuldbewußtsein. Sie hatte ihre erste Pflicht versäumt – ja! Aber sie war glücklich gewesen. Hatte der Sahib ihr nicht geboten, glücklich zu sein?
Sie stand auf, achtlos die Falten ihres Kleides lösend, daß von ihrem Schoß die sprühenden Steine wie Regen niederglitten. Aber sie kümmerte sich nicht darum.
Sie wählte die schönste Frucht, wie der Sahib befohlen hatte, löste die harte Schale mit dem Messer und ließ den Saft aufs Eis tropfen.
Sie brachte das Glas ihrem Herrn und reichte es ihm mit einer Gebärde, die an Inbrunst und Zartheit ein Opfer darzubringen schien.
»Ich danke dir, Miriam«, sagte der Mann.
Sie blieb bei ihm stehen, während er trank, und blickte auf seine Hände. Und plötzlich wandte sie sich um und lief aus dem Zimmer, daß die Spangen ihrer Knöchel klangen.
Als sie gegangen war und Fürbringer sich allein befand, in dem Raum, der noch eben angefüllt gewesen war mit dem Jammer der Erlösung und der Glückseligkeit eines Kindes, und der nun plötzlich leer und ausgelöscht erschien, kam über den Mann eine grundlose Erschöpfung und Traurigkeit. Es war, als hätte sein Leben einen Sprung gemacht, und als müsse er nun den Sprung nach rückwärts tun.
Er stützte den Kopf in seine schmerzenden Hände und schloß die Augen.
Vielleicht, dachte er, ist alles, was ich tue, ganz sinnlos. Vielleicht gehe ich in die Irre und entferne mich immer weiter vom Ziel … Vielleicht gewinne ich aus alledem nichts anderes als die Tränen und die schrillen, kleinen Freudenschreie eines fremden Kindes.
Was sind wir? – Segel im Wind …
»Sahib«, bat die Stimme Miriams neben ihm, »willst du nicht erlauben, deine Hände zu heilen?«
Er sah auf und in das Gesicht des Mädchens.
Sie hielt in der Linken eine Muschelschale, mit einer hellen Salbe gefüllt; ihre Mundwinkel zitterten.
»Kannst du das, du Kind?« fragte Fürbringer, ernst lächelnd.
»Ja, Sahib«, antwortete sie einfach.
Er sagte nichts mehr. Sie kauerte sich vor ihm nieder und stellte die Muschelschale vor ihre Knie. Und Michael Fürbringer überließ seine Hände ihrer Sorgfalt, die nicht weit von Anbetung war.
Sie salbte die wunden Stellen, und ihre Finger waren gelinder bei diesem Werk als fallende Blütenblätter, und sie kühlte die verletzten Knöchel, hielt sie und beugte sich darüber, und sie weinte.
»Sahib«, sagte sie und schüttelte den Kopf, während sie mit tränenüberströmten Augen zu ihm aufsah, »wie konnte das geschehen, daß deine Hände so krank wurden?«
Fürbringer gab nicht gleich eine Antwort. Er hielt den Blick des Mädchens fest. Er ließ das Senkblei seines eigenen Blickes in diese tiefen, flutenden Kinderaugen fallen, als suche er auf ihrem Grunde eine Stelle, wo er sich selbst verankern könnte.
Und schließlich sagte er mit einer Stimme, die vor Erregung ganz tief geworden war und zu erlöschen drohte: »Meine kleine Schwester, ich habe mir meine Hände zerschlagen an einem Erztor, hinter dem eine Frau verschwunden war. Und ich glaube, diese Frau war die meine.«
»Willst du sie sehen, Sahib?« fragte das Mädchen.
Fürbringer starrte sie an.
»Wen –!?«
»Deine Frau, Sahib.«
Fürbringer stand auf; er taumelte.
»Du sprichst von meiner Frau?«
»Ja, Sahib.«
»Es ist also wahr, daß sie hier ist –?!«
»Sie ist hier.«
»Und du – du hast sie gesehen?«
»Ja, Sahib.«
Fürbringer blieb stehen. Er dachte nach, mit zusammengeschnürten Brauen vor sich hinstarrend. Er fühlte das tosende Schlagen seines Herzens im Halse und schluckte. Er stieß den angehaltenen Atem durch die Nasenlöcher in einem langen, röchelnden Ton.
»Höre, Miriam«, sagte er, ohne das Mädchen anzusehen, »überlege dir jedes Wort, ehe du sprichst! Von deinen Worten hängt vielleicht mehr ab, als du ermessen kannst. Sage mir: Weiß der Fürst – weiß Ramigani – weiß irgend jemand hier im Palaste, daß du meine Frau gesehen hast?«
»Niemand, Sahib«, antwortete das Mädchen.
»Niemand?«
»Niemand, Sahib.«
»Bist du dessen ganz gewiß?«
»Ganz gewiß, Sahib.«
»Es ist gut«, sagte Fürbringer, tief Atem holend. Er sah das Mädchen an und lächelte sein ernstes Lächeln.
»Meine kleine Schwester – willst du mir helfen?«
Das Mädchen drückte seine Stirn auf den Boden.
»Ja, Sahib«, sagte sie, als löse sie sich auf.
Fürbringer erwiderte nichts.
»Rufe Ramigani!« sagte er.
Ramigani kam. Fürbringer war auf dem Wege nach seinem Arbeitszimmer, als der Inder eintrat.
»Melde dem Fürsten«, sagte er, »daß ich mich entschlossen hätte, das Grabmal zu bauen, und nur auf sein Kommen wartete, um mit der Arbeit zu beginnen …«