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Vor dem Zimmer des Fürsten hockte Ramigani auf seinen Fersen. Fürbringer rief ihn an, aber der Inder antwortete nicht. Sein Unterkiefer hing wie eine schadhafte Klapptür lose in den Angeln. Seine Haut war vollkommen glanzlos und seine Augen stumpffarbig wie Ruß.
Irgend etwas Namenloses, aber Ungeheuerliches schien mit einer breiten, feuchten Hand von den Zügen Ramigani's weggewischt zu haben, was Wissen, Erziehung und Wollen hieß. Die greisenhaft-kindische Gleichgültigkeit eines Urwesens überließ sich widerstandslos Gefühlen, denen es nicht gewachsen war.
Fürbringer rüttelte ihn bei der Schulter.
»Ramigani, bist du blödsinnig geworden?«
Der Inder ließ sich schütteln wie ein Baum; seine Zähne klirrten aufeinander. Er starrte Fürbringer an, ohne ihn mit dem Blick zu erfassen, und lallte ein paar Worte, die einer fremden, leichenhaften Sprache angehörten.
Fürbringer unterdrückte einen Fluch, der ihm zwischen die Zähne sprang. Er fühlte den Aufstand seiner Nerven und wollte ihm zuvorkommen.
»Höre, Ramigani, du wirst jetzt aufstehen und dem Fürsten melden, daß ich ihn zu sprechen wünsche – hast du mich verstanden?«
»Ja, Sahib«, antwortete der Inder, als hätte er Schlamm im Mund.
»Dann, bitte, beeile dich – steh auf! Worauf wartest du?«
Ramigani glotzte ihn an.
»Geh nicht zu dem Fürsten, Sahib«, murmelte er mit einer Bewegung, als zöge er seinen Kopf aus der Schlinge eines Stricks.
»Warum nicht?«
Ramigani zog den Kopf zwischen die Schultern.
»Er hat Blut in den Augen«, sagte er heiser.
Fürbringer stieß die Luft durch die Nasenlöcher.
»Schwatze nicht, Ramigani, mein Freund! Tu, was ich dir gesagt habe!«
Ramigani wollte gehorchen. Aber mitten in der Bewegung des Aufstehens fiel er vornüber und kam mit der Stirn auf Fürbringers Füße zu liegen.
»Sahib«, stammelte er, während der dürre Hindukörper sich zusammenkrampfte, »ich will einen anderen rufen, der dies für mich tut …«
»Zum Teufel!« – Fürbringer begann zu lachen. »Laß mich vorbei, Ramigani, altes Waschweib, ich melde mich selbst an und brauche dich nicht … Nun? Gib die Tür frei!«
Ramigani wich auf die Seite. In dem Augenblick, da Fürbringer an ihm vorübergehen wollte, rührte der Inder mit beiden Händen an die Knöchel seiner Füße.
»Sahib,« sagte er und hob seine stumpfen Augen zu dem weißen Menschen, dessen Blicke seiner spotteten, »wirf es nicht auf meinen Namen, was von nun an geschieht …«
»Höre« – Fürbringer blieb stehen und sah den Inder scharf an – »habt ihr vielleicht eine Schurkerei vor, du und dein Herr?«
Ramigani duckte sich.
»Verflucht sei meine Zunge«, murmelte er. »Sahib, was fragst du mich?«
Fürbringer blickte eine Zeitlang stumm auf den braunen Menschen hinab, dem der Atem über die Lippen pfiff. Dann zuckte er die Achseln und wandte sich ab. Er klopfte gegen die Tür und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.
Das Zimmer war leer. Auf dem blank-schwarzen Marmorboden lag der Widerschein der roten Frühe, die sich durch vier unverhüllte Fenster ergoß, wie eine purpurne Lache.
Die Einrichtung des großen Raumes war die denkbar nüchternste. Quer in das Zimmer hineingestellt ein Schreibtisch, mit grünem Tuch bespannt; ein Stuhl davor, ein Sessel daneben. Auf einem häßlichen, braungebeizten Gestell stand ein Grammophon und sperrte sein ungeheures Maul auf, als sei es dazu verflucht worden. Vor ihm saß in Lebensgröße ein kleiner Fox aus Gips, mit schiefem Kopf und gespannter Aufmerksamkeit auf Dinge horchend, die sich ihm allein offenbarten. Fürbringer betrachtete das schuldlose Vieh mit einer Art versteinten Hasses. Es brachte ihn aus dem Gleichgewicht und war an dem Platze, wo es sich befand, von einer aufreizenden Unangreifbarkeit.
Das Eintreten des Fürsten unterbrach Fürbringer in der Erwägung dessen, was wohl geschehen würde, wenn er den Gipshund aus dem Fenster würfe.
Der Radscha war europäisch gekleidet. In seinen Bewegungen lag eine sehr gespannte und gesammelte Kraft. Eine ungewöhnliche Frische und Entschlossenheit schien von ihm auszugehen. Seine Hand schloß sich mehrere Sekunden um den Brokat des Vorhanges, den er beiseite geschoben hatte, um hereinzukommen.
»Ah – Herr Fürbringer«, sagte er. »Guten Morgen! Habe ich Sie warten lassen? Dann verzeihen Sie, bitte … Warum hat Ramigani Sie nicht gemeldet?«
»Guten Morgen, Hoheit«, sagte Michael Fürbringer kräftig. »Ramigani scheint nicht ganz gesund zu sein. Er hockt draußen vor der Tür und schwatzt Unsinn. Halten Sie's für möglich, daß er einen Sonnenstich bekommen hat?«
»Ich werde ihm sagen lassen, daß ich es nicht liebe, wenn meine Diener Unsinn schwatzen«, meinte er gleichgültig. »Vielleicht heilt ihn das … Aber vermutlich sind Sie nicht zu mir gekommen, weil Sie für Ramiganis Gesundheitszustand Befürchtungen hegen …«
»Nein. Allerdings nicht. Ich bin zu Ihnen gekommen, Hoheit, um Ihnen mitzuteilen, daß meine Frau sich bei mir befindet …«
Einen Augenblick herrschte vollkommene Stille. Die beiden Männer sahen sich an.
»Wie schade!« sagte der Fürst, das Kinn erhebend, mit einer Stimme, die höher als die seine war. »Damit ist mir eine hübsche Überraschung verdorben.«
»Eure Hoheit dürfen versichert sein, daß die Überraschung für mich eine vollkommene war«, meinte Fürbringer etwas trocken.
Der Radscha lachte. Er löste seine Hand aus dem Stoff des Vorhanges und kam weiter ins Zimmer herein.
»Sind Sie mir böse?« fragte er herzlich. »Sie müssen mir den Inder zugute halten, Herr Fürbringer; die Geheimniskrämerei liegt uns wohl im Blute, obwohl wir sehr genau wissen, daß jeder vernünftige Mensch den Schwindel durchschaut.«
»Ja«, entgegnete Fürbringer gedankenlos. Er zog die Brauen zusammen. Er litt fast körperlich unter der zwingenden Vorstellung: Wenn der Mann da drüben in eine von den roten Lachen tritt, gleitet er aus und fällt … Aber der Fürst vermied es, in das Licht zu treten. »Übrigens«, fuhr der Radscha fort, »da Ihre Frau Gemahlin mit diesem Tage ein Faktor in unserem Zusammenleben geworden ist, so wird es Ihnen und ihr vielleicht Freude machen, wenn sie sich an dem beteiligt, was ich Ihnen für heute vorschlagen wollte. Wir haben noch immer den geeigneten Platz für das Grabmal nicht gefunden, da Ihnen das Tal jenseits des Flusses nicht gefallen wollte. Wenn es Ihnen recht ist, machen wir heute nachmittag mit dem Auto eine Fahrt in die Ebene hinunter. Und wo Sie bestimmen, kann morgen mit den Vermessungsarbeiten begonnen werden …«
»Selbstverständlich wird sich meine Frau sehr freuen«, antwortete Fürbringer förmlich. Er dachte: Miriam hat sich geirrt. Der Fürst gibt kein Fest heute abend. Ramigani ist ein Narr geworden.
»Ich bitte Sie«, fuhr der Radscha fort, »Ihrer Frau Gemahlin meine verbindlichsten Empfehlungen zu übermitteln. Da Sie einander so lange Zeit nicht gesehen haben, wird es Ihnen gewiß lieber sein, wenn Sie sich bis zur Abfahrt ausschließlich in Ihrer eigenen Gesellschaft befinden. Von morgen ab würde ich mich sehr freuen, wenn Ihre Frau Gemahlin nach der liebenswürdigen europäischen Sitte den Platz der Hausfrau an meinem Tisch einnehmen wollte.«
Fürbringer verbeugte sich.
»Also auf Wiedersehen!« sagte der Fürst, die Hand ausstreckend.
Fürbringer ergriff sie. Er sah den Inder mit ernsten Augen an.
Der Inder erwiderte den Blick. Sein Gesicht blieb unbeweglich. Die Hand, die Fürbringer in der seinen fühlte, war sehr schwer und kalt und schloß sich nicht zum Druck.
»Auf Wiedersehen, Hoheit!« sagte der Deutsche. Er ging.
Ramigani war nicht mehr vor der Tür. Auch auf dem Wege nach seiner Wohnung begegnete Fürbringer ihm nicht. Die Gänge des Palastes lagen wie ausgestorben. Hier und da glitten in der Ferne Schatten aus dem Licht ins Dunkle; aber vor dem Näherkommen verleugneten sie ihren Ursprung und blieben ein Nichts.
Fürbringer trat in sein Zimmer und schloß die Tür hinter sich ab.
Irene saß an einem der Fenster, über deren Rolläden das Wasser spülte und in der Sonne gleißte. Miriam kauerte vor ihr und hatte all ihren Schmuck in den Schoß der fremden Frau geschüttet, daß die bunten Perlenketten über ihre Knie troffen.
»Habt ihr Freundschaft geschlossen?« fragte der Mann, Irenes Augen küssend.
»Hast du den Fürsten gesprochen?« fragte die Frau.
»Ja …«
»Und was sagte er?«
»Nichts … Es sei schade, daß wir ihm die Überraschung verdorben hätten … Er läßt sich dir angelegentlichst empfehlen und lädt dich ein, heute nachmittag mit ihm und mir eine Autofahrt in die Ebene zu machen, um den Platz für das Grabmal auszusuchen …«
»Sprach er von einem Fest für heut abend?«
»Kein Wort. Aber er hoffte, daß du von morgen ab den Platz der Hausfrau an unserer Tafel einnehmen wirst … Heute wollte er uns nicht stören …«
»Von morgen ab«, wiederholte Irene. Sie stand auf, daß Miriams Schmuck von ihrem Schoß niederrieselte. Während sie die Arme um den Hals ihres Mannes legte, sagte sie: »Michael, dann müssen wir heute noch fort …«
»Warum?«
»Ich weiß nicht … Ich fürchte mich …«
»Das ist sehr töricht, mein Liebling.«
»Das mag sein. Ich könnte dir auch keine Ursache für meine Furcht angeben. Du weißt, ich bin sonst nicht feige, ich habe auch gute Nerven und lasse mich nicht leicht aus dem inneren Gleichgewicht bringen. Aber ich fürchte mich … Die grausige Fremdheit aller Dinge lastet auf mir wie der Deckel eines Sarges. Ich liege in dem Sarge, der Deckel ist daraufgelegt worden; nur lose … ich kann noch hinaus, wenn ich will … In einer Stunde wird er zugeschraubt, und ich muß ersticken … Das ist mein Gefühl, Liebster … Nenne mich töricht, aber gib mir nach – laß uns heute noch fortgehen …«
»Das ist ausgeschlossen, Irene … Ich habe dem Fürsten mein Versprechen gegeben, das Grabmal zu bauen. Ich habe keine Veranlassung, wortbrüchig zu werden. Ich besitze keine Handhabe gegen ihn; sein Verhalten gegen dich und mich ist verzerrt und hat in seinem tiefsten Grunde vielleicht Absichten, die uns feindlich und gefährlich sind. Wir werden uns vorsehen; aber solange wir ihm die feindlichen Absichten nicht nachweisen können, sind wir gezwungen, gute Miene zum fragwürdigen Spiele zu machen …«
»Ich glaube, ich weiß, was sein Gedanke war, als er mich herüberbrachte«, sagte die Frau. »Er wollte eine Geisel haben …«
»Möglich.« Fürbringer zuckte die Achseln. »Wenn es sich in der Tat so verhält, so haben wir ihm den stärksten Trumpf aus der Hand genommen. Es wird an uns liegen, zu verhindern, daß es ihm fühlbar wird …«
Fürbringer verstummte aufhorchend.
»Herein!« sagte er, unmißverständlich.
Nissa erschien auf der Schwelle.
»Ich habe dir einen Brief zu bringen, Memsahib«, murmelte er, vor Irene die Hände zur Stirn erhebend. Er übergab ihr das Schreiben und trat zur Tür zurück.
»Vom Fürsten?« fragte Fürbringer.
»Ja.«
Irene riß den Umschlag auf und faltete den großen Bogen auseinander … Fürbringer sah ihr über die Schulter, während sie las.
»Meine sehr verehrte gnädige Frau!
Da Sie das Klima unseres Landes noch zu wenig gewöhnt sind, was ich vorhin leider nicht bedacht habe, möchte ich Ihnen und Ihrem Gatten den Vorschlag machen, die Autofahrt, die ich für heute nachmittag Ihnen anbot, lieber zu verschieben, bis der Wind von den Bergen kommt. Statt dessen würde ich mich sehr freuen, wenn Sie die Einladung zu einem kleinen Feste annehmen wollten, das ich heute abend zu geben gedenke. Ich glaube Ihnen eine Entschädigung für die Tage der Einsamkeit schuldig zu sein und würde gern zu gleicher Zeit die Gelegenheit ergreifen, Ihnen einiges von den vielbesprochenen Wundern Indiens vorzuführen, so gut oder schlecht, wie es die Gaukler der Straßen und Paläste verstehen. Ich bitte Sie um die Liebenswürdigkeit einer zustimmenden Antwort und verbleibe mit den verbindlichsten Empfehlungen auch an Ihren Gatten
Ihr ganz ergebener
Arada, Fürst von Eschnapur.«
Die beiden Gatten sahen sich an. Irene war blaß geworden. Fürbringers Lider zuckten.
»Er war im europäischen Reitanzug, als er diesen Brief verfaßte«, meinte er mit betonter Leichtigkeit. »Dagegen scheint er das Schreiben an mich seinerzeit in der Landestracht verfaßt zu haben. Er besitzt Stilgefühl, trotz des Gipshundes …«
»Welches Gipshundes …«
»Er hat einen Gipshund, Irene, der einem die Tränen aus den Augen treiben kann … Was wirst du ihm schreiben?«
»Eine Zusage?«
»Unter der Bedingung, daß ich Miriam als meine kleine Dienerin mitnehmen darf.«
Fürbringer zog die Brauen hoch.
»Das wäre eine Art von Kriegserklärung, Irene …«
»Ich lasse das Kind nicht mehr von meiner Seite«, sagte die Frau fast leidenschaftlich. »Ich will nicht noch einmal aus ihren Augen heraus die stumme Todesangst schreien hören.«
»Es ist gut, geliebte Frau …«
Irene ging ins Arbeitszimmer und schrieb im Stehen. Sie brachte den Brief ihrem Manne. Fürbringer las:
»Eure Hoheit
danke ich zugleich im Namen meines Mannes auf das verbindlichste für die liebenswürdige Einladung, der wir mit besonderem Vergnügen Folge leisten werden. Würden Eure Hoheit die Freundlichkeit haben, mir zu gestatten, daß die kleine Miriam zu meiner persönlichen Bedienung auch heute abend in Gegenwart Eurer Hoheit bei mir bleibt? Für die Erfüllung dieser Bitte wäre ich Eurer Hoheit zu herzlichstem Dank verpflichtet. Um Eurer Hoheit die Mühe einer Erwiderung zu ersparen, würde ich keine Antwort als eine Zustimmung auffassen. Mit verbindlichen Empfehlungen auch von meinem Manne verbleibe ich
Eurer Hoheit ganz ergebene
Irene Fürbringer.«
»Der Brief ist gut«, sagte der Mann, das Schreiben in der Hand wiegend.
»Aber? – Es ist ein Aber dabei …«
»Ja … Ich möchte, geliebte Frau, daß wir Miriam die Entscheidung überlassen, ob sie mit uns gehen oder lieber in unsern Zimmern zurückbleiben will. Wir wissen, daß sie sich ängstigt, aber wir wissen nicht, wovor, und treiben sie vielleicht, indem wir sie trösten und beruhigen wollen, einem unbekannten Schrecken tiefer in die Arme. Sie hat ein ernstes und zum Gehorsam entschlossenes Herz. Sie würde sich niemals weigern, dir zu folgen, wenn du sie an der Hand nähmest. Sie würde vielleicht sterben, aber sie würde gehorchen. Vor dieser todessüchtigen Ernsthaftigkeit der Unterwerfung müssen wir auf der Hut sein, denn das Kind ist uns beiden lieb, nicht wahr …?«
»Schmerzlich lieb«, sagte Irene.
»Wollen wir sie fragen?«
»Frage sie!«
Miriam kauerte am Boden. Sie hatte ihre verstreuten Ketten, Spangen und Reifen zusammengesucht und hielt sie unbeweglich im Schoße, von ihren gekreuzten Armen bewacht. Ihre Augen hingen an den Gesichtern der beiden weißen Menschen, als wären sie mit Seilen daran festgespannt. Der Ausdruck ihres kleinen, braunen Gesichts war von großer Klarheit, die einer tiefen Befriedigung zu entstammen schien. Ihre Lippen lächelten nicht, aber vielleicht tat es ihre Seele.
»Meine kleine Schwester«, sagte Michael Fürbringer, auf sie niederschauend, »du hast recht behalten, der Fürst gibt heute abend ein Fest …«
»Ja«, sagte Miriam.
»Er hat auch uns dazu eingeladen, meine Frau und mich … Und wir werden hingehen, weil wir fast müssen … Aber unser Herz wäre nicht ruhig, wenn du es nicht wärest, kleine Miriam … Wo willst du am liebsten bleiben – hier in diesen Zimmern, die du verschließen könntest, bis wir zurückkämen – oder bei uns – so dicht an der Seite meiner Frau, die sich um dich sorgt, daß du mit deiner Hand ihr Kleid berühren könntest?«
Miriam rührte sich nicht.
»Ein Weg ist lang und hat viele Schritte«, sagte sie eintönig. »Der andere ist kurz und hat wenige. Sie enden beide am gleichen Ziel.«
»Gib mir eine Antwort, meine kleine Schwester«, bat Irene, bei ihr niederkniend.
Miriam blickte sie an. Ihre etwas strengen Augen schienen zu fragen, ob die fremde Frau ein Recht habe, sie so zu nennen, wie der Mann sie nannte. Aber sie ergab sich sofort und hob, dem Befehl gehorsam, die Hände zur Stirn.
»Ich will an deiner Seite bleiben, Memsahib«, murmelte sie.
Fürbringer nahm seiner Frau den Brief aus der Hand und übergab ihn dem Diener.
In den Minuten, die dem Verschwinden des Dieners folgten, sprach keiner der drei Menschen, die in dem hellen Raum atmeten. Fürbringer ging im Zimmer auf und ab; Irene hatte ihren alten Platz am Fenster wieder eingenommen und zerrieb eine Limonenschale zwischen ihren unruhigen Fingern. Als Fürbringer sie anblickte, sah er den zu schnellen Schlag ihres Herzens an ihrem Halse.
Miriam kauerte mit gekreuzten Beinen in einer Ecke; sie saß mit ganz gerade aufgerichtetem Oberkörper, hatte die Augen halb geschlossen und die Hände so in den Schoß gelegt, daß die Fingerspitzen sich berührten und die Daumen nach vorn wiesen. In den leicht gehöhlten Handtellern lagen die schönsten ihrer Steine. Sie glich einer jungen Gottheit, die ein Geschenk empfangen hat und bereit ist, dafür zu danken. Es schien kein Leben in ihr zu sein.
Nach Verlauf von wenigen Minuten näherten sich abermals Schritte auf dem Gang vor der Tür. Fürbringer und seine Frau sahen sich an. Irene erblaßte.
»Er lehnt es ab«, flüsterte sie.
Fürbringer entgegnete nichts. Er blickte nach der Tür.
Nissa trat ein. Er hatte keinen Brief in der Hand. Er grüßte und sprach: »Mein Herr befahl mir, dir dies zu melden, Memsahib: Der Wille des Gastes ist Gesetz im Hause.«
»Sage deinem Herrn, ich ließe ihm danken!« erwiderte Irene, tief Atem holend.
Sie stand auf, ging auf Miriam zu und küßte sie zwischen den Augen.
»Schmücke dich, kleine Miriam!« sagte sie heiter. »Ich will, daß du schöner bist als alle Tänzerinnen, die vor dem Fürsten tanzen.«
Fürbringer strich seiner Frau übers Haar. Eine grundlose und von ihm selbst verneinte Ergriffenheit bemächtigte sich seiner, als er dieses sanfte, starke Haar unter seinen Fingern fühlte.
Miriams Augen hingen mit einem schweren Blick an seinen Händen …
Als der Abend kam, schmückte sie sich, denn sie war gehorsam. Sie schien schön zu sein, weil es ihr befohlen war. Als Nissa kam, Fürbringer und seine Frau nach den Gemächern des Fürsten zu geleiten, folgte ihnen Miriam, indem sie auf ihren Schatten trat. Wenn sie die Hand ausstreckte, konnte sie das Kleid der weißen Frau berühren, denn so war es der Wille ihres Herrn.
Der Fürst empfing seine Gäste in einer Halle, deren Säulen sich in Höhe und Weite ins Unendliche zu verlieren schienen. Eine verwirrende Fülle von Ampeln brannte. Die Buntheit ihrer Gläser ließ tausend schmale Bäche aller Farben aus der Höhe niederrinnen und sich auf dem Marmor des Bodens zitternd mischen. Duftwolken hingen in der bunten Luft.
Aus sieben schöngefaßten Springbrunnen stiegen die Strahlen des Wassers fein und hoch auf und zersprangen im Niederfallen zu Schleiern der Regenbogen. Genau im Mittelpunkt der Halle umgab ein Halbrund blühender Palmen eine hölzerne Erhöhung, die eine Art Bühne darstellen konnte. Davor standen drei schöngeschnitzte chinesische Sessel aus schwarzgebeiztem Kirschholz.
Kissen, mit schwerem, etwas grellem Brokatstoff überzogen, bedeckten die Sitze und lagen auf dem Marmor zerstreut.
Der Fürst war in der Tracht des Landes; er trug den Turban und eine ungewöhnliche Menge Schmuck. In der Mitte des Gewebes über seiner Stirn prahlte ein einzelner Rubin mit dem Feuer seines Blutes.
»Seien Sie mir willkommen!« sagte der Fürst, Irene die Hand küssend und Fürbringers Rechte kräftig schüttelnd. »Ich freue mich, daß Sie meine Einladung angenommen haben. Ich hätte den Abend dieses Festes ungern allein verlebt.«
»Dürfen wir erfahren, Hoheit, welche Veranlassung Ihnen den heutigen Tag zum Feste macht?« fragte Fürbringer, während der Fürst Irene den Sessel zurechtrückte.
»Sorge für das Essen, Ramigani!« sagte der Radscha ins Leere hinein, sehr laut. Eine Heerschar lautloser, sich feierlich bewegender Diener tauchte unter den Palmen auf; fußhohe Tischchen, mit einer Fülle fremdgewürzter Speisen bedeckt, wurden herbeigetragen und vor den Sesseln aufgestellt. In goldenen, edelsteingeschmückten Pokalen klirrten die Eisstückchen, die im Fruchtwasser schwammen.
»Bitte, nehmen Sie Platz!« bat der Inder. Er setzte sich in die Mitte und rief Fürbringer mit einer verbindlichen Handbewegung an seine linke Seite. Miriam duckte sich neben den Sessel der weißen Frau; sie schien wie ein Schatten im Dunkel des Marmors zu verschwinden.
Obgleich das Mahl auf herrlichen Gefäßen geboten wurde und der Duft der Speisen lieblich, wenn auch fremdartig war – obgleich die Becher im Schmuck ihrer Steine funkelten und die Gebärden der Diener, die sie darreichten, von seltener, auserlesener Anmut waren, lag über dieser Festtafel doch etwas vom Schatten einer versteckten Wildheit, die nur auf ihre Stunde zu warten schien, um hervorzubrechen und nackt dazustehen in der Nacktheit des Feuers.
Irene und Fürbringer aßen aus Höflichkeit. Der Fürst rührte die Speisen nicht an. Er trank nur von dem Wasser, dessen Kälte die Becher beschlug, wie einer trinkt, der im Fieber liegt. Seine Zähne machten das Eis knirschen.
Plötzlich, mit einem Ruck, wandte er sein Gesicht Fürbringer zu; das asiatische Lächeln entblößte seine Zähne, daß sie leuchteten.
»Sie fragten mich vorhin, warum dieser Tag für mich ein Festtag sei, Herr Fürbringer …«
»Ich wollte durchaus nicht zudringlich sein, Hoheit«, entgegnete der Deutsche.
Der Fürst fuhr mit der Hand durch die Luft.
»Das versteht sich von selbst. Aber ich möchte, daß Sie auch innerlich an meinem Feste teilnähmen. Ich bin überzeugt, daß Sie sich lebhaft für die Sache interessieren werden … Nun – ich habe heute eine Todesnachricht erhalten …«
»Eine Todesnachricht?«
»Ja.«
»Eine ungewöhnliche Veranlassung zu einem Feste«, meinte Fürbringer, nach dem Becher greifend. Aber er setzte ihn nicht an die Lippen. »War es die Nachricht vom Tode einer Frau?« fragte er.
»Nein. Vom Tode eines Mannes.«
Fürbringer setzte den Becher hin, ohne getrunken zu haben.
»Diese Mitteilung scheint Sie etwas anzugreifen«, meinte der Radscha, sich zurücklehnend.
Fürbringer erwiderte nichts. Er preßte die Zähne hart aufeinander.
»Gott im Himmel!« flüsterte Irene, fast unhörbar.
Der Radscha wandte ihr das Gesicht zu:
»Gnädige Frau?«
»Es ist grauenvoll, was Sie da sagen, Hoheit«, sprach Irene, seinem Blick standhaltend.
Der Radscha zog die Lippen hoch.
»Finden Sie das?« meinte er nachlässig.
»Ja. Ich finde es unerhört grauenvoll, den Tod eines Menschen zum Feste zu machen.«
»Es kommt auf den Menschen an«, entgegnete der Fürst. »Wenn er sein Menschentum wegwarf und zum Wolfe wurde – zum Schakal, der das Aas der eigenen Ehre frißt, so hat er das Los eines Schakals verdient, und den Aasfresser schlagen die freien Tiere.«
»Wir sind aber Menschen und keine Tiere …«
»Wer sagt uns das?«
Irene schwieg.
»Er war mein Freund, und ich liebte ihn. Ich schlief, weil er wachte. Den Schlafenden hat er verraten. Ich habe den Boten, der mir die Nachricht von seinem Tode brachte, zum reichsten Manne seiner Kaste in ganz Eschnapur gemacht. Ich habe ein Bad genommen in seiner Kunde. Ich war unrein und bin wieder rein geworden. Wenn ich in dieser Nacht sterben müßte, wäre nichts Unvollendetes hinter mir. Darum habe ich ein Recht zum Festefeiern.«
»Und die Frau?« fragte Irene zugreifend.
»Seien Sie ohne Sorge, gnädige Frau … Sie wird ihren Weg zu Ende gehen und das Ziel erreichen. Ich brauche sie nicht zu treiben. Sie setzt den Fuß auf vorgezeichnete Spuren.«
»Ich weiß nicht, was Sie damit meinen«, warf Fürbringer ein. »Aber auf die Gefahr hin, Ihr Wohlwollen zu verscherzen, muß ich Ihnen sagen, Hoheit, daß Sie kein Recht haben, der Richter und Henker eines Menschen zu sein, der Ihnen preisgegeben ist. Selbst dem Mörder wird Verteidigung bewilligt. Und ich mache Eure Hoheit darauf aufmerksam, daß ich mehr als jemals fest entschlossen bin, wenn es nottut, zum Verteidiger der Frau zu werden, die hilfloser und einsamer als ein Blatt im Winde ist – falls ihre arme Seele nicht doch zuletzt in Ihrer eigenen Ritterlichkeit den Fürsprecher findet.«
»Sie sprechen gut«, sagte der Fürst, der dem Deutschen aufmerksam zugehört hatte. »Es ist ein Genuß, Ihren Worten zu folgen. Gestatten Sie mir nun aber auch eine Frage: Würden Sie ebenso empfinden und handeln, wie Sie es von mir verlangen, wenn es sich um Ihre eigene Frau handelte?«
Irene machte eine Bewegung, die der Fürst schon im Entstehen unterbrach.
»Bitte, verzeihen Sie –!« sagte er. »Ich will Sie durchaus nicht beleidigen! Wir sprechen rein sachlich. Ich will wissen, ob ein Verräter und eine treulose Frau in den Herzen zweier Menschen, wie Sie es sind, Zuflucht finden …«
»Nein«, sagte Fürbringer.
»Nein«, sagte Irene im selben Atemzug.
»Vielen Dank!« entgegnete der Fürst. »Das genügt mir. Mehr wollte ich nicht wissen.«
»Das ändert nichts an dem sittlichen Empfinden, das für den Europäer ausschlaggebend ist: Der Beleidigte darf nicht der Richter sein!« stellte Fürbringer fest.
Der Radscha lächelte.
»Ich bin kein Europäer«, meinte er verbindlich. »Erlauben Sie mir in diesem besonderen Falle zu sagen: Glücklicherweise. In Europa werden Gesetze beleidigt, und die Richter schaffen dem Gesetz Genugtuung. In Asien gibt es mehr Menschen als Gesetze; das ist ein Unterschied. Wenn Buchstaben satt werden, das stillt mir nicht den Hunger. Und in mir war der Hunger des Tigers. Er ist satt geworden.«
»Wenn das wahr ist, Hoheit, dann werden Sie die Frau verschonen«, sprach Irene sanft. »Kein edles Tier reißt mehr an Opfern, als es zur Sättigung braucht.«
»Ich gebe Ihnen mein Wort, gnädige Frau, daß ich nichts tun werde, was einer Bedrohung gleichkäme … Es ist nicht nötig. Es genügt, daß ich auch nichts vom Gegenteil tue …«
»Das verstehe ich nicht …«
»Haben Sie niemals davon gehört, daß Menschen aus Furcht vor dem Tode in den Tod gehen?« fragte der Fürst.
Irene wollte etwas erwidern, aber die Stimme versagte ihr. Sie beugte sich vor und suchte die Augen ihres Mannes.
»Ich weiß«, fuhr der Radscha fort, »daß es gewisse Menschen gibt, die sich bestechen ließen, der Frau zur Flucht behilflich sein zu wollen. Man hat sie in fremden Kleidern auf dem Dache des Palastes stehen sehen. Eine Närrin war bereit, sich ihr zu opfern. Das Unternehmen ist töricht und trägt seine Strafe in sich. Es gibt kein Mittel gegen die erste Treulosigkeit, aber genug gegen die zweite. Ich werde sie gebrauchen.«
»Ich hoffe, Eure Hoheit werden das nicht nötig haben«, sagte Irene.
Der Radscha zuckte die Achseln.
»Wer weiß das? Aber lassen wir dies Gespräch! Es hat Sie trübe gestimmt, und wir wollten ein Fest feiern. Ich hatte Ihnen einige Stichproben aus dem Schatz der indischen Gaukeleien versprochen … Wenn es Ihnen recht ist, gnädige Frau, dann will ich das Zeichen zum Beginn der Vorstellung geben.«
»Ich bitte darum …«
Der Radscha klatschte in die Hände.
Im selben Augenblick begann eine seltsame, wilde und haltlose Musik, die nicht laut war, aber von der unabweisbaren Aufdringlichkeit zirpender Zikaden.
Aus dem Hintergrund der Palmen tauchte ein Mann auf, der, nackt bis auf das Tuch um die Hüften, einen völlig fleischlosen Körper dem bunten Licht der Ampeln bot.
»Ich vermute, der Kerl wird uns mit demselben Schwindel langweilen, mit dem seine exportierten Artgenossen in Europa den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen, die dafür den Unfug von der Übersinnlichkeit Ostindiens in Reinkultur züchten. Er wird uns beweisen, daß er Nägel und Glasscherben fressen kann, was zwar ein Beleg für die Vortrefflichkeit seiner Gurgel ist, im übrigen aber für andere Leute ziemlich zwecklos sein dürfte. Oder er wird Flammen speien oder eine unbegreifliche Menge Papier aus seinem Munde zutage befördern – im Grunde genommen höchst kindliche Dinge, die ein beredtes Zeugnis dafür sind, daß die Menschheit noch tief in den Windeln steckt. Ich hoffe aber, Ramigani wird sich als Festordner bewähren und wenigstens dies oder jenes in Bereitschaft haben, was auch verwöhnten Ansprüchen genügen kann.«
Irene gab keine Antwort. Sie hatte die rechte Hand um den Hals der kleinen Miriam gelegt, die so dicht an ihrem Sessel kauerte, daß sie der Schatten ihres Kleides zu sein schien.
Der Mann auf der Bühne begann seine Vorführung mit einer Feierlichkeit, als sei er Priester und übe einen inhaltschweren Gottesdienst. Der Radscha hatte ihn richtig eingeschätzt. Was er zeigte, war nichts als eine Verneinung der Naturgesetze, daß ein Menschenkörper blutet, wenn geschliffener Stahl auf die nackte Haut einschlägt, und daß sie verdorrt in der Flamme. Er lief im Kreise und ließ die langwehenden Flammen von Fackeln gegen seinen Körper lecken und fühlte nichts. Er tanzte mit seinen Fackeln, während die Lichter im Saale erloschen, wie ein Rasender, daß sein Schatten, zum hundertgliedrigen Ungeheuer aufwachsend, gleich einem Dämon mit zehn Köpfen um die Säulen geisterte.
»Es sieht doch hübsch aus – finden Sie nicht?« fragte der Fürst, sich an Irene wendend, im Tone eines Knaben. »Er versteht sein Handwerk. Nur daß sein Schatten besser tanzt als er. Aber das Schicksal teilt er mit vielen Menschen. Wir wollen es ihm nicht zur Last legen.«
»Vielleicht werden Sie mich auslachen, Hoheit«, sagte Irene mit einem schüchternen und herzlichen Lächeln, »aber die Gaukler haben bei mir ein leichtes Spiel. Ich sitze behaglich da und schaue ihnen zu und glaube ihnen alles, was sie wollen, ohne den geringsten Wunsch nach Aufklärung. Ich bin in einem Märchen und habe die Vernunft beurlaubt. Ich weiß, daß ich nur eine Tür aufzumachen brauche, um den Geheimnissen der ganzen Zauberei auf die Spur zu kommen, aber ich will die Tür gar nicht aufmachen. Was ich dahinter finde, ist sicherlich nicht halb so hübsch, als ich dahinter vermute …«
»Es freut mich, wenn der Schlingel Ihnen Spaß macht«, antwortete der Fürst. »Aber ich hoffe, Ramigani wird seine Wirkungen steigern. Haben Sie gute Nerven?«
»Ich glaube«, sagte Irene. »Sie sind noch nicht sehr auf die Probe gestellt worden.«
»Sie sind zuweilen etwas angreifend, die Zauberkunststückchen unserer Gaukler. Aber sie haben den Vorzug der Eigenartigkeit … Da haben wir Nummer zwei! Den Alten kenne ich. Er läßt sich nichts befehlen noch abschmeicheln. Man muß ihn als einen hohen Herrn behandeln, der bei guter Laune erhalten sein will. Aber dann ist er unübertrefflich!«
»Ich bin jedenfalls sehr gespannt«, antwortete Irene. Sie beugte sich vor, um ihrem Mann ins Gesicht sehen zu können. Sie lehnte sich langsam wieder zurück und legte die Hände im Schoß flach gegeneinander.
Sie kannte das Spiel der Muskeln im Gesicht ihres Mannes sehr genau.
Ihre ernst gewordenen Augen blickten auf die dürren, beinahe schwarzen Hände des alten Gauklers.
Er hatte sich niedergekauert mit einer Miene, als sei er allein auf der Welt. Er stellte einen rotbraunen Blumentopf zwischen seine Füße und füllte ihn unter beständigem Murmeln mit schwarzer Erde, die aus seinen Fingerspitzen hervorzukommen schien. Er griff in die Luft und holte aus ihr einen weißen Kern hervor, den er in die Erde steckte. Dann rückte er von dem Blumentopf weg, legte die Hände auf seine Schenkel und versank in Erstarrung.
Das Gemurmel seiner Lippen steigerte sich mit jedem seiner langsamen und sehr seltenen Atemzüge. Er hatte die Augen geschlossen; die Züge seines Gesichts fielen ein wie bei einem Totenschädel.
Sekunden vergingen und schienen Minuten zu sein.
Die Hände des Alten lagen still auf seinen Schenkeln. Sein Oberkörper begann hin und her zu schwanken, sein Kopf geriet in eine gleichsam rollende Bewegung; sein Murmeln steigerte sich zum Geheul.
Plötzlich brach er ab, saß regungslos; nur die Lider seiner Augen schienen sich vorzuwölben wie bei einem Krokodil.
»Sieh doch!« rief Irene, die Hand ausstreckend, und legte sie sofort auf ihren eigenen Mund, als wollte sie die Worte noch in der Luft erhaschen.
Aus dem Erdreich des Blumentopfes wuchs eine Pflanze auf, ein winziges Stämmchen – Zweige lösten sich vom Stamm und breiteten sich aus; die Zweige bekamen Knospen. Das Wachstum des kleinen Baumes geschah mit einer traumhaften, unbeirrten Stetigkeit. Als er die Höhe von zwei Spannen erreicht hatte, rollten sich die Blätter aus den Hüllen, entfalteten ein kräftiges und glänzendes Grün.
Wieder begann der Körper des Alten sich in den Hüften zu wiegen, sein Kopf zu rollen, sein Murmeln sich zur Raserei zu steigern. Seine Hände lösten sich von den Schenkeln, fuhren hoch in die Luft, hingen gekrümmt, wie die nackten, schwärzlichen Krallen von Raubtierfängen, starr in der Luft über dem Gewächs des Zaubers.
Am Ende eines jeden Zweiges, zwischen zwei Blättern, erschien eine neue Knospe, die sich langsam öffnete zu einem schneeweißen Kelch.
Eine Wolke von Duft strömte von ihr aus.
»Orangenblüte«, flüsterte Irene.
Die Blütenblätter fielen ab, tropften zu Boden wie schwere Flocken.
Aus dem zerstörten Kelch drängte sich die Frucht hervor, wuchs, rundete sich zum grünen Ball; unter seiner zunehmenden Fülle senkten sich die Zweige. Das starke Grün färbte sich und wurde leuchtend gelb. Zuletzt hing eine goldene Kugel am Ende eines jeden Zweiges.
Die rechte Hand des Gauklers fuhr herab und brach die schönste der Früchte. Er hielt sie zwischen zwei Fingern hoch empor, bückte sich und warf sie Irene in den Schoß.
Irene nahm die Frucht, ihre köstliche Frische mit Entzücken einatmend.
Als sie aufblickte, saß der Alte regungslos, die Hände auf den Schenkeln, an seinem Platz. Vor ihm stand der Blumentopf. Er war leer.
Irene wollte die Frucht ihrem Manne reichen; sie war verschwunden.
Der Radscha lachte.
»Da haben Sie Indien!« sagte er mit einer gewissen Gutmütigkeit. »Seine schönsten Früchte lösen sich in Luft auf, wenn sie einem in den Schoß gefallen sind. Der alte Bursche scheint heute guter Laune zu sein. Nehmen Sie Ihre Nerven in die Hand, meine Herrschaften! Er wird versuchen. Sie das Gruseln zu lehren!«
Hinter dem Rücken des Alten war ein Knabe aufgetaucht, schmalhüftig und behend, mit einem verschmitzten Lächeln in den Augenwinkeln.
Der Alte erhob sich und griff eine Bambusstange auf, die am Boden gelegen hatte. Er stellte sie in der Mitte der Bühne hoch, so daß sich ihr Ende oberhalb der Ampeln in der Dunkelheit verlor.
Der Gaukler stieß einen Ruf aus, der an den Schrei des Tauchvogels erinnerte. Er ließ die Stange los, die frei schwebend stehenblieb.
Mit der Geschwindigkeit eines jungen Affen kletterte der Knabe an dem Bambus empor, der sich unter seinen Sohlen leise wiegend bog. Als er das Gebiet der Ampeln überwunden hatte, war er plötzlich unsichtbar geworden.
Diesen Augenblick schien der Gaukler erwartet zu haben. Er starrte in die Höhe, murmelte etwas, verzerrte das Gesicht, warf sein Gewand ab und begann dem Verschwundenen nachzuklettern.
»Wo hat er das Messer her?« flüsterte Irene, sich vorbeugend. »Er hat ein Messer zwischen den Zähnen!«
»Die Kerle scheinen Taschen in der Haut zu haben«, antwortete der Fürst. »Wenn es möglich wäre, würden sie ein Arsenal von Werkzeugen in der Luft anlegen …«
Er verstummte, Irenes Hand griff ins Leere.
Hoch über ihnen, in der Dunkelheit der Kuppel, erscholl ein wütendes Geschrei, durchgellt von Hilferufen wahnsinniger Angst. Es war, als jagten zwei Dämonen in Flucht und Verfolgung sich durch die Bogen der gewölbten Decke und rund um die Säulen. Das Geschrei schwoll auf und ab, entfernte sich und kam wieder näher und gipfelte zuletzt, hoch über den Köpfen der Sitzenden, in einem markerschütternden Kreischen der Todesangst, das erstickt wurde von dem heulenden Frohlocken des siegreichen Verfolgers …
Darauf war es eine Weile still. Die Zuschauer rührten sich nicht. Die Ampeln brannten ruhig in ihrer dummen Buntheit. Das Bambusrohr stand sinnlos aufgereckt, frei und gespenstisch ins Dunkle ragend. Eine Ampel, die über der Bühne hing, malte am Fuß des Bambusrohres einen leise schwankenden Lichtfleck auf das Holz.
In diesen Lichtfleck mitten hinein fiel aus der Höhe ein Arm, ein blutiger Stumpf mit einer im Todeskampf verkrallten Faust. Ihm folgte ein Bein; die nasse Schnittfläche leuchtete. Der zweite Arm fiel auf den ersten, fast gleichzeitig kam auch das andere Bein des Knaben. Dann der Rumpf. Zuletzt der Kopf des Knaben. Er kam auf den Hals zu stehen und wies den Schauenden einen aufgerissenen Mund mit blutunterlaufenen, gebrochenen Augen.
»Er macht es wirklich ausgezeichnet!« sagte der Radscha sehr befriedigt.
Irene sagte nichts. Sie zitterte am ganzen Leibe. Miriam war neben ihr vornübergefallen und erstickte das Wimmern ihres Entsetzens zwischen ihren Fäusten.
Mit einem unaussprechlich wilden Lächeln blickte der Fürst auf das Mädchen hinab.
»Gestatten Sie, gnädige Frau?« fragte er, nach einer Zigarette greifend. Irene sah ihn verstört an. Sie gab keine Antwort.
Fürbringer, dem der Fürst die Zigarettenschale anbot, lehnte dankend ab. Für einen Augenblick kreuzten sich die Blicke der beiden Männer.
»Sie rauchen nicht? … Da muß ich auf der Hut sein«, meinte der Fürst lächelnd.
»Ich hoffe, Eure Hoheit haben das nicht nötig«, sagte Fürbringer sehr ernst.
»Man hat es immer nötig«, war die Antwort des Fürsten.
Ihr Gespräch wurde unterbrochen.
An der Bambusstange turnte der Alte herunter. Er trug einen großen, flachen Weidenkorb unterm Arm, bückte sich und sammelte den zerstückelten Körper in das Geflecht. Er schob den Deckel darüber und rüttelte den Korb, als wollte er Getreide sieben. Dabei plärrte er unaufhörlich ein und dasselbe Wort in langgezogenem Singsang vor sich hin. Endlich kam ein zufriedenes Glucksen aus seiner Kehle. Er setzte den Korb nieder, hob den Deckel ab und ließ den Knaben äußerst lebendig, verschmitzt und munter herausspringen.
Er zeigte das Innere des Korbes; es war leer wie ein ausgetrunkenes Ei.
Unter dem johlenden Beifallsquieken der unsichtbaren Instrumente verschwanden die beiden, ihr Werkzeug mit sich nehmend.
»Ich wußte im voraus, daß die Geschichte Ihnen etwas aufs Gemüt schlagen würde«, sagte der Radscha liebenswürdig bedauernd. »Aber derartige Scherze gehören zum eisernen Bestand einer indischen Unterhaltung. Zu etwas weniger Angreifendem –! Ramigani! – Die Tänzerinnen!«
Die Musik in den Palmen brach plötzlich ab. Die grünlebendigen Vorhänge teilten sich und ließen drei Mädchen vortreten, zarte und junge Geschöpfe, nackt bis auf den dünnen Rock, der ihnen von den Hüften zu den spangengeschmückten Knöcheln fiel, flimmerndes Geschmeide über den kleinen, hochstehenden Brüsten.
Ihnen folgte ein Mann mit einem Deckelkorb und einer kleinen Flöte.
Er hockte sich ein wenig abseits in den Schatten, den Zuschauern den Rücken zuwendend, hob den Deckel vom Korb und setzte die Flöte an den Mund.
Beim ersten Ton des klagenden Instrumentes fiel von oben her aus unerforschlicher Quelle ein grellweißes Licht auf die Tänzerinnen, daß sie mit ihrer bronzenen Haut im Gefunkel der Steine wie edle Statuen standen.
Sie regten sich nicht; sie hielten sich unbeweglich. Die Flöte klagte und schrie. Es war nicht Melodie noch Rhythmus in ihren Tönen. Es war, als suchte ein lebendiges Wesen nach dem zu ihm gehörigen Ton, ohne ihn zu finden.
Auf einmal stand gegen das grelle Licht, das die Tänzerinnen badete, ein kleiner fremdartiger Schatten.
Aus dem offenen Korb war eine Schlange geglitten und richtete sich vor den Mädchen auf. Unter ihrem flachen, breiten Kopfdreieck blähte sich die Haut des Halses wie ein Schirm.
Die Töne der Flöte gerieten in Taumel. Sie jagten sich selbst und überstürzten einander.
Der Kopf der Kobra zuckte hin und her. Sie wiegte sich, auf ihrem Leibe sitzend. Und wie sie, begannen auch die Körper der Mädchen sich zu regen. Wellen durchliefen sie von den Schultern bis zu den Knien. Das Gewebe um ihre Hüften fing zu schwingen an. Strahlenbündel sprühten aus dem Geschmeide ihrer Brüste. Ihre Arme wanden sich wie Nattern. Sie schlossen die Finger, auf denen smaragdgrüne Steine funkelten, daß ihre Hände selbst wie Schlangenköpfe erschienen.
Vor ihnen tanzte die Schlange …
Die Flöte schrie.
»Selbstverständlich ist es ein Unfug, zu glauben, daß die Schlange sich von der Musik beeinflussen lasse«, bemerkte der Radscha, den Rauch der Zigarette durch die Nüstern blasend. »Die Schlange ist genau so unmusikalisch wie ein Stuhl. Das Geräusch, das Licht und die Bewegungen der Tänzerinnen regen sie auf. Das ist alles. Unsere Schlangenbändiger sind allesamt große Schwindler. Sie machen Ihnen weiß, daß die Kobra im Vollbesitz ihrer Giftzähne sei. Aber mit Ausnahme der wenigen, die sich aus Stumpfsinn der Gefahr des Bisses aussetzen, weil sie die Anmaßung besitzen, die Gottheit für ihr eigenes Narrentum verantwortlich zu machen, wird kein Schlangenbeschwörer mit einer Kobra arbeiten, der das Tier nicht vorher veranlaßt hat, in ein Tuch zu beißen. Dann sind sie für einige Zeit außer Gefecht gesetzt und unschädlich wie Ringelnattern.«
»Trotzdem weiß ich nicht, ob ich nicht einen guten Stockhieb der fragwürdigen Probe aufs Exempel vorziehen würde«, sagte Fürbringer etwas abweisend.
»Davor lassen Sie sich warnen«, entgegnete der Fürst. »Seit die Kobra, wie die Sage behauptet, mit dem Schirm ihres Halses das Haupt des sinnenden Buddha vor der Sonne schützte, ist sie dem Hindu heilig, obwohl er von Buddha selbst fast nichts mehr weiß … Die Tänzerinnen taugen nichts. Sie sind träge wie junge Kühe. Lassen Sie Miriam tanzen! Sie ist biegsam wie ein junger Baumschößling und hat in ihren Gliedern das lebendige Echo der Flöte.«
»Nein –!« rief Irene, fast zu laut.
»Wir sind mit den Leistungen der Tänzerinnen durchaus zufrieden, Hoheit«, fügte Fürbringer hinzu.
Der Radscha lächelte.
»Weil Sie Besseres nicht kennen«, meinte er. »Ich will aber, daß Sie Indien selbst tanzen sehen. Tanze, Miriam!«
Miriam stand auf. Sie hob die Hände zur Stirn. Ihr Gesicht war grau wie Asche.
»Ich bitte Eure Hoheit, Miriam den Tanz zu erlassen«, stammelte Irene, das Mädchen in ihre Arme nehmend.
Miriam stand aufrecht in ihren Armen, als wäre sie von Holz.
»Warum?« fragte der Radscha erstaunt. »Die Schlange ist absolut ungefährlich. Darf ich Sie davon überzeugen?«
Er erhob sich, trat an die Bühne heran und streckte die Hand nach der Kobra aus. Schnell wie ein Gedanke fuhr das Tier heraus und schlug mit dem Kopf nach seinem Handgelenk.
»Sehen Sie«, sagte der Inder. Auf seiner mattbraunen Hand standen zwei winzige Blutstropfen. »Sie ist etwas aufgeregt«, fügte er gleichmütig hinzu.
»Das hat nichts zu sagen. Ihr Biß würde keinen Vogel töten. Genügt Ihnen die Probe?«
Irene erwiderte nichts.
Sie ließ Miriam los.
»Fange die Kobra ein!« rief der Fürst. »Sie will entwischen!«
Der Schlangenbeschwörer gehorchte. Er ließ das Tier in den Korb schlüpfen und schloß den Deckel darüber. Das weiße Licht erlosch. Die Bühne lag in der Buntheit der Ampeln wie in farbigem Wasser.
»Vorwärts, Miriam!« sagte der Radscha.
Miriam gehorchte. Sie stieg auf die Bühne hinauf und stellte sich in die Mitte. Das weiße Licht entzündete sich über ihrem Kopfe. Sie stand mit weit offenen Augen und hängenden Armen. Über ihrer Stirn, halb in der Schwärze des Haares vergraben, leuchtete ein großer, grüner Stein.
Die Flöte begann ihr zerfetztes Lied. Der Deckel des Korbes hob sich. Die Schlange glitt daraus hervor. Sie richtete sich vor dem Mädchen auf. Die Haut ihres Halses blähte sich. Und die Schlange und das Mädchen begannen zu tanzen.
Miriams Augen hingen an dem Mann, den ihre kleine Seele liebte. Sie tanzte, als tanze sie im Traum. Ihre Lippen standen weit offen. In den Adern ihres Halses schlug das Herz.
Fürbringer stand auf.
»Komm herunter, Miriam!« rief er außer sich. Im selben Augenblick schlug die Schlange nach dem Fuße des Mädchens – und zog sich sofort zurück, noch immer hochaufgerichtet hin und her zuckend, mit geblähtem Halse.
Miriam stand bewegungslos. Nur ihre Lider zitterten. Der Jammer der Flöte kreischte fort. Miriams Lippen regten sich. Sie streckte die Arme aus.
»Sahib –!« rief sie.
Und fiel vornüber …
Irene schrie laut auf.
Fürbringer tat einen Sprung und stand auf der Bühne. Wie ein Schatten glitt der Flötenspieler an ihm vorbei, die Kobra einzufangen.
Fürbringer kam ihm zuvor. Er bückte sich, packte einen der niedrigen Tische, riß ihn zu sich hinauf und schmetterte ihn mit voller Wucht auf den Leib der Schlange.
Hinter ihm schrie Irenes Stimme: »Nimm dich in acht! Die andere! – Die andere Schlange –!«
Fürbringer achtete nicht darauf. Er riß Miriam in seine Arme und rief sie bei Namen. Aber sie hörte ihn nicht mehr.
Irene stand neben ihm. »Einen Arzt!« rief sie. »So holt doch einen Arzt.«
Fürbringer fühlte den Krampf des Sterbens, der Miriams Glieder folterte. Er knirschte vor Wut mit den Zähnen. Er wandte den Kopf nach rechts und links in verzweifeltem Zorn. Er sah dem Schlangenbeschwörer ins Gesicht und erkannte Ramigani.
Ein roter Nebel wogte vor seinen Augen auf und ab. Er suchte mit dem Blick den Fürsten.
Der Fürst lächelte.
»Du Hund –!« schrie er ihm in die Augen hinein.
Er ließ den entseelten Körper Miriams zu Boden gleiten und wollte auf den Inder eindringen.
Irene warf sich ihm in den Weg.
»Fort –!« rief sie, den Mann an beiden Armen, rüttelnd. »Um Gottes Barmherzigkeit willen – laß uns fortgehen! Siehst du nicht, daß der Tod über uns ist?«
Fürbringer warf einen Blick rundum. Der Fürst war verschwunden. Sie waren allein im Saal. Er packte die Hand seiner Frau und riß sie mit sich.
Hinter ihnen erloschen die Lichter.
Sie rannten im Dunkeln …