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5

Was Michael Fürbringer aus seinem Brüten weckte, war ein Duft von Weihrauch, Amber und Wachs.

Er hob den Kopf und sah sich um. Niemand außer ihm war im Zimmer. Niemand schien dagewesen zu sein. Aber das weiße Licht des Tages war verschwunden, und an den Wänden ringsum brannten große gelbe Kerzen in bronzenen Blakern, lautlos, ganz unbewegt, als hätten sie sich selbst entzündet.

In einer schmalen Nische, der Tür gegenüber, hing an drei Ketten ein Gefäß aus schwarzem, durchbrochenem Metall. Von der matten, gleichmäßigen Glut in seinem Innern stiegen Duftwolken auf und schwebten langsam, bläulich, mit der Schwermut dessen, das entstehend stirbt, durch das Zimmer, aufwärts, zur Kuppel einer unsichtbar gewordenen Höhe.

Michael Fürbringer folgte dem Gewölk mit dem Blick. Er sah die Lichter, eines nach dem anderen, aus ernsten Augen an. Seine Nerven waren sehr dazu bereit, dem Wesen der Dinge bis auf den Grund nachzuspüren, indem er sich ihm hingab. Und so empfand er die sanfte Feierlichkeit des von Kerzen erleuchteten Raumes, der um seine Bestimmung betrogen schien, wie die geduldige Art eines reifen und klugen Menschen, der auf das Heute verzichtet, um das Morgen zu gewinnen, in unentwegtem, gelassenem Warten.

Fürbringer stand auf. Er verließ das Gemach und trat in sein Wohnzimmer. Auch darin brannte das Licht. Es war Abend geworden, ohne daß er es gewahrt hätte. Das Gewebe der Fenster spannte sich weiß und undurchsichtig wie Milchglas der Dunkelheit entgegen.

Auf einem kleinen Tisch stand eine flache, schön getriebene Goldschüssel mit Früchten und ein Pokal mit eisgekühltem Wein. Fürbringer hatte Durst; aber er trank nicht. Er wollte seine Gedanken unvermischt erhalten.

Er war in den Stunden des Grübelns zur Erkenntnis der Notwendigkeit gekommen, sich den Tatsachen zu unterwerfen. Es wäre sinnlos gewesen, unkundig des Landes und seiner Sprachen, ohne ausreichende Mittel, ja selbst ohne Ziel auch nur den Versuch zu machen, sich der höflichen Haft zu entziehen. Er war also Gefangener.

Da er sich aber mitten im feindlichen Lager befand, war er fest entschlossen, seinerseits nicht untätig zu bleiben. Es galt nur, die Stelle aufzufinden, an der sein Gegner verwundbar war. Zu diesem Zweck mußte er den Umfang und die Grenzen seiner Bewegungsfreiheit kennenlernen. Und er war gewillt, in dieser Hinsicht keine Zeit zu verlieren.

Ein Umstand, der ihm zunächst bedeutungslos erschienen war, gewann nach den Erfahrungen des Tages erheblich an Gewicht: kein Fenster seiner Wohnung führte ins Freie. Unter seinem Schlafzimmer lag der Hof, in dem die Tiger gefangengehalten wurden. Die acht Fenster des Saales blickten mit ihren gewobenen Augen stumpf, wie blind, auf eine glatte, sehr hohe Wand. Das Arbeitszimmer empfing sein Licht ausschließlich durch die gewölbte Kuppel der gläsernen Decke.

Und noch etwas kam Fürbringer in dieser Stunde zum Bewußtsein: Dreimal hatte er den Weg nach oder von seinen Zimmern zurückgelegt, den Palast durchkreuzend bis an das östliche oder nördliche Ufer des Sees. Aber keinmal war sein Weg der gleiche gewesen. Der Fürst von Eschnapur und Ismael, der Unpünktliche, der sein Vertrauter war, hatten eine verwirrende Fülle von Gängen, Hallen und Treppen zu Hilfe gerufen, seinen Richtungssinn aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Aber Michael Fürbringer war fest entschlossen, auf eigene Faust den kürzesten Weg zum Wasser, das die Palastinsel umgab, kennenzulernen.

Er steckte den Kompaß und die Taschenlampe ein und verließ das Zimmer.

Er schloß die Tür lautlos hinter sich, blieb stehen und sah sich um.

Rechts und links erstreckte sich ein hallenartiger Gang, dessen Bogen, wie Blätter geformt, von einer unabsehbaren Doppelreihe sehr schlanker Marmorsäulen getragen wurden. Kein Mensch weit und breit. Fürbringer hielt den Atem an und lauschte. Aber er hörte nichts – nichts, außer einem kaum vernehmbaren, metallenen Klingen, das sich anhörte, als fielen in unendlicher Ferne kleine Silberkugeln in ein silbernes Becken.

Wasser tropfte, irgendwo.

Eine milde, goldfarbene, fast etwas traurige Dämmerung herrschte unter den Säulen. Aus unsichtbaren Quellen fiel das Licht herab, ohne den Boden zu erreichen. Ein Lufthauch, warm, gleichmäßig streichend, glitt über Fürbringers Gesicht. Er brachte mit sich allen Duft und alle schwere Süßigkeit einer sommerlichen Nacht, in der die Gewitter am Himmel stehen.

Fürbringer holte tief Atem. Seine Schritte dämpfend bis zur Unhörbarkeit, begann er seinen Weg. Er wandte sich nach rechts, die Säulen zählend.

Er schritt zwischen den doppelten hindurch, zwischen zweimal neunundneunzig. Als er stehenblieb und zurücksah, fand er das Licht hinter sich erloschen.

Er rief: »Ramigani!« – Und nach einer Weile abermals: »Ramigani!« –

Niemand antwortete. Unendlich langsam schwand das Licht auch über ihm, bis er in völliger Finsternis stand.

Mehrere Minuten lang verhielt sich Fürbringer regungslos. Er wartete darauf, daß seine Augen, sich an die Dunkelheit gewöhnend, die Dinge um sich her erkennen lernten. Aber die Dunkelheit war die eines fensterlosen Raumes.

Je länger sie dauerte, desto schwerer wurde sie; sie schob sich wie ein Körperliches gegen den Menschen heran, der in einer unwillkürlichen Bewegung der Abwehr die Arme vor sich hinstieß, um sie fernzuhalten.

Er nahm die kleine Lampe aus der Tasche und schaltete sie ein. Die feine Nadel des Lichts spießte sich in dieses Körperliche der Finsternis, daß es zurückzuckte; aber es vermochte sie nichts aufzuhellen. Fürbringer ließ den Schein der winzigen Birne auf den Boden fallen. Der war glatt und eben wie ein Spiegel. Er nahm die Wanderung wieder auf, mehr als je entschlossen, den Weg, den er sich vorgenommen hatte, zu Ende zu gehen. Er spürte seinen kalten Zorn und seine herzliche Verachtung gegen die Gaukler des Morgenlandes gleich guten Kameraden neben sich. Er dachte: Ich will doch sehen, wie weit sie's treiben.

Er schaltete die Lampe aus. Er wollte ihre Kraft aufsparen, bis er sie am nötigsten brauchen würde. Mit tastenden Füßen und vorgestreckten Händen ging er weiter.

Nach hundert Schritten blieb er zum zweiten Male stehen. Er hörte aus dem Klang und Widerhall seiner Füße, daß er sich in einem anderen Raum befand. Dieser Raum mußte sehr hoch sein. Fürbringer hob den Kopf. Über ihm verdämmerte das lastende Schwarz zu einem verschwimmenden tiefen Dunkelblau, wie es ruhige Wasser in den Nächten haben. Vielleicht war es der Himmel, der sich sternenlos über dem Palast der Insel wölbte.

Unwillkürlich, beim Anblick dieses maßlos fernen Himmels, holte Michael Fürbringer schwer schöpfend Atem – und hielt den Atem in der Brust zurück.

Hatte der Raum ein Echo?

Er hatte ein Seufzen gehört, das langsam und hauchend, in seiner Nähe, doch höher als sein Kopf, begann und tief ausatmend in Lautlosigkeit untersank und verging.

Fürbringer wandte den Kopf nach rechts und nach links, als lauschte er; er wußte, daß er sich selbst mit dieser Geste betrog. Er wollte die Nackenwirbel freibekommen, denn irgend etwas klammerte sie ein.

»Ist jemand hier?« fragte er halblaut.

Der Klang seiner Stimme war ganz stumpf. Die Worte fielen ihm vom Munde senkrecht zu Boden.

Totenstille antwortete seiner Frage. Doch als er schon den Fuß erhob, um weiterzugehen, ertönte hinter seinem Kopfe das gleiche hauchende Seufzen zum zweiten Male. Er spürte das Wehen eines Atems in seinem Nacken. Etwas wie eine Hand streifte sein Gesicht.

Er riß die Lampe hoch, schaltete sie ein …

Auf dem Absatz der Säule hinter ihm hockte ein großer Affe. Die Tieraugen glotzten ihn an.

Er ließ den Schein seiner Lampe im Kreise wandern und sah, daß er sich am Fuße einer Treppe befand, die so ungeheuerlich breit war, daß er weder rechts noch links erkennen konnte, was sie begrenzte.

Auf den Stufen dieser Treppe kauerten die Affen zu Hunderten; sie hingen im Geäst der Säulen, hatten geschlafen und wurden nun wach.

Von dem besudelten Marmor der Treppe lösten sich die zu Klumpen geballten Tierleiber, deren fette Scheußlichkeit einem Pfuscher mißraten zu sein schien.

Ohne Eile, in einer herrischen Bedächtigkeit, näherten sie sich dem Menschen, das Licht in seiner Hand anfletschend. Stinkend, frech und heilig, wie sie waren, quollen sie aus der Dunkelheit, zu einem unübersehbaren Heer anschwellend, auf ihn zu.

Fürbringer ging mitten durch sie hindurch auf die Treppe zu. Er erreichte sie und begann sie zu ersteigen. Er sah, daß oben, wo sie endete, eine trübe Helligkeit aufdämmerte, wie von tief verschleierten, kraftlosen Lampen. Dieser Lichtdämmerung strebte er zu.

Das Heer der Affen folgte ihm nach. Fürbringer hörte das Hinschlürfen ihrer zahllosen nackten, fetten Füße, die stumpfsinnige Unfehlbarkeit ihrer Sprünge hinter sich dreinziehend, gleich einem tonlosen Getöse von Geistern. Sie blieben stets im selben Abstand von seinen Fersen. Wenn er den Schritt verlangsamte, zögerten sie; ging er schneller, wurde ihr Trott zum Laufen.

Wenn ich jetzt zu rennen anfange, dachte Fürbringer, dann rennen sie auch.

Er dachte: Ich will nicht rennen. Er blieb stehen und wandte sich um. Er, der Mensch, fühlte in sich einen rasenden, sinnlosen Haß gegen das Tierpack, das an seinen Schritten klebte.

Er schaltete die Lampe aus und steckte sie in die Tasche. Mit angespannten Muskeln, Kopf und Kinn vorstreckend, die Fäuste geballt, stand er auf halber Treppe, minutenlang, ohne sich zu rühren. Er hörte, wie seine Verfolger sich zurückzogen. Die Dunkelheit der Tiefe schluckte sie ein. Zuletzt waren sie verschwunden.

Fürbringer richtete sich auf. Er spürte das Hemd an seinem Leibe kleben. Ein plötzlicher Schauder, von dem er nicht wußte, ob er aus Glut oder Frost herkam, schüttelte ihn. Er stieg die Treppe hinauf.

Als er die letzte Stufe erreicht hatte, sah er, daß er auf dem Vorplatz eines Tempels stand.

Drei offene Torbogen, durch schön geschnittene, breite und niedrige Pfeiler miteinander verbunden, führten ins Innere, dessen grenzenlose Tiefe und Höhe in schwimmendem, bläulichgrünem Licht lag.

Fürbringer trat in den Tempel hinein, als tauche er in leise ziehendes Wasser. Er atmete nicht, er trank die schwere kühle Luft, die um hundert und aber hundert Säulen floß.

Von jedem Bogen, der zwei Säulen verband, hing eine Ampel nieder, wie aus einem einzigen riesenhaften Kristall geschnitten. Sie brannten, aber sie leuchteten nicht. Nur die Überzahl ihrer Fülle gab dem Tempel sein unwirkliches Licht.

Und Michael Fürbringer ging in diesem Tempel der asiatischen Gottheiten umher wie ein Mensch auf dem Grunde des Meeres, fast zermalmt von der zugleich strömenden und lastenden Wucht eines fremden Elementes, preisgegeben und gierig nach Wundern, die Heiligkeit der Dinge, die ihm nicht heilig waren, als Feind empfindend und, da er ohne Anbetung vor ihnen stand, selber feindselig angeglotzt.

Im Schein der tausend Ampeln funkelten die Edelsteine an den fetten Gliedern versteinter Scheusale. Elefantenköpfe wuchsen aus Menschenleibern und reckten in der Erstarrtheit einer maßlosen Wut ihre Rüssel zum Himmel auf.

Kali, die Scheußliche, und Durga, die Dämonentöterin, brachen wie aufplatzende Geschwüre aus dem Stein heraus, den das Entsetzen gesprengt zu haben schien.

Und abermals wie Geschwüre einer besessenen, schöpferischen Wut reckten sich zahllos die schwarzen Lingams Schiwas des Zerstörenden, klaffte der Schoß der gefräßigen Durga; und sie troffen beide von geschmolzener Butter, der reichlichen Opferspende anbetender Frauen.

Der ganze entfesselte Wahnsinn des Steins blähte sich in hemmungsloser Nacktheit, niemals gesättigt, niemals erschöpft, im Augenblick des fürchterlichen Taumels am eigenen Fluch erstarrt, durch keine Ewigkeit mehr zu erlösen.

Inmitten dieser Gottheiten hatten Zeit und Raum ihren Sinn verloren. Michael Fürbringer konnte nicht mehr ermessen, wie lange er das grünblaue Licht schon über seinem Kopfe spürte, das ihm allmählich die Schädeldecke zu zermeißeln drohte. Er sah sich um, er gewahrte keinen Eingang, keinen Ausgang mehr. Nichts als Pfeiler, die sich unter fürchterliche Lasten stemmten; nichts als Steinbilder, in denen eine ins Unermeßliche gesteigerte Furcht sich selber Denkmäler setzte; Fratzen, die nach ihm starrten; das Aufsprühen hingeschütteter Edelsteine; niedertropfend in unbewegte Luft der Spuk der brennenden, meerfarbenen Kristalle.

Und während der Mensch durch diese Hölle der steingewordenen Furcht hinschritt, den Gang beschleunigend, und ihrer Opfergier, die nach dem Hirn griff, zu entrinnen, schien sie um ihn her aus der Erstarrung aufzuwachen, lebendig zu werden, zu atmen.

Die Augen der Gottheiten rührten sich im Licht; sie funkelten, von Blut unterlaufen, und folgten ihm nach. Schatten reckten sich auf, ungebändigt wachsend. Die grünen Kristalle der Ampeln begannen zu schwanken; sie taumelten hin und her, vom Strom eines Windes gepackt, der wie der Atem Schiwas, des Gottes, durch den Tempel flutete.

Die unerhellte Finsternis der Höhe sprang in verzerrten Gestalten auseinander. Eine unabsehbare Schar von Gespenstern tanzte lautlos um das stumme Stöhnen überlasteter Säulen.

Fürbringer hob die Hand und fuhr sich über die Stirn: sie troff von Schweiß. Seine Augen suchten nach einem Ausweg aus diesem chaotischen Wahnsinn; sie fanden ihn nicht. Er lief planlos geradeaus.

Und plötzlich sah er etwas, vor dessen Anblick er mit vereistem Blute stehenblieb.

Er bückte sich keuchend, starrte das Wesen an.

An einen der Pfeiler gelehnt, mit gekreuzten Armen und untergeschlagenen Beinen, kauerte ein Gerippe, ein Haufe von Knochen, mit braunpergamentner Haut überzogen, ein kahlgeschorener Schädel, ein fleischloses Gesicht, um den Hals eine Kette kleiner, bleicher Totenköpfe.

Aber das Gerippe lebte; unter den fast bloßliegenden Rippen schlug das Herz, in dem Totenkopf über den Totenköpfen schwelgten zwei Augen.

Und diese Augen sahen den Mann des Abendlandes an. Sie fraßen sich an seinen Zügen fest, flackerten ihn an mit den Brandfackeln des Hasses, mit der wütenden Verachtung des Fanatismus.

Eine Wolke von Gestank brütete über dem Büßenden, dem von der Schulter zur rechten Hüfte die weiße Schnur der Brahmanen hing. Der Unrat eines Jahrzehnts schichtete sich um den Heiligen auf, der mit verrenkten Gliedern auf einem Flecke hockend, zu Ehren irgendeiner gräßlichen Gottheit bei lebendigem Leibe verweste.

Fürbringer wich zurück; er wandte sich nach rechts. Er lief durch einen Wald schwarzragender Lingams, immer geradeaus, fest entschlossen, nicht eher innezuhalten, bis er am Tore der Freiheit angelangt war.

Das grünliche Licht über seinem Kopfe verlor seine Kraft. Die Mauern klafften. Draußen wartete die Nacht.

Mit einem Aufatmen, das ein Stöhnen wurde, ließ sich der Mensch, den die Unterwelt ausgespien hatte, zu Boden fallen. Es tat ihm grenzenlos wohl, auf dem kühlen Marmor des Bodens zu liegen und mit aufgelösten Gliedern und festgeschlossenen Augen, hinter deren Lidern Feuerräder kreisten, sinnlos vor sich hinzustöhnen. Er fühlte mit einer peinigenden Deutlichkeit das Zittern seiner Nerven, deren Fasern losgesponnen schienen. Er war so erschöpft, daß er nicht die Willenskraft aufbringen konnte, sich zu erheben und weiterzugehen.

In diesem Augenblick, da er mit geschlossenen Lidern auf dem Rücken am Boden lag, die Arme von sich gestreckt, mit sehnenlosen Knien, hörte er, aus einer Entfernung von Ewigkeiten, zwischen denen das Meer sich dehnte, die Stimme seiner Frau, die ihn bei Namen rief.

Sie rief ihn ohne Angst, mit einer klaren, sanften Zärtlichkeit, fast zuredend. Und der Mann, der sehr erschöpft in halbem Schlafe lag, hörte dieses Rufen, so wie ein Mensch in der Dämmerung zwischen Schlaf und Wachen das süße Schlagen eines Vogels hört – ohne den Wunsch, die Augen aufzutun, nicht antwortend, nicht denkend …

Nur im tiefsten Bewußtsein der Seele hörte er gleichsam sein Herz sprechen: Ja … ja … Du bist in der Welt … Die Welt und die Nacht sind angefüllt mit Schrecknissen und Gespenstern des Hirns. Die Zerrüttung der Geister wirbt um neue Sklaven. Aber du bist in der Welt und schickst deine klare Stimme aus, die ihren Weg findet in aller Finsternis, ohne sich jemals zu irren.

Er hörte den Rhythmus seines Herzschlags, der stark und gleichmäßig sein Blut bewegte, er formte Silben, Worte, die, immer wiederkehrend, zum Verse, fast zum Liede wurden …

Geliebte Frau … geliebte Frau …

Und dann, mit einem Ruck, fuhr er in die Höhe, daß er zum Sitzen kam – plötzlich ganz wach, nüchtern, mit zupackenden Gedanken.

Wie kam Irene, seine Frau, hierher? Wie war es möglich, daß er ihre Stimme hier vernahm, in Eschnapur, dem tiefindischen Lande, im weißen Palast auf der Insel? Gab es einen Schimmer der Möglichkeit, daß sie sich hier befand? Hatte er in der ersten Nacht doch nicht geträumt, als er die Laute ihres Mundes zu vernehmen glaubte?

Und wenn sie hier war – auf welchem Wege war sie gekommen? Hatte sie wie eine gute Hündin seine Spur gesucht und gefunden und sich die Fahrt hierher ertrotzt, den unerschütterlichen Willen ihrer Liebe gegen die Laune eines asiatischen Machthabers setzend, ihres Sieges von vornherein gewiß? Oder war auch sie eine Zahl in der Berechnung des Inders gewesen? War sie freiwillig gekommen, gelockt oder gezwungen? War sie eine Gefangene, wie er ein Gefangener war, durch ein Versprechen festgehalten oder durch eine Drohung?

Denn, wäre sie Herrin ihrer selbst gewesen – was unter allen Dingen der Welt hätte sie abhalten können, zu ihm zu laufen mit der schönen, wilden und glücklichen Freimütigkeit ihrer Liebe?

Warum rief sie nach ihm in der Nacht und zeigte sich nicht?

Wo war sie? – Wo hielt sie sich versteckt?

Fürbringer stand auf, das Taumeln seiner Knie niederzwingend; er rief – so laut er konnte: »Irene! Irene! –«

Aber seine Stimme hatte keinen Klang. Die ungeheure Erregung, die ihn gepackt hatte, würgte ihn an der Kehle, daß sein Rufen zu haschendem Röcheln wurde. Er riß sich das Hemd am Halse auf.

»Irene –!« schrie er mit der vollen Kraft seiner Lungen. Aber es war, als schrie er gegen ein dickes Tuch vor seinem Munde. Er hörte sich selber nicht, obgleich ihm beim Rufen die Adern an Hals und Schläfen anschwollen, als sollten sie gesprengt werden. Nur ein Flüstern kam ihm von den Lippen.

Und doch weckte dieses Flüstern ein vielfaches Echo rundum in der großartigen Einsamkeit und der Erhabenheit der Nacht. Hundert bleiche, große Säulen, die im Kreise standen, schienen an ihm zu erwachen und aufzuhorchen. Und sie raunten einander zu, was sie gehört hatten, daß ein tief seufzendes Flüstern durch ihre Reihen ging: Irene … Irene … Irene ..

Fürbringer griff sich mit beiden Händen nach dem Kopf. Wo bin ich denn? dachte er, Bin ich verrückt –?

Er begann zu laufen, blindlings in die blaue Dämmerung hinein, fühlte Stufen unter seinen Füßen, stolperte und fiel. Er raffte sich auf und zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen; rote Funken tanzten wie toll gewordene Stechmücken vor seinen Augen. Er lief eine Treppe hinab, die unter seinen Schritten zur Wolke wurde, die nicht standhielt, schwankte und wich.

Er schrie hinter festgeschlossenen Lippen – denn er hatte ein Grausen vor dem Echo: »Irene –! Irene –!« Aber sie antwortete ihm nicht.

Er erreichte eine Halle, die wie ein Garten war. Über ihr stand der Himmel breit entrollt. Ein ungewisses, zartes und kühles Licht überhauchte ihn, ohne sich der Erde zu schenken. Vielleicht, daß der junge Mond an der Grenze zwischen Himmel und Erde stand.

Inmitten der Halle war ein Brunnen lebendig. Ein feiner, sehr hoher Strahl stieg auf zu einer Säule dünngesponnenen Silbers, das klingend in ein Becken von dunklem Marmor fiel. Aus feuchtem Erdreich strebten Palmen auf und gaben ihre verzückten, weibischen Wedel dem Dunkel hin gleich Wesen, die sich rückwärts beugen und die Arme breiten.

Jenseits der Halle öffnete sich Gemach an Gemach, aber in keinem regte sich der Atem eines Menschen.

War der ganze Palast ausgestorben? War er, der Fremde, allein mit der gemauerten Leere? Allein mit dem Spuk einer Stimme, die ihn gerufen hatte, so wie Liebe ruft?

War dieser Ruf ein Zeichen gewesen, das einzige, das sie ihm zu geben wagte, und wartete sie nun darauf, daß er kommen, daß er sie suchen würde, bis er sie fand oder zusammenbrach?

Vielleicht schwieg sie nur, weil sein Antworten Gefahr brachte über sie und ihn.

Ich will nicht mehr rufen, dachte der Mann. Er blieb stehen und preßte sich den Schädel zwischen beiden Fäusten. Er atmete mit offenen Lippen, ins Leere starrend. Seine Gedanken rasten wie gepeitscht, und doch war jeder einzelne von unerhörter Schärfe, von einer marternden Klarheit. Aber keiner hielt dem Zugreifen stand.

Er sprach vor sich hin, mit der Feierlichkeit der Verzweiflung, halblaut und eintönig: »Ich beschwöre dich, meine Geliebte, wenn du in meiner Nähe bist – gib mir ein Zeichen, daß ich dich finden kann …«

Er schüttelte sich, die Lippen zerbeißend. Ich bin wahrhaftig auf dem besten Wege, ein Narr zu werden, dachte er.

Er sah sich um. In endloser Flucht reihte sich Gemach an Gemach, Halle an Halle, so weit er blicken konnte, eine marmorne Unaufhörlichkeit. Licht brannte überall. Totenstille herrschte. Die Einsamkeit der Verdammnis konnte nicht vollkommener sein.

Und über den Menschen, der in ihrer Mitte stand, kam die rüttelnde Versuchung, diese Totenstille, diese höllische Einsamkeit von Grund auf zu zerstören mit blutheißer Lebendigkeit seines Rufens. Es drängte ihn, die Nacht auftaumeln zu machen mit einem Namen, den er in sich gefangenhielt wie einen Brand, der ausbrechen mußte.

Er schrie, die Arme schüttelnd, gleich einem, der Ketten bricht: »Irene –!!«

Und er hörte, während er das Keuchen seiner Brust hinunterzwang, wie ihre Stimme ihm Antwort gab: »Da bin ich! Da bin ich –!«

Er wollte fragen: Wo –? Wo –?! Aber nur seine Lippen regten sich. Er griff mit beiden Händen ins Leere. Denn ganz am Ende des Säulenganges, der sich vor seinen Schritten öffnete, sah er die Gestalt einer Frau, kaum erkennbar, wie sie zwei Herzschläge lang im sanften Licht einer Ampel stand und gleitend zur Seite wich und verschwand.

Er wollte rufen, aber er rief nicht. Er rannte. Er lief in Sprüngen wie ein Hirsch auf der Flucht, erreichte die Stelle, wo die Frau gestanden hatte, blickte sich um, sah ihre gleitende, entweichende Gestalt eine schmale Treppe ersteigen und hastete nach den Stufen. Sie waren hoch, rauh und unregelmäßig und hatten kein Geländer.

Sie führten hinauf und hinab. Sie erklommen die Höhe des flachen Daches; als der Mann es betrat, sah er die Frau, der er nachfolgte, wie sie, ihm den Rücken wendend, schmal und zart, in ein nachschleppendes farbloses Kleid gehüllt, das der Wind bewegte, gegen die Sichel des tiefen Mondes stand, als wollte sie ihn betreten. Sie hob die Arme wie zu einem fremden, schwermütigen Gruß und verschwand jenseits des Daches gleich einem Hauch in die Tiefe.

Der Mann, der wie ein Wolf auf ihrer Fährte lag, spürte das Blut in seinen Ohren tosen. Er rannte, kam an das Ende des weiten, ebenen Daches, blickte in die Dunkelheit hinab, lief hin und her, die Stelle nicht findend, wo eine Treppe mündete. Zuletzt, da er sie entdeckte, nahm er die Stufen in stürzenden Sätzen; er rief nicht mehr; er keuchte. Er sah nicht, wohin er die Füße setzte. Seine Augen hingen, weit aufgerissen, in wütender Angst an der Frau, deren Gestalt verschwindend, bald wieder auftauchend, jetzt näher, jetzt ferner als jemals, ihm ewig unerreichbar blieb.

Einmal, da er sie aus den Augen verloren hatte, stand er plötzlich, eine Tür aufreißend, zwei Schritt vom Wasser des Sees, das unbewegt, dem Licht des Mondes eine Straße, zwischen seinen Ufern lag. Gegenüber, düster und unwirklich, ragten die Türme des Tores, durch das er vor kaum mehr als vierundzwanzig Stunden eingezogen war, während an seinem Wege die Elefanten niederknieten und die Fackeln ihre zuckenden Tänze tanzten.

Das alles war Ewigkeiten her.

Zwischen gestern und heute blähte sich der Aberwitz der Stunden.

Aber er wußte nun, wo er sich befand. Er hatte die Steine schon einmal unter den Füßen gehabt. Er konnte sich nicht mehr ins Sinnlose verwirren. Es galt nur nachzudenken – rechts? Links? Durch diesen Gang? Durch jenen –?

Doch ehe es ihm gelungen war, einen klaren Gedanken zu fassen, sah er, sich umwendend, keine hundert Schritt von sich entfernt, die Frau, auf deren Fährte er gehangen hatte, gleich einem Schattenbilde zwischen zwei Säulen stehen, selbst noch im Dunkeln, doch gegen ein von oben niederfallendes Licht sich zeichnend, in dem die Falten ihres Kleides zu schimmern begannen.

Sie hatte eine Hand gegen eine der Säulen gestemmt und ruhte aus, so wie der Mann ausruhte, den Kopf, von dem der Schleier rann, leicht aufgehoben, als horche sie hinter sich.

Der Mann konnte ihre Züge nicht erkennen; er sah nur die Linie, die von der Schläfe niederglitt zum Kinn. Aber diese Linie kannte er, als wäre sie ihm mit dem Stichel auf die Netzhaut gezeichnet worden.

»Irene«, sagte er, halb erwürgt von einer Erregung, fast ohne Laut, »wenn du nicht willst, daß ich vollends den Verstand verliere, dann gib mir Antwort! Warum hältst du mir nicht stand? Warum kommst du nicht zu mir? Bin ich schon ein Narr geworden in diesem verfluchten Lande?! Lebst du, oder bin ich ein Besessener, der hinter einem Gespenst herläuft?«

Die Frau schien nicht zu hören, daß er sprach. Sie rührte sich nicht. Aber als er eine Bewegung machte, um auf sie zuzugehen, glitt sie aus dem Dunkel hinaus in das Licht, das jenseits der Säulen lag, und dieses Licht war so stark, daß es ihre Gestalt zu einem fast nicht mehr Körperlichen, zu einer Erscheinung des Lichtes selbst auflöste.

Fürbringer schlug sich die Faust an die Stirn.

Ich bin also wahnsinnig –! dachte er. Seine Zähne knirschten aufeinander. Er stierte, ohne sich zu regen, hinter der Frau drein, die ihm lautlos entglitt.

Plötzlich schrie er auf, laut und gellend, riß sich von dem Boden los, in den er eingewurzelt schien, winkte mit beiden Armen, stürzte vorwärts und schrie:

»Nicht dorthin –! Nicht dorthin, Irene –!!«

Er hatte erkannt, daß die Frau dem Tore zuschritt, das den Hof der Tiger verschloß.

Sie hörte sein Schreien nicht.

Unaufhaltsam glitt sie weiter und erreichte das erzene Tor. Sie hob die Hände zu seinen Riegeln …

Dem Mann trat das Blut in die Augen. Er rief, aber er vernahm keinen Laut von seinen Lippen. Er rannte, aber der Marmor des Bodens schien saugender Sumpf geworden zu sein und knebelte ihm die Füße, daß er sie zu jedem Schritt mit aller Kraft befreien mußte.

Er rief den Namen seiner Frau mit der Wut der siedenden Angst, unaufhörlich schrie er nach ihr. Aber sie hörte nicht. Sie hatte die Hände erhoben, daß der dünne Schleier über ihre Arme zurückfiel, und schob den gewaltigen Riegel, der das Tor in seiner Mitte zusammenhielt, aus den eisernen Klammern.

Weit klaffend öffneten sich die Flügel des Tores; hinter ihnen lag die Dunkelheit. Diese Dunkelheit schluckte die Gestalt der Frau ein. Das Tor schloß sich hinter ihr lautlos, wie es sich geöffnet hatte. Und es stand hochaufgerichtet, mächtig und finster da, von keinem Licht getroffen.

Der Mann erreichte das Tor und fiel an ihm zu Boden. Es war, als wären ihm die Sehnen zerschnitten worden, als baumelten ihm die Glieder haltlos am Leibe. Mit einer übermenschlichen Anstrengung richtete er sich auf, tastete nach dem Riegel, packte ihn und riß an den Flügeln des Tores.

Sie rührten sich nicht.

Der Riegel war zurückgeschoben; das Tor besaß kein Schloß. Vor weniger als einer Minute hatte es sich aufgetan, mit schwer klaffenden Flügeln gestanden. Jetzt schien es nur ein Einziges zu sein, unteilbar, unerschütterlich, nicht ein Tor – eine Mauer aus Erz, aus einem Stück Erz gegossen.

Michael Fürbringer stemmte seine Schultern, seine Knie, seine Fäuste anstürmend gegen den eisernen Widerstand. Nicht das leiseste Zittern im Gefüge antwortete seiner rüttelnden Wut, einer Angst, die kein menschliches Maß mehr hatte.

Er hob seine blutigen Augen zum Himmel, den er nicht fand. Er schrie nicht mehr; aber der Name seiner Frau war in jedem Atemzug, der über seine röchelnden Lippen hastete.

Und zuletzt, da er seine Kräfte erschöpft hatte bis zur Grenze der Besinnungslosigkeit, brach er zusammen und lag vor dem riesenhaften schwarzen Tor, die Stirn auf den Steinen.

Als er den Kopf wieder hob, hatte er stumpfe Augen. Er sah sich um. Eine bleiche, graue Dämmerung herrschte unter den Säulen, die Hochgewölbtes trugen.

Michael Fürbringer stand auf. Er dachte nichts. Er fühlte nichts. Er ging sinnlos geradeaus, wo der Weg frei war, erreichte die Treppe und stieg sie hinauf und stand nach hundert Schritten vor der Tür seines Wohnzimmers.

Er ging hinein und brachte die Willenskraft nicht auf, sie hinter sich zu schließen. Er trat in sein Schlafzimmer, warf sich in den Kleidern aufs Bett und lag mit tauben Gliedern. Er schloß die Augen, und sein Einschlafen war wie Sterben.

Ihm folgte tiefstes Nichts …


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