Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Bombardier Schmoller spazierte in dem kleinen Wirtshause mit allen Zeichen der Ungeduld ziemlich genau in der Richtung von Ost nach West und umgekehrt, während in dem Ordonnanzzimmer im Hause des Obersten dieser ebenfalls mit allen Zeichen der Ungeduld, die Hände auf dem Rücken, von Nord nach Süd und umgekehrt hin und her schritt, so also auch in dieser Hinsicht und Richtung die Wünsche des eben genannten Bombardiers rechtwinklig durchschneidend.
Was Erich anbelangte, so war er ziemlich bei der Wahrheit geblieben, mit einziger Ausnahme, daß er vom Cirkus hinweg einen Sprung in die Stube Schmollers machte, weil er sich gefürchtet habe, sein eigenes Zimmer zu betreten, was allerdings richtig war; dann aber sei er einstweilen vorausgegangen, den Bombardier erwartend, der ihn ins Arrestlokal führen solle, und deshalb auch so langsam und träumerisch durch die Straßen geschlichen. So weit wäre alles gut gegangen, und der Brigadeadjutant, der kein böser Mensch war, hatte, wie er gern in Momenten des Erstaunens zu thun pflegte, die Hände kreuzweise auf seinen dünnen Leib übereinander gelegt und schaute nun den Oberst mit einem Gesichte an, welches je nach Umständen ebenso eines gemütlichen Lächelns als eines finsteren Grolles fähig war. Doch schien ein paar Sekunden lang die Gemütlichkeit die Oberhand gewinnen zu wollen, denn der Oberst brummte etwas vor sich hin von verfluchten Kerls, von allerdings sehr unüberlegten und dummen Streichen, die er aber verzeihen könne, wenn nichts Gemeines und Schlechtes mit unterliefe und wenn kein Frevel geschehe gegen allerhöchste Anordnungen Seiner Majestät des Königs bei den letzten Worten lüftete er wie gewöhnlich seinen Helm, nach irgend etwas Unsichtbarem hin salutierend.
»Aberrrrr hören Sie, Herr Hauptmann von Lindenbaum,« schrie er auf einmal mit erneuerter Wut, »ick globe, diese Geschichte verwickelt sich doch aufs Standrechtliche! Schauen Sie mir einmal den Säbel dieses nichtsnutzigen Flederwischs an! Bin ick blind geworden oder sehe ick mit meinen beiden erstaunten Augen, dat diese Kreatur, die ohnedies mit keinem Säbel geschmückt sein sollte, gar das Portepee der Avancierten trägt sehe ick in der That recht, Herr Hauptmann von Lindenbaum? Bitte, unterstützen Sie meine schwachen Augen, denn ick möchte mir, was dieses anbelangt, nicht irren!«
»Es ist so, Herr Oberst,« antwortete der Brigadeadjutant förmlich schaudernd.
»Und nun, he! und nun, Er Millionenhund von einem Brigadeschüler, wie kann Er sich unterstehen, dat Portepee zu tragen, dat Seine Majestät der König« mit abermaligem Salutieren des Helmes »für solche erschaffen, die durch Fleiß, gute Aufführung, Kenntnisse und vor allem durch Ordnung etwas in der Welt geworden sind! Rede Er, aber mit Vorbedacht, daß Er alles später vor dem Standrechte so wiederholt, wie Er es hier vor Seinem Oberst aussagt rede Er!«
Nun geriet aber Erich auf dem abschüssigen Pfade des Lügens durch diesen neuen Anstoß immer tiefer hinein, und als er erzählt, der Bombardier, der zurückgeblieben sei, habe ihm seinen Säbel zum Tragen gegeben und er denselben eigentlich unbewußt umgehängt, fühlte er wohl, daß ihm die Flut bis an den Hals ginge und er unter dem Drucke der zornigen Augen des Obersten, sowie der finsteren Blicke des tief erschütterten Brigadeadjutanten nur noch mühsam nach Atem schnappen konnte.
Der Oberst war durch die ungeheure Schuld äußerlich wenigstens ruhiger geworden und ging überlegend mit dröhnenden Schritten hin und her, wobei er aber in Wirklichkeit einer auf dem Boden dahinrollenden Kugel glich, die beim ersten Hindernisse, welches sie berührt, wieder in einem hohen Bogen durch die Luft davongeht. Und dieses Hindernis, welches sich ihm darbot, war der unglückliche Schmoller selbst, den er bei einem Blicke durchs Fenster spähend an der Ecke des Platzes stehen sah. Diesem Unglücklichen war die Zeit zu lang geworden, er hatte sich auf Schleich- und Kreuzwegen vorgewagt, um nach Erich zu sehen, und hatte klugerweise zu einem Lauerposten jene Ecke, wo er stand, ausgesucht, von wo er drei Straßen übersehen konnte, auf deren einer Erich unfehlbar erscheinen mußte. Da ereilte ihn das Verhängnis in Gestalt einer der Ordonnanzen des Obersten, ein ordentlicher Kerl und guter Kamerad, und dieses Verhängnis sprach zu ihm in dumpfem Tone: »Bombardier Schmoller, es ist das eine verflucht wüste, Suppe, die ihr euch eingebrockt habt! Da drinnen ist der junge Freiberg von der Brigadeschule, und ich bin beauftragt, dich ebenfalls dahin zu bringen!«
An ein Ausreißen war nicht zu denken, ebensowenig an ein ferneres Leugnen, und Schmoller, der keinen vernünftigen Grund dafür anzugeben wußte, warum er dort an der Ecke herumgelungert, anstatt seinem Arrestanten augenblicklich nachzugehen, sagte zum Schrecken Erichs insofern die Wahrheit, als er erzählte, er habe gestern abend seinen Säbel in einem Hause vergessen und den jungen Freiberg gebeten, ihm denselben zu holen.
Bei dieser neuen Verwickelung arbeiteten die Arme des Obersten wie zwei wahnsinnig gewordene Windmühlenflügel, offenbar in dem Bestreben, sich diese unerhörten Frevel auch nur einigermaßen klar und faßlich zu machen. Da ihm aber dies nicht zu gelingen schien, er auch die Unthat für zu groß halten mochte, um hier noch ein Wort weiter zu verlieren, so schlug er mit der Faust auf den Schreibtisch der Ordonnanz und befahl, sogleich einen Arrestzettel zu schreiben für den Bombardier Schmoller, einen jener faulen Schreiberknechte, welche unserem Herrgott die Zeit und dem königlichen Aerar Tinte und Papier abstehlen, sowie für den Brigadeschüler Freiberg, einen unverbesserlichen Taugenichts, und zwar für Untersuchungshaft, auf Befehl des Obersten. »Melden Sie dat auch dem Hauptmann Wetter, damit er erkennt, welche Schwefelbande er zu kommandieren die Ehre hat, und dann treffen Sie alle Einleitungen, Herr Hauptmann Lindenbaum, dat diese Angelegenheit ihren richtigen Weg geht!« Nach diesen Worten ging er, ohne die beiden Verbrecher eines ferneren Blickes zu würdigen, und der Brigadeadjutant folgte ihm, nachdem er rasch den verhängnisvollen Zettel unterschrieben.
Und da waren sie nun wieder auf demselben Wege wie gestern abend, nur mit dem kleinen Unterschiede, daß Schmoller mitleidend eingetreten war und daß sich die Halle des heiligen Augustin jetzt ohne die mindeste Schwierigkeit gastfreundlich für sie öffnete. Ein Trost war es noch, daß ihnen ein gemeinschaftliches Zimmer angewiesen wurde, in welchem sich zwei allerdings ärmliche Betten befanden, sowie ein Ofen, der nach Verlauf einer halben Stunde eine spärliche Wärme verbreitete, von der übrigens beide nichts merkten, denn jeder hatte sich auf sein Bett geworfen, jeder hatte sein Gesicht der Wand zugekehrt und jeder war alsbald eingeschlafen.
So hatten sie ein artiges Duett in den Tag hineingeschnarcht, und es mochte um die Mittagsstunde sein, als Schmoller durch Erwachen, nach vorhergegangenem langen Recken und Gähnen, wieder in dieses jetzt so freudlose Leben eintrat, und bald nach ihm sah sich auch Erich, durch einige tief ausgestoßene Seufzer erweckt, ebenfalls dem gleichen freudlosen Dasein zurückgegeben freudlos in dem Bewußtsein ihrer Gefangenschaft und eines hungrigen Magens, aus welch letzterem Grunde denn auch der Bombardier nach kurzer Zeit sein Bett mit einer heftigen Bewegung verlieh und, im Zimmer hin und her rennend, einen wahrhaft ergreifenden Monolog hielt, der sich nur zuweilen in einen Dialog verwandelte, wenn nämlich Erich, wie zuweilen geschah, Bemerkungen einwarf, wie zum Beispiel, daß er noch niemals gehört habe, die im Untersuchungsarreste Befindlichen seien auch zugleich zum Hungertode verdammt.
»Hat sich was vom Hungertode,« knurrte ihn Schmoller an; »aber es ist auch nicht besser, wochenlang mit Menagesuppe und Kommißbrot geätzt zu werden, und das sehe ich schaudernd vor mir oder hast du vielleicht Geld, um für uns aus irgend einem benachbarten Gasthofe ein anständiges Essen holen zu lassen?«
»Sonderbare Frage für dich, der du meine Verhältnisse kennst.«
»Nein, ich kenne deine Verhältnisse durchaus nicht, fürchte aber, ich habe mich in dir getäuscht.«
»Wie so, Schmoller?«
»Nun, nachdem ich aus deiner gestrigen Aufführung im Cirkus ein anständig solides Verhältnis mit jener wie heißt sie denn gleich? voraussetzte, ein lukratives Verhältnis, das sogar imstande ist, eine harte Gefangenschaft einigermaßen zu versüßen.«
»Ja, darin hast du dich allerdings in mir und in meinem Verhältnisse getäuscht,« gab Erich kurz zur Antwort, während der andere fortfuhr, in dem kleinen Zimmer hin und her zu rennen und um zuweilen einen Blick an den grauen Himmel hinzuwerfen, wie um Gerechtigkeit zu verlangen für das Unrecht, welches ihm hienieden geschah.
»O Lisette,« seufzte er, »ohne diese unglückselige Brieftasche würde es genügen, dich unter Beteuerung meiner fortdauernden treuen Liebe von meinem Aufenthalte in Kenntnis zu setzen! Ja, lache nur. ich habe in der That schöne Gefühle für sie gehegt:
Ich habe sie geliebt und liebe sie noch.
Und stürzte der Erdball zusammen «
Er hatte den Kopf gegen den Fensterrahmen gestützt und ließ eine ziemliche Zeit vergehen, ehe er den Schluß jener Strophe von sich gab:
»Aus seinen Trümmern stiegen doch
Hervor meiner Liebe Flammen!«
Auch deklamierte er nicht mit der Innigkeit im Ausdrucke, wie es wohl jene feurigen Worte verdienen; ja, er trennte das Wort Flammen so auffallend voneinander, daß Erich, aufmerksam geworden, sich nicht enthalten konnte, nach ihm hinzuschauen, worauf er alsdann bemerkte, daß der Bombardier, am Fenster stehend, einen süß lächelnden Blick mit schmachtendem Augenaufschlage in den kleinen Gefängnishof hinabwarf.
»Und gesetzt auch,« fuhr Erich fort, nachdem er sich wieder auf sein Bett ausgedehnt, »du hättest noch volle Berechtigung, sie von deiner Kerkerhaft in Kenntnis zu setzen, wie wolltest du das zuwege bringen?«
»O, es gibt überall fühlende Herzen,« antwortete Schmoller mit weichem Tone, »und gute Wesen, die jedes armen Gefangenen Unglück zu lindern vermögen! Doch horch, die Riegel unseres Kerkers klirren, es wird unser Mittagessen sein.«
Und so war es auch in der That, wenn anders die irdene Schüssel, mit Menagesuppe gefüllt, diesen Namen verdiente. Es war dies ein steifer, ungenießbarer Brei, zusammengesetzt aus gekochten Erbsen, Kartoffeln und einigen spärlichen Stücken borstigen Schweinefleisches, und hatte derselbe durch den Transport über die kalte Straße oben eine solche zähe Haut angesetzt, daß der Löffel, den der Bombardier verachtungsvoll hineinstieß, aufrecht stehen blieb. Und dabei hatten sie nicht einmal den Trost, von dem Kanonier, der das Essen aus der Kaserne gebracht, bedient zu werden, der ihnen vielleicht Neuigkeiten erzählt oder entgegengenommen hätte, sondern der ernste, brummige Gefängniswärter in eigener Person stellte die Schüssel auf den Tisch, legte zwei im Verhältnis zur Suppe sehr appetitlich aussehende Kommißbrote daneben und entfernte sich mit dem Wunsche einer gesegneten Mahlzeit.
»Hast du denn gar nichts von Geldeswelt, oder was des Versetzens würdig wäre?« fragte Schmoller mit kummervollem Blicke.
»Nicht ein Geschmeide, nicht einen Ring,
Meine liebe Buhle damit zu zieren?
O Freiberg, wir sitzen erbärmlich in der Patsche, abgesehen von dieser trostlosen Untersuchungshaft, die allein schon imstande ist, uns elend herabzubringen wer weiß, was uns darauf später blüht! Mich anlangend, so bin ich überzeugt, daß der Brigadeschreiber, dieses boshafte Tier, mein curriculum vitae mit Pfeffer und Salz einreibt, und daß dich der Hauptmann Wetter, so gut er auch sein mag, gegen den Willen des Obersten doch nicht durchschlüpfen läßt, darauf darfst du Gift nehmen!«
»Gut, nehmen wir etwas Gift darauf,« erwiderte Erich, indem er mit dem Löffel in die Schüssel fuhr und einiges von dem kalten, jetzt doppelt geschmacklosen Brei hinunterwürgte. Dann sagte er, nachdem er sein Mittagessen durch ein Stück von dem nahrhaften Kommißbrote beendigt: »Und ich bin der schlaflosen Nacht recht dankbar für die Müdigkeit, die noch immer in meinen Gliedern liegt, und will den Versuch machen, noch während ein paar Stunden das Versäumte nachzuholen.«
»Woran du sehr unrecht thust, denn wenn alsdann der dunkle, langweilige Abend kommt, kannst du nimmer schlafen.«
»Dann erzählen wir uns Gespenstergeschichten, das heißt nachdem wir zu Nacht gespeist.«
»O weh, o weh!« Der Bombardier trat abermals an das Fenster, legte den Arm gegen den Fensterrahmen und seinen Kopf mit einem melancholischen Ausdrucke darauf, während sich Erich wieder auf sein Bett warf, um wenn auch nicht zu schlafen, so doch über den gestrigen Tag nachzudenken. Als er aber das Gesicht der Wand zukehrte, fühlte er etwas in seiner Brusttasche knittern und besann sich sogleich, daß dies das Papier sei, welches gestern abend vor dem Hause der armen Ticzka aufgehoben; doch vergegenwärtigte ihm das so die traurige Lage, in der er das unglückliche Mädchen verlassen, und ließ ihn so innig, so schmerzlich, ja, so reuevoll an sie denken, daß er sein Gesicht in das Kissen drückte und so eine Zeit lang in schmerzlichster Aufregung {bild} liegen blieb. An etwas anderes zu denken, schien ihm eine Sünde zu sein, und wenn die Erinnerung an den heutigen Morgen je einmal den Versuch machte, vor ihn hinzutreten, so flehte er die guten Augen der Kolma um Schutz an und erinnerte sich mit tiefer Wehmut ihres kindlichen Geplauders, das sie mit ihm, ihrer lieben Puppe, gehalten. Und wie rasch hat diese liebe Puppe alles das vergessen! Nein, nicht vergessen aus freien Stücken, aber man hatte ein heißes, betäubendes Vergessen über sie ausgegossen, dem sie erlegen war und unter welchem sie, so oft sie daran denken mußte, schmerzlich leidend aufstöhnte; und sie wollte nicht mehr daran denken, wenigstens jetzt nicht, wo so viel Unangenehmes und Tolles durch ihren Kopf fuhr, wo sie die kahlen Mauern der Gefängniszelle ohnedies trostlos genug anblickte. Deshalb zog er das Papier aus seiner Brieftasche hervor und betrachtete es. Es war ein großes Couvert mit einem Siegel, das aber nicht von ihm und nicht durch Zufall aufgerissen war und welches er überschrieben fand: »An Seine Erlaucht den Grafen Seefeld. Eigenhändig.«
Unten in der linken Ecke, unter einem geschwungenen Striche sehr klein geschrieben, stand der Name des Sekretärs Renaud. Hätte Erich dieses Couvert nicht gerade da gefunden, wo er es fand, und nach dem, was vorgefallen war, so würde er wahrscheinlich den Versuch gemacht haben, es unbewußt dem Verlierer wieder zuzustellen, ja, er hätte das trotz alledem auch dann gethan, wenn er sich auf freiem Fuße befunden; so aber konnte er sich nach allerdings längerem Ueberlegen nicht zurückhalten, die Papiere, welche im Couvert waren, näher anzuschauen, dabei aber in der festen Absicht, sie ungelesen wieder zusammenzustecken, sobald sie sich, wie er nicht anders erwartete, auf Geschäftliches bezögen.
Es waren drei einfach zusammengelegte Briefe, sowie ein mit zwei Siegeln verschlossenes Couvert in ein besonderes Papier gewickelt, auf dem flüchtig geschrieben die Worte standen: »Gut und sicher zu deponieren.« Schon die ersten Zeilen des ersten Briefes, die er las, das Datum desselben verscheuchten jenen guten Vorsatz und ließen seine Augen mit größtem Interesse über die Zeilen fliegen.
Der Sekretär des alten Grafen Seefeld meldete in jenem ersten Briefe, welcher schon über zwei Jahre alt und genau aus jener Zeit war, wo Erich, der Wilddieberei verdächtig, nach der Waldburg gebracht worden, daß er die Zigeuner, die noch in derselben Nacht das Schloß verlassen hätten, nicht aus den Augen verlieren würde und daß es ihm gelungen sei, einen von der Truppe durch eine allerdings beträchtliche Summe zu gewinnen. der ihm versprochen, ihn von Zeit zu Zeit von dem Aufenthaltsorte derselben zu benachrichtigen.... »Was die kranke Frau anbetrifft, so wurde derselben auf Befehl der Frau Gräfin ein Zimmer im Schloßflügel angewiesen und Doktor Herbert wußte sie zu bestimmen, eine Zeit lang da zu bleiben, bis sich ihr sehr gefährlicher Krankheitszustand wieder etwas gemildert; von einer völligen Genesung konnte übrigens keine Rede sein, da sie an einem vernachlässigten, unheilbaren Brustübel litt, und war es überhaupt schwer, sie längere Zeit da zu halten, da sie, wie alle Kranken ähnlicher Art, durchaus nicht krank zu sein glaubte und ihre tiefe Erschöpfung nur einem vorübergehenden leichteren Unwohlsein zuschrieb.
»Die Frau Gräfin, deren oft eigentümliche excentrische Träume Eurer Erlaucht wohl bekannt sind, sorgte selbst aufs angelegentlichste für sie, und man mußte es geschehen lassen, daß sie täglich mehrere Stunden lang bei der Kranken und deren Tochter blieb. Hatte sie es doch aufs strengste verboten, dem Herrn Grafen über den Aufenthalt der kranken Frau im Schlosse Mitteilungen zu machen, ein Befehl, der bei der bekannten Anhänglichkeit der Beamten und Dienerschaft an die Person der Frau Gräfin aufs genaueste erfüllt wurde. Daß Doktor Herbert diese Verheimlichung aufs eifrigste befürwortete und betrieb, versteht sich von selbst, und Euer Erlaucht können versichert sein, daß es mir keine kleine Mühe machte, nur ein paarmal zu der Kranken gelassen zu werden. Ich fand in ihr eine junge Frau von vielleicht achtundzwanzig bis dreißig Jahren, mit Spuren großer Schönheit, natürlich verwischt durch ihren leidenden Zustand, dabei von einer Bildung, die wohl meine Verwunderung rechtfertigen konnte, sie in einer Lebensstellung zu sehen, die so gar nicht dazu paßte. Ob sie in dieser Richtung der Frau Gräfin oder dem Doktor Herbert Konfidenzen gemacht, kann ich natürlicherweise nicht sagen; mir erzeigte sie wahrlich kein Vertrauen, ja, meine Besuche, so spärlich sie auch waren, schienen ihr unangenehm zu sein, ein Gefühl, welches auch das kleine Mädchen gegen mich durchdrang, wobei es förmlich lächerlich war, welches Ansehen sich dieselbe unbedeutende Person zu geben versuchte ja, ich hätte beinahe gesagt, gab. Sowie sie mich das Zimmer betreten sah, und trotzdem ich in der That gern gelacht hätte, so lag doch etwas in dem strengen Ausdrucke dieses eigentümlichen Gesichtes, was mich unwillkürlich abhielt, ihr zuweilen spaßhaft meine Meinung zu sagen, wenn sie, wie sie zu thun pflegte, mitten im Zimmer stehend, mich anstarrte, leicht mit dem Kopfe nickend, als teile sie Gnaden aus, und dann mit ihren ernsten, fast düsteren Blicken, ohne ein Wort zu reden, allen meinen Bewegungen folgte, bis ich wieder hinausgegangen war.
»Euer Erlaucht werden aus diesen mehr als notwendigen Worten, welche ich über dieselbe blonde Zigeunerin verschwendet, ersehen, daß dieses junge Wesen, so bizarr und lächerlich es sich auch benahm, doch einen eigentümlichen Eindruck auf mich hervorbrachte, und bitte deshalb um Entschuldigung, sie hier erwähnt zu haben. Daß sie Doktor Herbert aus Oppositions- und Widerspruchsgeist charmant fand, brauche ich wohl nicht hinzuzufügen; auch fand er sie höchst mitteilsam, er, wohl der einzige im ganzen Schlosse, und versicherte auch, sie habe eine reizende Stimme zum Singen. Letzteres bewies mir noch am deutlichsten, daß dieser große Gelehrte bemüht war, sich über uns kleine, unwissende Leute lustig zu machen, denn von den Bedienten und der Kammerfrau Ihrer Erlaucht erfuhr ich, daß sich die Kleine vor ihm ebenso schweigsam und finster gezeigt und daß man von ihr nur höchst selten einen singenden Ton gehört, und zwar ein melancholisches Gesumme des bekannten Liedes: Marlborough s'en va-t-en guerre.«
So war der wesentliche Inhalt des ersten Schreibens, welches sich in dem Couvert befand. Und nachdem Erich dasselbe durchflogen, warf er verstohlen einen Blick auf seinen Leidensgefährten, durch welchen er aber zu seiner Zufriedenheit wahrnahm, daß sich Schmoller auf eine allerdings etwas eigentümliche Art mit Dingen zu beschäftigen schien, welche außerhalb der gemeinschaftlichen Kerkersphäre lagen. Er hatte beide Hände auf das Fensterbrett gestützt und blickte holdselig lächelnd auf den Hof hinunter, blies zuweilen seine Backen auf, spitzte auch wohl seinen Mund und schaute einigemal mit einem sehr affektierten Augenaufschlage gen Himmel, wobei er alsdann mit seiner rechten Hand gegen die linke Brust schlug, aber letzteres durchaus nicht mit dem Gesichtsausdrucke, als bereue er alte Sünden, sondern vielmehr, als sei er im Begriffe, die Einleitung zu neuen zu treffen.
Da Erichs Bett beim Herumwerfen krachte, so blickte der Bombardier um und sagte in gleichgültigem Tone: »Wahrscheinlich liest du Liebesbriefe.«
»Und du konzipierst welche.«
»Vielleicht,« war die durch einen Seufzer einigermaßen verwischte Antwort, »denn sie scheint jung und schön zu sein.«
Erich nahm unterdessen den zweiten Brief vor, in welchem Herr Renaud meldete, daß er in Erfahrung gebracht, die schöne Esmeralda habe die Zigeunerbande verlassen, und er sei aber noch nicht imstande gewesen, ihre Spur wieder aufzufinden.
»Solange sie bei den anderen war,« schrieb Herr Renaud, »gab mir der Zigeuner, den ich gewonnen, häufig und immer gute Nachrichten; nachdem sie aber verschwunden, versicherte er mir achselzuckend, keine Macht der Erde sei imstande, etwas aus ihm herauszubringen, was er selbst nicht wisse. Doch habe ich bereits andere Fäden angeknüpft und hoffe, nächstens imstande zu sein, Ihnen Auskunft über die Verschwundene zu geben.
»Es interessiert Ew. Erlaucht vielleicht, zu erfahren, daß die Frau Gräfin, wie ich ganz genau weiß, noch immer, wenn auch sehr im geheimen, in das Schicksal des kleinen blonden Zigeunermädchens handelnd eingreift. Dieses hatte sich mit seiner Mutter, welche jedoch inzwischen starb, ebenfalls von den Zigeunern getrennt, und gerade in diesem Faktum glaube ich das edle, wohlwollende und uneigennützige Herz der Frau Gräfin zu entdecken.« Die Worte »wohlwollend« und »uneigennützig« waren zweimal unterstrichen. »Gewiß, daß sie Ursache hatte oder zu haben glaubte, sich um das fernere Schicksal dieses jungen Mädchens zu bekümmern. Sollte Ew. Erlaucht es, wie ich, für notwendig halten, hierüber zu Gewißheit zu kommen, so will ich dazu den Versuch mit allen Mitteln machen.«
Der dritte Brief, welcher wieder mehrere Monate später geschrieben war, behandelte ganz andere Interessen, als die verschwundene Esmeralda oder das kleine blonde Zigeunermädchen obgleich von letzterem insofern die Rede war, als der Briefschreiber sagte, ebensosehr als er die feste Ueberzeugung habe, daß die Frau Gräfin den Aufenthalt der kleinen Zigeunerin wisse, ja, daß sie sich völlig ihrer angenommen habe, ebensowenig sei er selbst imstande gewesen, etwas über derselben Aufenthaltsort zu erfahren.
Doch war das alles im Vorübergehen, sozusagen in Parenthese, bemerkt, und der Hauptinhalt des Briefes betraf eine Erkrankung des Herrn Christian Kurt, die aber so ernstlich war, daß die Courierpferde Tag und Nacht gesattelt im Stalle standen, die Leute dabei, mit einem Fuße im Bügel, leider vergebens; und hieran knüpfte sich die unglaublichste Geschichte, die sich seit zehn Jahren auf der Waldburg zutrug.
»Die Frau Gräfin und Doktor Herbert wußten es nämlich möglich zu machen, den Herrn Grafen zu bestimmen, daß er seinen alten feindlichen Nachbar, den Bauerndoktor Burbus, von der Mühle zu einer Konsultation in das Schloß holen ließ. Und als er kam, als er durch das Vorzimmer ging und mich und andere unter seinen buschigen Augenbrauen mit einem so eigentümlichen und doch beinahe wohlwollenden Lächeln unter einer hastigen und kurzen Verbeugung grüßte, sagte ich zu dem Kammerdiener: Da wird sich jemand bei uns einbürgern, der manchem unbequem ist! Dazu mußte es sich denn auch noch fügen, daß sich Herr Christian Kurt, wenige Tage nachdem Doktor Burbus bei ihm gewesen war, nicht nur bedeutend besser fühlte, sondern sich auch entschloß, sein Bett früher zu verlassen, als er bisher gethan, da ihm der Doktor Burbus gesagt: Schauen mich Ew. Erlaucht an, ich bin beinahe ebenso alt, wie Sie, und wenn ich vielleicht frischer aussehe und mich leichter bewege, so kommt das wahrscheinlich nur davon her, daß ich, anstatt meinen Körper in der Bettwärme zu ermatten und anstatt Medizin zu nehmen, früh morgens und spät abends frische Luft kneipe. Solche Ausdrücke erlaubte er sich und wurden dieselben zu unserm größten Erstaunen von Sr. Erlaucht mit beifälligem Lächeln angehört. O, dieser Burbus ist ein alter, schlauer Fuchs! Neulich, an einem allerdings schönen Tage, überredete er Herrn Christian Kurt zu einer Spazierfahrt und brachte ihn nach jener bekannten Linde, d. h. zu der Stelle, wo sich jene Linde befunden, denn dieselbe war mit Z T umgehauen und an der Stelle befand sich eine behagliche Ruhebank, wo sich Se. Erlaucht nicht nur lachend niederließ, sondern huldvollst das Prozeßobjekt von damals, die bewußte Schlucht, zum Geschenke annahm, ein Geschenk, das er allerdings am anderen Tage dadurch vergalt, daß er den großen Wiesenkomplex oberhalb der Waldmühle auf den Namen des Doktors Burbus schreiben ließ, wobei ich allerdings zur Ehre desselben nicht vergessen darf hinzuzufügen, daß er von dem Rentamtmann die Ueberlassung der ihm notwendigen Wiesen annahm, aber nur gegen Erlegung des Anschlages, woran man meinetwegen, sagte er, den Wert jener Schlucht, wenn es der Herr Graf nicht anders thun will, abziehen kann. Da ich aus diesen, sowie aus ähnlichen, allerdings sehr uneigennützig aussehenden Geschichten die Ueberzeugung gewonnen habe, daß Doktor Burbus keine Aussichten auf dergleichen Vorteile zu bestimmen scheinen, die Freundschaft ich kann dieses Verhältnis bei dem besten Willen nicht anders benennen des Herrn Christian Kurt zu kultivieren, jener schlaue Alte dagegen gewiß nicht ohne triftigen Grund an der ausgeworfenen Angel des Doktors Herbert angebissen hat, einer Angel, deren Stiel sich nota bene in den Händen der Frau Gräfin befindet, so heißt es hier allen seinen Scharfsinn zusammennehmen, um gewiß auch im Interesse Ew. Erlaucht das Positive zu erfahren. Sollten mir Ew. Erlaucht darüber Verhaltungsbefehle zu geben haben, so wäre ich dafür sehr dankbar.«
Eine Nachschrift dieses Briefes besagte, daß Doktor Burbus, um Herrn Christian Kurt zu unterhalten, ihm seinen, des Doktors, eigentümlichen Lebenslauf erzählt, und daß dagegen der alte Herr Graf, sehr gegen seine sonstige Gewohnheit, auch dem Doktor einiges von seinen, des Grafen, früheren Verhältnissen mitgeteilt. Wörtlich fügte Herr Renaud die Frage bei:
»Gäbe es irgend etwas im vergangenen Leben des Herrn Kurt, was Ew. Erlaucht unbekannt wäre, was aber für die Frau Gräfin oder für andere Interesse hätte? Da ich das Glück habe, Ew. Erlaucht zu den bevorstehenden Jagden erwarten zu dürfen, so werden Ew. Erlaucht vielleicht die Gnade haben, mir zu gestatten, Ihnen mündlich noch Näheres und Wichtigeres mitzuteilen.«
Das war der Inhalt der drei Briefe, welche der Graf Dagobert Seefeld, von den Jagden auf der Waldburg zurückkehrend, bei sich getragen und beim Herabgleiten vom Fenster der Ticzka verlor. Was mochte wohl das kleine, doppelt verschlossene Couvert enthalten, welches mit der schriftlichen Weisung bei den Briefen lag, es gut und sicher zu deponieren? Hatte er ein Recht oder war nur ein halbwegs triftiger Entschuldigungsgrund zu finden, wenn er dieses Siegel erbrach? Nein, gewiß nicht! Was konnte er auch zu finden hoffen? Gewiß wenig mehr und nicht viel Interessanteres, als den Inhalt der drei Schreiben.
Für Erich hatten die Briefe nur insofern Interesse, als er sich freute, zu erfahren, daß die unangenehmen Streitigkeiten zwischen dem Grafen und dem Doktor Burbus beseitigt, wobei er sich nicht enthalten konnte, lächelnd darüber nachzudenken, wie ihm selbst, wenn dieses Verhältnis früher eingetreten wäre, dadurch allerdings eine unangenehme Nacht erspart worden, er aber auch alsdann die Bekanntschaft Kolmas nicht erneuert und nicht von dieser erfahren, daß damals die kleine Blanda die eigentliche Ursache von seiner Befreiung gewesen war.
Dadurch, sowie auch durch das, was er aus den Briefen gelesen, trat ihm das Bild jenes kleinen, ernsten Mädchens wieder so deutlich vor die Seele, daß, wenn er jetzt seine Augen mit der Hand bedeckt, die nächtliche Scene auf dem Gemeindewasen bei Zwingenberg, wo sie ihm zum Abschiede mit der Hand gewinkt, gerade so vor ihm erschien, als sei das gestern abend gewesen, statt daß schon zwei Jahre darüber hingegangen waren. Und wo mochte sich dieses arme Geschöpf jetzt befinden? Es war vielleicht zu Grunde gegangen, nachdem seine Mutter gestorben, es verdiente vielleicht sein elendes Brot bei irgend einer anderen Gauklerbande, nachdem es sich von den Zigeunern getrennt; es wuchs, es reifte heran, aber wahrscheinlich nicht zur duftigen Blüte, sondern vielleicht zur geistig verkrüppelten Blume, mit dem zerstörenden Wurme im Kelche. Was Erich nicht begreifen konnte, war, daß die Ticzka, die doch selbst in glänzenden Verhältnissen lebte, sich ihres Lieblings, wie sie Blanda nannte, nicht angenommen. Ach, die schöne, unglückliche Ticzka, die vielleicht jetzt sterbend auf ihrem Lager ruhte oder sogar schon gestorben war eine martervolle Ungewißheit, welche ihm mehr als alles andere sein Gefängnis zur verzweiflungsvollen Qual machte!
Erich sprang rasch auf und durchmaß den kleinen Raum mit hastigen Schritten, mußte aber trotz der trüben, traurigen Gedanken, die ihn bestürmten, unwillkürlich staunend stehen bleiben, als er Schmoller betrachtete, der sich immer noch am Fenster aufhielt, jetzt sehr eigentümlich beschäftigt. Er hatte nämlich, leicht und, wie er sich einbildete, höchst elegant am Fenster lehnend, die Kohlenschaufel nach Art einer Guitarre oder Mandoline vor seine Brust genommen, und während er hierzu die nötigen Fingerbewegungen machte, bewegte er, aufwärts blickend, seine Lippen wie zu einem innigen Liede. Ja als Erich näher trat und ihn verwundert anblickte, ließ er sich durchaus nicht stören, sondern sagte nur in kleinen, taktmäßigen Intervallen:
»Du, Kamel, siehst's allerdings nicht ein, daß ich mich auch für dich damit abplage! Da drunten, an dem Fenster gegenüber, habe ich eine empfindsame Schöne, eigentlich zwei empfindsame Schönen, entdeckt; wahrscheinlich Kerkermeisters Töchterlein mit einer Gespielin. Das mit Recht vermute ich, weil die letztere soeben erst gekommen ist und nach einiger Nötigung ihren Hut abgelegt. Du siehst, wie wunderbar ich kombiniere!«
»Ja, aber bis jetzt noch unverständlich für mich!«
»Begreiflich, weil du nie weiter siehst, als deine Nase reicht!«
»So erkläre mir deine tiefsinnigen Kombinationen!« antwortete Erich, trotz seiner trüben Gedanken beinahe lächelnd, denn Schmoller sah gar so komisch aus, während er sprach, da er seine prosaischen Worte mit so begeisterten Blicken begleitete, welche an den grauen Winterhimmel gerichtet waren und nur zuweilen nach hochgeschwellter Brust für einen Augenblick herabsanken zu Kerkermeisters Töchterlein.
»Das könnte ein Schaf einsehen!« sagte er jetzt. »Wir haben da unten eine jedenfalls gefühlvolle Seele, ein gelangweiltes weibliches Wesen, welches nicht abgeneigt scheint, mit einem Gefangenen, wie ich bin, weißt du, einem hübschen jungen Bombardier Untersuchungshaft unter pikanten, erschwerenden Umständen, geheimnisvolle nächtliche Unthat, verlorener Säbel, Arrestation durch den Obersten selbst, alles das hat sie unbedingt schon längst erfahren , die, wie ich wiederhole, nicht abgeneigt scheint, eine kleine Kerkerliebschaft einzugehen, vorderhand allerdings nur per Distance, aber das andere findet sich.«
»Unschuldige Frage! Vor allem, um durch sie mit der Außenwelt in Verbindung zu treten. Meinst du, ich wolle hier wochenlang Menagebrei und Kommißsuppe fressen? Und es wird wochenlang dauern, darauf kannst du dich verlassen! Ich habe {bild} vor, irgendwie, wo, weiß ich allerdings noch nicht, eine kleine Anleihe zu machen, und wenn es dir vielleicht gefällig wäre, hier bei meiner Fensterpantomime handelnd einzutreten, so werde ich dich auch später an dem Ergebnis derselben teilnehmen lassen. Natürlicherweise nimmst du die Gespielin über dich, die auch nicht übel ist.«
»Meinetwegen, was habe ich zu thun?«
»Du trittst an meine Seite, ohne aber vorderhand hinüberzuschauen, und lehnst dich mit gesenktem Haupte an meine Schulter, so, als wenn du meinem wehmütigen Gesange lauschtest.«
»Deinem Gesange mit Ofenschaufelbegleitung!«
»Dann schaust du plötzlich auf, scheinst entzückt, begeistert, legst darauf wie geblendet, deine Hand vor die Augen, worauf ich dich aus Zartgefühl schleunigst entferne.«
»Gut, ist dir mein Aussehen recht?«
»Es ist ordentlich. Jetzt sprich zu mir: Aber, Schmoller, das sind ein paar wunderhübsche Mädchen ah, der Teufel! Gut; jetzt die Blendung vor die Augen, nun die Blendung fort, schieße ein paar mörderische Blicke hinüber, und dann verschwinde!«
Vielleicht war der Eindruck, den dies alles auf die beiden jungen Mädchen gegenüber machte, doch nicht ganz so, wie ihn Herr Schmoller erwartet; sie schienen lustig aufzulachen, um aber hierauf von dem Fenster zu verschwinden.
»Aller Anfang ist schwer,« meinte der Bombardier achselzuckend, indem er die eiserne Schaufel wieder in das Kohlenbecken warf; »doch sind ja einzelne Tropfen imstande, den Stein auszuhöhlen, warum solche Blicke nicht ein Mädchenherz? Ja, aller Anfang ist schwer, auch in diesem garstigen Untersuchungsarrest, und obgleich es erst vier Uhr sein kann, so ist es mir gerade, als wären wir schon ein Jahr in diesem verdammten Loche; auch fängt es schon an, dämmerig zu werden, und wie wir diesen ersten langen Abend und diese eiste lange Nacht ohne Licht und Bücher herumbringen werden, davon habe ich noch keinen rechten Begriff. Morgen werden wir zur Abwechslung ein Verhör haben, und will ich dabei, wie ich mir vorgenommen, etwas wie Melancholie, wie Zerstreutheit, ja, wie Geistesabwesenheit heucheln, um wenigstens Bücher und Licht herauszuschlagen. Ach, Erich,« fuhr er nach einer Pause, tief aufatmend, fort, »dieser Kontrast, gestern und heute!«
»So warst du in der That gestern so glücklich?«
»O, über alle Beschreibung! Bis die Katastrophe eintrat, bis ich entfliehen mußte, mit leichtsinniger Nichtachtung nachlässig angebrachter Fleischhaken ah, das schmerzt!«
»Wie, der Fleischhaken oder der Kontrast?«
»Dummer Kerl, der Kontrast! Aber von so etwas hast du ja gar keine Idee, du, der sich mit beschränktem Horizonte, wie des Färbers Gaul im Ringe, herumtreibt!«
»Jawohl, jawohl!« erwiderte Erich aufseufzend. »Doch,« sagte er nach einer ziemlich langen Pause, während Schmoller schweigend hin und her geschritten war, »glaubst du wohl, daß unser Kerkermeister mir eine Frage beantworten wird?«
»Danach sie ist,« gab er mürrisch zur Antwort, sagte aber gleich darauf, stehen bleibend, mit lebhafterem Ausdrucke: »Deshalb möchte ich ja gerade da drüben anbandeln, um nicht von der Außenwelt so trostlos geschieden zu sein. Was möchtest du denn eigentlich fragen?«
»Ob die Kunstreiter heute abend eine Vorstellung geben und ob....«
»Die berühmte Ticzka mitwirkt. Das kann ich dir allenfalls beantworten.«
»Du? So sprich, ich bitte dich!«
»Du nimmst ein gewaltiges Interesse daran; doch ich bin nicht hartherzig, noch viel weniger von Neid erfüllt. Als ich heute morgen so ungebührlich lange auf dich warten mußte, dort in jener kleinen Kneipe, las ich den Zettel der Kunstreiter für heute abend; allerdings ist Vorstellung, aber ohne die Ticzka, die sich, wie es ausdrücklich hieß, einer leichten Verletzung wegen für einige Tage schonen muß.«
»Einer leichten Verletzung wegen? Gott sei es gedankt!«
»Höre, Erich,« sagte der andere, indem er mit gespreizten Beinen und einem mißtrauischen Blicke vor ihm stehen blieb, »du nimmst wirklich ein ungewöhnliches Interesse an dieser Kunstreiterin hast du sie vielleicht selbst verletzt?«
»Dummes Zeug! Ich kenne sie nur sehr oberflächlich, ich glaube, ich habe dir von unserer Begegnung vor Jahren erzählt.« »Nein, das hast du nicht, Duckmäuser!«
»Es ist auch so wenig des Erzählens wert, daß ich mich in der That wunderte, als sie mich gestern abend wieder erkannte.«
»Und dann?« forschte Schmoller weiter.
»Nun, und dann? Was willst du mit dem: Und dann?«
»Dann hast du sie gestern abend nicht wieder gesehen?«
»Nein,« erwiderte Erich mit Festigkeit, »sonst würde ich ja vielleicht wissen, daß sie verletzt worden sei!«
»Höre, Bürschlein,« gab Schmoller mit aufgehobenem Zeigefinger zur Antwort, »ich fange an zu glauben, daß ich mich in dir gewaltig geirrt habe und daß du ein arger Geselle und schlechter Kamerad bist; denn sonst würdest du keine solche Streiche machen und sie nicht vor deinem besten Freunde verheimlichen wollen! Ich dachte mir schon gestern abend im Cirkus: dieser Freiberg hat mehr Glück, als Ver gnügen. Oder hast du vielleicht beides gestern abend ausgestanden? Schau um dich her,« fuhr er mit komischem Pathos fort, unsere Kerkerzelle füllt sich mit dem zweifelhaften Scheine des herabsinkenden Abends.
Stern der dämmernden Nacht,
Schön funkelst du im Westen.
Wie könnte es etwas Traulicheres geben, als jetzt eine angenehme Erzählung deiner erlebten Abenteuer von gestern abend! Komm, wir wollen unsere Kommißbetten besteigen, und du erzählst mir das, lullst mich dadurch vielleicht in sanften Schlummer willst du?«
»Nein, Schmoller, das ist mir unmöglich; ich wüßte nichts, das interessant genug wäre, um dir zur Unterhaltung zu dienen.«
»Geh, du bist ein Heuchler! Aber nichtsdestoweniger werde ich mich aufs Bett legen, und wenn du dich irgendwie nützlich machen willst, so trabe auf und ab, wenn der Kerkermeister erscheint, und sage alsdann, ich hätte verdächtige Leibschmerzen, einen Zustand, der mich zuweilen befiele und der am besten durch Bier und Wein zu kurieren sei.«
»Vielleicht erweicht sich sein Herz und er läßt sich anpumpen; doch ist das immerhin zweifelhaft,« fuhr er nach einer Weile, ausgestreckt, auf dem Bette, fort, »und deshalb sei so gut und wirf mir das Kommißbrot herüber. O Gott, wer mir ein solches Lied an meiner Wiege vorgesungen hätte, an meiner Wiege, wo meine hochverehrte Mutter, die Frau von Schmoller, mich lächelnd betrachtete, sobald mein respektabler Vater, der Herr von Schmoller, sie gefragt: Wie befindet sich Ludwig, der Stolz der Familie? O, o, und nun in Ketten und Banden, ausgestoßen von der Welt, mit dem Abschaum der Menschheit zusammengeschmiedet was du indessen nicht auf dich beziehen mußt, Erich, es ist nur so eine poetische Floskel allein allein allein unter Larven die einzige fühlende Brust!«
Da wurden die Riegel zurückgeschoben, da rasselte der Schlüssel im Schlosse, da öffnete sich die Thür, und der Gefangenenwärter trat mit einer Laterne herein, deren Schein die beiden Gefangenen so blendete, daß sie augenblicklich nicht sehen konnten, wer ihm folgte, und um so mehr überrascht waren, als sie nun die Stimme des jungen Flattich erkannten, der ihnen lustig einen »Guten Abend« bot und dann sagte:
»Ich konnte es nicht unterlassen, noch heute zu euch zu kommen, um euch anzuzeigen, daß eure so verdrießlich erscheinende Geschichte heute beim Appell eine unerwartet gute Wendung genommen; der Oberst selbst hat ich glaube indessen sehr, auf Zureden des guten Hauptmanns Wetter einen Brigadebefehl heruntergelangen lassen, worin er sagt, da es von jeher sein Grundsatz gewesen sei, einen leichtsinnigen Streich gelinde anzusehen, wenn nur kein Vergehen im Dienste oder etwas Unehrenhaftes mit unterlaufen sei, so wollte er die ganze Geschichte niedergeschlagen haben; da auch, wie bekannt, seine Brigade und die ihm anvertraute Brigadeschule nur durch drei Sachen in Ordnung gehalten werden könne ...«
»Das ist erstens Ordnung,« sagte Schmoller.
»Und zweitens Ordnung,« lachte Freiberg.
»Und drittens Ordnung,« fügte der junge Flattich hinzu »so müsse er nur dieser Ordnung wegen auf einer exemplarischen Strafe, aber ohne Stand- und Kriegsrecht, für euch de stehen.«
»O weh, o weh, ich sehe acht Tage Mittelarrest!«
»Macht elf Tage zu meinen dreien, die ich schon habe.«
»Dieses Mal habt ihr euch getäuscht und könnt niederknieen und der heiligen Barbara, der Schutzpatronin gesamter Artillerie, irgend etwas zum Danke versprechen; es ist dieses Mal von gar keinem Arrest die Rede.«
»Hurra!« schrie Schmoller, von seinem Bette auffahrend.
»Aber doch etwas, das dem Freiberg vielleicht sehr unangenehm ist. Du, Schmoller, bist als räudiges Schaf aus den heiligen Hallen der Brigadeschreibstube verstoßen.«
»Hurra zum zweitenmal!«
»Und kommst zur Festungscompagnie nach der Residenz.«
»Hurra zum drittenmal! Ich achte und liebe den Festungsartilleriedienst, er ist harmlos und bequem Gott segne den Oberst!«
»Und ich?« fragte Erich beklommen.
»Du thust mir leid, armer Kerl, aber es ist doch nicht so schlimm, wie du wohl glauben magst; du bist von der Brigadeschule entlassen.«
»O, mein Gott, das thut mir weh!«
»Laß mich doch ausreden! Bis auf weiteres entlassen und ebenfalls nach der Residenz versetzt.«
»Also nicht weggeschickt? Aaah!«
»Nach der Residenz versetzt zu der dort befindlichen reitenden Batterie.«
»Schrei Hurra!« rief Schmoller. »Denke dir, aus der Schulstube, von den staubigen Büchern hinweg, zu einer reitenden Batterie!«
»Und« ergänzte der junge Flattich in einer feierlichen Miene, ja, mit einem Anfluge von Rührung »als Bombardier!«
»Hurra!« schrie nun auch Erich, und »Hurra!« brüllte Schmoller, und »Hurra!« rief Flattich, was aber zusammen einen so gewaltigen Spektakel gab, daß der Gefängniswärter, der sich zurückgezogen hatte, hereinlief, um sich nach diesem ungebührlichen Lärm in den Hallen des heiligen Augustin zu erkundigen. Doch wußte ihn Flattich durch einige passende Worte und auch sonst durch noch etwas zu besänftigen, daß er nicht nur seine Laterne da ließ, sondern auch den jungen Flattich selbst der allerdings zu einem Besuche bei den Gefangenen schriftlich autorisiert war und obendrein noch versprach, diesen nach zwei Stunden aus dem Arrestlokale zu lassen.
Dann brachte Flattich aus der linken Tasche seines Mantels eine halbe Flasche Rum zum Vorschein, aus der rechten aber ein Fläschchen Spiritus und ein altes Kochgeschirr, und da in dem Lokale ein Wasserkrug und ein Glas vorhanden waren, so saßen alle drei nach kurzer Zeit um eine famose Grogbowle herum und freuten sich ihres Lebens, wobei Schmoller nur allein bedauerte, daß es ihm jetzt nicht mehr möglich sei, das so famos angeknüpfte kleine Verhältnis mit den jungen Mädchen drüben zu einem erfreulichen Resultate heranwachsen zu lassen.