Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8. Kapitel

Worin mancher der geneigten Leser einen Bekannten aus früheren Jahren wiederfindet.

Erich war noch lange in wacher Träumerei an dem Meilensteine sitzen geblieben und seine Phantasie beschäftigte sich lebhaft mit dem soeben gesehenen, aufregend malerischen Schauspiele. Ah, jetzt begriff er es wohl und erst recht wieder, daß sein Vater so mit Liebe und Enthusiasmus von jener Zeit erzählen mochte, wo er als Geschützführer ein Glied, und zwar ein kleines, bildete in jener buntfarbig glänzenden Kette, die soeben vor seinem gierigen Auge vorübergezogen war und mit deren Einzelheiten er sich noch immer beschäftigte! Dann blickte er seufzend an seinem langen schwarzen Rocke hinunter und beklagte es tief, daß er sich durch Herrn Schmelzer dahin hatte bringen lassen, statt sein Glück in den Reihen jener lustigen, glänzenden Gesellen zu versuchen, zahm unterzutauchen in dem Alltäglichsten, was das alltägliche Leben uns bieten könnte. Damals, im ersten Anlaufe, wäre es ihm vielleicht noch gelungen, bei jener Batterie als Freiwilliger angenommen zu werden, in welcher der Name seines Vaters noch einen so guten Klang hatte, damals, frisch vom Hause weg; wenn er sich gemeldet hätte mit der alten Dienstmütze seines Vaters auf dem Kopfe, die hinter einem alten Schranke neben einem rostigen Säbel hing, und wenn er zu dem betreffenden Hauptmann« gesagt hätte: »Mein Vater ist tot, ich bin ein Soldatenkind und will wieder Soldat werden« – damals noch, in der kurzen, grauen Juppe, in der er sich in Feld und Wald herumtrieb. Wenn er dagegen jetzt kam, in dem ehrbaren schwarzen Schulmeistersrocke, und auf die Frage »Woher?« von seiner verunglückten Lehrerlaufbahn berichten mußte, wobei es nun natürlich so herauskam, als wollte er jetzt nichts Anderes und Besseres wissen oder als ein junger, angehender Thunichtgut zum Kalbfelle schwören, so konnte er es dem Hauptmanne von der Artillerie – natürlich war es der mit dem roten Barte von vorhin, welcher jetzt in seinen Träumen eine Hauptrolle spielte – nicht übelnehmen, wenn er ihm zur Antwort gab: »Bleiben Sie lieber bei dem, was Sie zuerst ergriffen; der Lehrstand und Wehrstand passen nicht gut zusammen.«

Erich war ratlos und tief betrübt, ja, es gab einen Augenblick, wo er sich fragte, ob es nicht am Ende besser wäre, nach Zwingenberg zurückzukehren, um zu versuchen, ob er nicht wenigstens so lange dort bleiben könne, bis ihm Herr Schmelzer geschrieben und ihm vielleicht eine andere Stelle verschafft hätte. Doch nein, tausendmal nein! Es erschien ihm als unmöglich, wieder zurückzukehren in jene Verhältnisse, jene Umgebung, die ihm jetzt als noch einmal so drückend, ja, als unerträglich vorkamen, nachdem soeben in dem frischen militärischen Lehen ein so schönes, herrliches, glänzendes Bild durch seine Seele gezogen war. Er verließ die Chaussee und hatte nach einer halbstündigen Wanderung die Königsbronner Mühle erreicht. Es war ein großes, stattliches Gebäude, das Haus, wo der Müller wohnte und wo sich die Mühlwerke befanden, dicht an eine steile Felswand geschmiegt, wo in einer halb natürlichen, halb künstlichen Wasserrinne ein mächtiger Waldbach aus einem schmalen Seitenthale hervortrat mit so ungebändigter Jugendkraft, daß es ihm ein Leichtes war, vier gewaltige Räder zu treiben. Gegenüber dem Hause lagen Ökonomiegebäude, Scheune, Stallungen, vor welchen das Abwasser der Mühlwerke einen ziemlichen Teich mit schönem, klarem Wasser bildete, dessen Überfluß erst jetzt als ruhig strömender Bach nach Zwingenberg hinabfloß. Auf dem Teiche und dessen Ufern trieb sich eine zahlreiche Geflügelwelt schnatternd und gackernd umher. Die Räder der Mühle standen still, denn es war um die Mittagszeit, und Erich scheute sich fast, gerade jetzt einzutreten. Doch blieb ihm keine Wahl, denn der große Hund des Müllers schlug so laut an, daß der älteste Sohn des Hauses unter die Thür trat und ihm freundlich mit der Hand winkte, näher zu kommen.

»Das hat sich gut getroffen,« sagte der alte Müller, als Erich in die Stube trat; »mir scheint, eine dicke Nudelsuppe mit einem guten Huhne darin ist Ihre Lieblingsspeise, und wenn das auch nicht der Fall wäre, so haben wir noch etwas anderes, mit dem Sie fürlieb nehmen müssen – es ist gern gegeben.«

Es wurde ein Teller für den Gast aufgesetzt, und da er wußte, wie es der alte Müller gern hatte, so griff er herzhaft zu, als ihm die vortreffliche Suppe mit einem tüchtigen Stücke schneeweißen Huhns vorgelegt worden war.

An dem großen viereckigen Tische war die ganze Familie versammelt, lauter gesunde, schöne, kräftige Menschen, obenan der alte Müller mit seinem weißen Haar und buschigen Augenbrauen über den klaren, durchdringenden Augen, deren Ernst übrigens, sobald er zu sprechen anfing, dadurch gemildert wurde, daß sich alsdann, mit wenigen Ausnahmen, ein freundliches, fast schalkhaftes Lächeln auf seinen Lippen zeigte. Natürlich war er das Haupt der Familie und der unumschränkte Herr im Hause, letzteres um so mehr, da seine Frau schon vor Jahren, bei der Geburt ihres jüngsten Sohnes, den wir bereits in Erichs Schule kennen lernten, gestorben war und die älteste Tochter Rosine, ein kräftiges Mädchen von vielleicht dreißig Jahren, dem Hauswesen vorstand. Rechts und links vom Müller saßen seine beiden Söhne Johannes und Gottfried, der erste älter, der zweite jünger als die Schwester, und unten am Tische, neben dem kleinen Friedrich, eine alte Anverwandte, Jungfer Lene, gewissermaßen das Faktotum des Hauses, die sich gern mit Träumeauslegen und Prophezeiungen abgab und dadurch den alten Müller stets veranlaßte, gerade von dem, wie sie im Schlafe oder im Kaffeesatze gesehen haben wollte, das Gegenteil zu thun.

Alles in dem Zimmer, die alten, aber soliden Möbel, das feine Tischzeug mit dem schweren, gediegenen Porzellanservice, zeugte eben von Wohlhabenheit, und war alles einfach, aber im höchsten Grade reinlich, und doch sah man auch Luxusmöbel in dem weiten, geräumigen Gemache, dessen Decke sowie der untere Teil der Wände aus Holzvertäfelung bestand, die vor Alter dunkelbraun geworden war. So ein sehr bequemer Lehnstuhl neben dem großen Kachelofen und in der Ecke des Zimmers ein verschlossener Glasschrank mit einer Sammlung reich und stattlich aussehender Gewehre und anderer Jagdgerätschaften. Die fast städtische Kleidung des Müllers ist uns schon von früher her bekannt, und ebenso, obgleich sehr einfach, trug sie auch Rosine, während Gottfried, der jüngere Sohn des Hauses, in einem schmucken Jagdanzuge wie gerade aus der Residenz gekommen zu sein schien. Johannes allein zeigte an seinem weiß bestaubten Haar sowie an Mehlflecken auf seiner Jacke, die allerdings auch von gutem Tuche war, die Spuren der Arbeit.

Nachdem die Mahlzeit beendigt war und Jungfer Lene den kleinen Friedrich fortgeschickt hatte unter dem Vorwande, er müsse den Katzen Heu aufstecken, lehnte sich der alte Müller in seinen Stuhl zurück und reichte Erich seine Hand, indem er sagte: »Jetzt heiße ich Sie noch einmal willkommen, Herr Provisor, und will auch jetzt gern hören, daß es nicht nur für ein einfaches Mittagessen ist, weshalb Sie zu uns kamen, sondern daß Sie eine Zeitlang hier bleiben wollen; da helfen keine Einwendungen, die Rosine wird eine Wohnung für Sie besorgen, zu der es bei uns wahrlich an Platz nicht fehlt.«

»Dagegen will ich auch gar keine Einwendungen machen, sondern ehrlich gestehen, daß ich hergekommen bin mit der Bitte, ob Sie mich nicht ein paar Tage dabehalten wollen. Es ist drüben in Zwingenberg ein neuer Lehrer eingezogen, und der Herr Pfarrer findet, daß ein Gehilfe für denselben unnötig sei. Er hat mir deshalb angezeigt, daß ich das Schulhaus je eher je lieber räumen möge.«

»Und der Lehrer war derselben Ansicht? Ist er verheiratet, hat er starke Familie?«

»Er machte keine Miene, mich zu halten. Wie ich glaube, ist er ledig; auch würde ich mich gar nicht geniert haben, denn der Pfarrer, an den er Empfehlungsbriefe hatte, lud ihn ein, in dem Pfarrhause zu wohnen, bis die Lehrerwohnung wieder in einen guten Stand gesetzt worden sei.«

»So, so – pfeift der Wind aus dem Loche? Nun, dann bekommen wir entweder etwas ganz außerordentlich Gediegenes oder einen Hauptlumpen! Waren die Empfehlungsschreiben an ihn oder an sie?«

»An die Pfarrerin, wie ich glaube.«

»Na, da wissen wir schon Bescheid; seien Sie aber froh, daß Sie drunten weg sind. Ehrlich gesagt, in Ihrem Gesichte steht geschrieben, daß sie nicht zum Schulmeister passen. Ich verstehe das; Sie schauen viel zu frei in die Welt hinaus und können Ihre Augen nicht zur gehörigen Zeit niederschlagen .... So, er hat Empfehlungsschreiben an die Pfarrerin! Dann wird diese am Ende bedauern, daß Fräulein Selma versorgt ist. Nun, mich geht's weiter nichts an. Also vor der Hand bleiben Sie hier, und wir wollen zu Ihrer Ankunft ein Glas Guten trinken. Jungfer Barbara,« fuhr er mit einem schalkhaften Lächeln und einem eigentümlichen Aufblitzen seiner Augen fort, »holen Sie mir eine Flasche von dem Gewissen.«

»Gern, Herr Vetter,« gab die alte Anverwandte zur Antwort, sagte aber darauf mit einem leichten Achselzucken: »Der Herr Provisor könnte denken, daß ich wirklich Barbara heiße, und doch ist mein Name – Lene – Jungfer Lene . ...«

»Ganz richtig, Jungfer Lene, und wir werden das nicht vergessen; aber ich muß Ihnen wiederholt versichern, Jungfer Lene, daß Sie so sehr etwas von einer Jungfer Barbara an sich hat, die ich früher einmal gekannt, daß mir der Name zuweilen unwillkürlich aus dem Mund kommt! Nix für ungut!«

Jungfer Lene brachte gleich darauf die Flasche, aber von einer anderen Sorte, als der Müller gewünscht, »weil,« sagte sie mit großer Wichtigkeit und aufgehobenem Zeigefinger, »um die Flaschen, von denen Ihr gewollt, eine Spinne ihre Fäden gezogen, so daß man nichts herausnehmen konnte, ohne das Gewebe zu zerreißen, und das bringt Unglück, wenn man mit solchem Weine jemandes Willkommen trinkt.«

»Dann hat die Lene recht,« versetzte der Müller mit großer Wichtigkeit, »und darum bitte ich Sie, diese eine Flasche wieder hinunterzutragen und dafür zwei von den anderen heraufzuholen, dann wird's nimmer schaden.«

Die zwei Flaschen kamen denn auch und wurden von dem Müller, von Gottfried und von dem Gaste geleert, während Johannes in die Mühle gegangen war und sich die beiden Frauenzimmer zu ihren häuslichen Geschäften entfernt hatten.

Dann erzählte Erich von dem Manöver, welches er heute morgen mit angesehen, sowie auch, auf welche Art er die reitende Batterie vor dem Überfalle der roten Husaren gewarnt und wie er dadurch mit einem der Kavallerieoffiziere, den die anderen Graf Seefeld genannt, in Wortwechsel geraten.

»Ah, das ist der!« rief der alte Müller, indem er mit den Fingern einen Marsch auf dem Tisch trommelte. »Ja, ich glaub's wohl, einer von der Sorte, mit denen schlecht Kirschen essen ist, die des festen Glaubens sind, daß die Welt nur allein für sie da ist und daß alle anderen Menschen nur deshalb vorhanden, um ihnen auf die Köpfe zu treten, wenn's angeht – einer von denen, für die der Mensch erst beim Baron anfängt! Blaues Blut, blaues Blut!«

»Kennen Sie die Familie Seefeld, Herr Burbus?«

»Ob ich sie kenne! Drüben in dem Schöneichenwalde sind wir Nachbarn. Ich werde Sie einmal da hinaufführen; es ist lehrreich. Da haben die Seefeld einmal vor Jahren gegen alles klare Recht mit meinem Schwiegervater und mit mir einen Prozeß angefangen wegen einer an sich unfruchtbaren Schlucht, die aber einen vortrefflichen Wildwechsel hat. Sie behaupteten, die Schlucht gehöre ihnen; wir bewiesen ihnen aus Dokumenten das Gegenteil und gewannen auch nach hartem Streite den Prozeß. Dazumal waren alle Nachbarn erstaunt, daß wir gemeinen Leute es überhaupt gewagt, mit dem vornehmen Grafen zu prozessieren, ja, es waren unter diesen Nachbarn Subjekte genug, die uns aus dem Wege gingen. Aber wir gewannen den Prozeß, die Schlucht blieb unser und noch eine mächtige, hundertjährige Linde auf dem anderen Ufer, ein Baum, für den uns die Holzhändler schon öfter eine Masse Geld geboten; aber sie steht noch da und wird hoffentlich auch stehen bleiben, solange meine Kinder und Kindeskinder die Mühle im Besitze haben.«

Der alte Müller lächelte vergnügt vor sich hin und trommelte stärker auf dem Tische, als er nach einer Pause sagte: »Damals, als ich noch jünger war, hatte ich noch heißeres Blut und war zu lustigen Streichen aufgelegt, weshalb ich denn auch die alte Linde zu einem Denkmale unseres Sieges machte und in die Linde auf der anderen Seite ein elegantes Z und T einhieb – zum Trutz, wie es heißen sollte und wie sie es auch verstanden. Freilich sagte mir einmal einer der Jäger von drüben, es wäre schade, wenn ein so schöner Baum einmal anfing zu kränkeln oder einginge, oder wenn er einmal durch Unvorsichtigkeit vom Feuer verzehrt würde, worauf ich ihm zur Antwort gab, das müsse man dem Himmel anheimstellen, der ebensogut einzelne Bäume verdorren oder verbrennen lassen könne als ganze Wälder bei einem soliden Nordwinde; das verstand er und ging davon.«

»Und jener Husarenoffizier ist der Sohn des Grafen Seefeld?« fragte Erich.

»O nein, er ist der Sohn eines jüngeren Bruders desselben, der aber schon lange tot ist, wurde indes von dem jetzigen alten Grafen adoptiert und wird einstens der Erbe des ganzen, ungeheuren Vermögens!«

»So hat der jetzige Besitzer keine Kinder?«

»Nein, war auch bis vor fünf oder sechs Jahren unverheiratet, ein alter Junggeselle, der nur zur Jagdzeit hierher kam, sonst aber in der Residenz lebte oder auf weiten Reisen in Italien, Frankreich und England sich befand. Und wie hat er gelebt! Wenn der nicht von seinem Vater und seiner Mutter neben Millionen eine unverwüstliche Gesundheit geerbt hätte, so müßte schon lange gar nichts mehr von ihm da sein! Freilich ist er auch jetzt nur noch der Schatten von einem Menschen, aber der lebt trotz alledem immer noch in den Tag hinein – in die Nacht hinein, sollte ich eigentlich sagen, denn am Tage schläft oder ruht er und wird erst mit den Fledermäusen lebendig, um alsdann erst wieder beim letzten Hahnenschrei in sein Bett zu kriechen. Dabei hat er noch, wie ich vorhin andeutete, vor fünf oder sechs Jahren geheiratet, und zwar eine junge, wenige zwanzig Jahre alte Dame, ebenfalls eine Gräfin Seefeld, damit auch deren Vermögen wieder bei der Familie bliebe. Diese junge Dame sollte oder wollte einen jüdischen Baron heiraten, was dem alten Grafen als eine solche Abnormität erschien, daß er sich selbst opferte, wie er sagte, um die erlauchte Familie vor einer solchen Mesalliance zu bewahren. – Doch was gehen uns diese Geschichten an! Gratulieren können Sie sich übrigens, daß der junge Graf trotz alledem heute morgen bei guter Laune war oder sonst durch etwas abgehalten wurde, sonst würde er sich nichts daraus gemacht haben, Sie wirklich von Ihrem Meilensteine herabzufuchteln.«

»Und das hätte allerdings ein großes Unglück geben können,« erwiderte Erich, finster vor sich niederblickend.

»Denken wir nicht mehr daran,« fuhr der alte Müller heiter fort; »trinken wir unseren guten Wein und loben Gott, daß wir so gestellt sind, um nicht jene Kreise berühren zu müssen.«

Doch konnten Erichs Gedanken noch nicht so bald wieder loskommen von dem blassen, unangenehmen Gesichte des Husarenoffiziers mit dem verächtlichen Zucken um den Mund, und er sagte nachdenkend: »Nun hoffentlich werde ich ihm in diesem Leben nicht mehr begegnen, wüßte nicht, wie sich unsere Fahrt kreuzen sollte.«

»O, das könnte, denk' ich mir, ganz leicht geschehen, wenn Sie, wie ich hoffe, eine Zeitlang bei uns bleiben; denn der junge Graf, dem es durch sein kolossales Vermögen auch nicht an der Liebe und Achtung seiner Vorgesetzten fehlt, verbringt einen guten Teil der Jahreszeit hier draußen bei seinem Onkel und Vormund, welcher selbst vom Anfange des Mai meistens bis Ende Dezember auf seinem Schlosse verweilt. Und das ist die einzige respektable Seite, die ich an ihm kenne, hat mir auch immer zu denken gegeben, daß, wenn man ihn in seiner Jugend zu besseren Dingen angehalten hätte, als allein zum Reiten, Fahren und Jagen – wissen Sie, die anderen Götter, Bacchus und Venus, kommen von selbst dazu – so hätte etwas Gescheites aus ihm werden können; denn Liebe zu der schönen Natur kann man ihm nicht absprechen, und wo die einmal ist, da ist auch nebenbei ein fruchtbares Feld, auf dem sich das Nützlichste und Beste ansäen läßt. Auch Sie haben Liebe zur Natur, das sehe ich an dem Glanze Ihrer Augen, mit dem Sie mich gerade jetzt anhören.«

»Gewiß, und es sind meine schönsten Erinnerungen, die an Wald und Feld, an den klaren Himmel, an den Gesang der Vögel, besonders an den Schlag der Lerche.«

»Na, das will bei Ihrer Jugend und Ihrem bißchen Erfahrung noch sehr wenig heißen!« lachte der Müller. »Aber sehen Sie mich einmal an, mich trieb es aus der engen, dumpfen Stadt wieder hinaus in Gottes freie Natur, unter den Dom von Bäumen, den sich der Schöpfer selber aufgebaut so hoch da droben, wie es in einem schönen Liede heißt – und das, nachdem ich zwanzig Jahre dort zugebracht, unter meinen Mitbürgern eine ehrenvolle Stellung eingenommen, eine Stellung, in der ich mir Vermögen erworben und in der ich, wie ich mit Stolz sagen kann, manches Gute gewirkt. Und aber trotz alledem fehlte uns immer etwas da drinnen, mir und meinem guten Weibe, und wenn wir in unserer behaglichen Wohnung saßen, selbst im Winter, wenn der Schnee unter den Rädern der Wagen knirschte oder der Sturmwind an der Ecke des Hauses brüllte, so erinnerten wir uns trotz der weichen Teppiche, auf denen wir gingen, trotz des flackernden Kaminfeuers und trotz der hell erleuchteten Straße so gern und lebhaft an die weite, freie Schneelandschaft da draußen, an die mächtigen Bäume, die jetzt allerdings mit dürren Ästen im Winde so geheimnisvoll rauschten, an den schäumenden Bach, der an einem hellen Wintersonnentage so unvergeßlich blinkte und strahlte, ja, an die Eiszapfen des alten Mühlenwehrs, die im Winkel hinter den großen Rädern eine Riesenorgel von Eiskrystallen bildeten, zwischen welchen der Wind auch keine schlechte Melodie pfiff!«

»Ah, Sie erinnerten sich alles dessen! So waren Sie früher auch auf dem Lande?«

»Das will ich meinen! Geboren und in den ersten Jahren erzogen, und zwar in derselben Mühle, in der wir jetzt sitzen; allerdings nicht unter dem gleichen Dache, denn das war damals etwas baufällig und von Stroh.

»Wir Alten aber,« fuhr der Müller nach einer Pause fort, während welcher er ein Glas Wein behaglich ausgetrunken, »hätten der Kinder wegen diese Sehnsucht wahrscheinlich niedergekämpft, bis man uns den hölzernen Frack angezogen und dann allerdings auf andere Art der Natur zurückgegeben hätte. Aber gerade die Kinder waren es, die dabei den Ausschlag gaben, denn auf sie, auf die Buben nämlich, waren die Neigungen der beiderseitigen Großväter übergegangen – Müller vom reinsten Wasser, denn auch meine Frau, meine gute Sibylle, war eine Müllerstochter.

»Johann, der Ältere, warf sich mit Leidenschaft auf die Mechanik, hauptsächlich auf den Mühlenbau, und der da, der Gottfried, wurde Land- und Forstwirt, besonders das letztere, wie Sie an seiner grauen Juppe bemerken werden, sowie an dem Jägerhute dort mit der Spielhahnfeder, und auch an der Gewehrsammlung in der Ecke, die sein specielles Eigentum ist. »Da wurde plötzlich diese alte Mühle, die schon längst in andere Hände übergegangen war, dem Verkaufe ausgeboten, und nicht nur diese allein, sondern auch ein benachbarter Bauernhof mit einem außerordentlich großen und sehr schönen Areal von Fruchtfeldern und Wald, weshalb ich zu meiner Alten sagte: ›Die Mühle will ich kaufen und daraus einen Sommeraufenthalt für uns beide machen.‹ Denn damals hatte ich schon vor, meine städtische Praxis zu vermindern. Bei dem Worte ›Praxis‹ sehen Sie mich erstaunt an; ja, ich habe in meiner Jugend allerlei gelernt, wie Sie später hören werden. Meiner Frau war es recht, daß ich die Mühle kaufte, aber nicht nur diese, sondern den Bauernhof dazu unter der Hand, und hatte ich daran sehr klug gethan, denn unsere Nachbarn, die Seefelds, ließen mir, als sie von dem Kaufe hörten, einen tüchtigen Nutzen bieten, wenn ich ihnen die Grundstücke abtreten wolle. Ich aber sagte quod non und legte dadurch allerdings den Grund zur Verstimmung gegen mich, die dann auch unter anderem zum Ausbruche kam bei dem früher erwähnten Prozesse um die Schlucht. Mit diesem Kaufe übrigens hatte ich einen Anker hier ausgeworfen, der unser Lebensschiff langsam aus seiner Bahn zog und hierher dirigierte.

»Zuerst war es Johannes, der sich in das alte Mühlwerk festbiß und darin hantierte, daß im wahren Sinne des Wortes Trümmer und Späne umherflogen, ja, er fing an zu reparieren, bis beinahe kein Stein von den alten mehr auf dem anderen war und aus der ärmlichen Waldmühle das stattliche Gebäude, wie es heute dasteht, geworden, mit einem Mühlwerke, vor dem selbst die Bauern, die selten etwas Neues anerkennen, respektvoll den Hut zogen; ja, die Dreschmaschine, vielleicht die erste in Deutschland, die wir aufstellten, sahen sie als eine Art Hexenwerk an.

»Dann kam der da, der Land- und Forstmann, und trieb es auf seine Weise, und nicht schlecht, wie ich zugestehen muß. So waren ein paar Jahre vergangen, und wir Alten waren absichtlich fern geblieben, um uns überraschen zu lassen. Auch drohte damals etwas über unserem Leben, was uns vielleicht für immer in der Stadt zurückgehalten hätte. Man bot mir nämlich die Oberleitung eines großen Spitales in der Stadt an.«

»So waren Sie Arzt?« fragte Erich mit dem Ausdrucke des höchsten Erstaunens.

»Ja, mein Lieber, ich war so frei, mit tausend anderen gewiß ehrenwerten Männern an der Menschheit herumzupfuschen, mit verbundenen Augen nach dem gewissen Topfe zu schlagen und leider auch häufig den Kranken zu treffen, anstatt die Krankheit. Doch war ich vor allen Dingen Chirurg, und da sieht man schon mehr wie und wo, als bei dem Departement des Innern, bei dem man noch immer die große Frage aufwerfen kann, ob die Heilung eines tieferen Leidens oder das Mißlingen dieser Heilung ein Ungefähr ist.

Man durchstudiert die groß' und kleine Welt,
Um es am Ende gehn zu lassen,
Wie's Gott gefällt!

hat ein sehr großer Mann gesagt, und unter den sehr kleineren Männern fand auch ich, wie Recht er damit hatte. Nebenbei hat alles seine Grenzen, auch die Ausübung der Chirurgie, selbst für eine geschickte Hand, wenn der Mann dieser Hand zu fühlen anfängt, daß dieselbe Momente des Zitterns hat. Doch genug davon. Ich ließ meiner Frau die Wahl, ob sie Medizinalrätin, später einmal Frau von Burbus werden wolle, oder Müllerin schlechtweg, und da sie sich ohne alles Bedenken mit tausend Freuden für letzteres entschied, so machten mir uns dieses Privatvergnügen und daneben auch den guten Leuten in der Residenz den großen Spaß, mich trotz alledem für einen erzdummen Kerl zu halten, was mir indessen sehr gleichgültig war, denn so viel kann ich Ihnen versichern, junger Schulamtsbeflissener,« setzte er jovial hinzu, »daß, wie beim Militär ein Feldzug für zwei gewöhnliche Dienstjahre zählt, so ebenfalls ein Jahr Landaufenthalt mit all seinen Freuden für zwei in der dumpfen Stadt.

»So,« sagte der Müller, indem er bedächtig den Rest der zweiten Flasche verteilte, »das von meiner Lage habe ich Ihnen alles erzählt, weil auch Sie mir schon früher Ihr kurzes Leben geschildert, weil eine Ehre der anderen wert ist und weil Sie wissen müssen, unter wessen Dach Sie leben.

»Daß der Herr Pfarrer Ihrem Zeugnisse,« setzte er lachend hinzu, »über fortgesetzten Lebenswandel noch ein paar dicke Striche zusetzt, wenn er erfährt, daß Sie bei mir sind, das haben Sie allerdings zu überlegen; ich will Ihnen aber auch, was dieses Verhältnis anbelangt, einen ebenso klaren, reinen Wein einschenken, als Sie in Ihrem Glase haben, und das ist bald geschehen. Daß ich auch hier außen das Recht zu praktizieren habe, versteht sich von selbst, ebenso, daß ich zum besten meiner Nachbarschaft davon Gebrauch mache. Nun aber ist der Arzt dieses Kreises ein Bruder der Frau Pfarrerin, und so können Sie denken, in welches Wespennest ich gestochen beim ersten Bauernburschen, dem ich einen gebrochenen Fuß einrichte, und nicht schlecht, darauf können Sie sich verlassen. Apropos,« unterbrach er sich plötzlich, aus seiner bequemen Stellung in Stuhle auffahrend, »sieh' doch mal nach, Gottfried, ob jemand droben bei unserem Gaste ist, das heißt, jemand, der ihn ermahnt, seine nassen Umschläge gewissenhaft zu erneuern.«

»Ich werde nachsehen,« sagte der Angeredete aufstehend; »an den schlurfenden Fußtritten droben glaube ich aber zu hören, daß die Lene bei ihm ist.«

»In dem Falle bin ich ruhig, denn sie wird schon dafür sorgen, daß der Umschlag statt alle zehn alle fünf Minuten erneuert wird. Hat es ihr doch von einem Unglücksfalle geträumt, und zwar daß eine Schwalbe auf den Boden niedergefallen und mit einem fürchterlichen Krachen in vier Stücke zerbrochen, worauf dieselben ins Wasser gesprungen seien und nicht nur plötzlich wieder ganz geworden, sondern als weiße Taube davongeflogen.

»Also hat Wasser dieses Wunder bewirkt, und wird sie deshalb mit demselben auf die verschwenderischste Art umgehen; wie allerdings der Artillerieoffizier sich später in eine weiße Taube verwandeln soll, davon habe ich doch noch keinen rechten Begriff.

»Sie sehen mich fragend an,« wandte er sich an Erich, nachdem Gottfried fortgegangen war, »es ist allerdings ein Artillerieoffizier, der droben bei mir in Pflege und Behandlung ist; sie machten gestern da drüben in dem coupierten Waldterrain allerlei halsbrechende Manöver mit ihren Kanonen, unter anderem ›Kehrt‹ in einem sehr schmalen Hohlwege, wobei das Pferd eines Offiziers so unglücklich stürzte, daß er sich das linke Handgelenk {bild} stark verrenkte. Da sie keinen Arzt bei sich hatten und er heftige Schmerzen litt, so ritt er hierher, und ich fand es für gut, ihn da zu behalten.

»Jetzt wollen wir aber unsere lange Tafel aufheben,« sagte der alte Müller, trotz seiner Jahre rasch und lebhaft aufstehend, »und nun, nachdem Sie bei mir gegessen und getrunken, seien Sie mir noch einmal herzlich willkommen!«

Er streckte Erich seine beiden Hände entgegen und fuhr alsdann in einem warmen, fast innigen Tone fort: »Nehmen Sie das nicht leicht, wenn ich Sie auf diese Art willkommen heiße, ich bin nicht so freigebig damit; doch sagen mir Ihre freie Stirn, Ihre klaren Augen und Ihr offenes Wesen, wes Geistes Kind Sie sind. Und ich weiß nicht, Sie erinnern mich in Ihrer ganzen Art, zu sein, an einen Jugendbekannten, der trotz mancher leichtsinniger Streiche ein tüchtiger Kerl geworden ist. Nun, die leichtsinnigen Streiche brauchen wir gerade nicht, wollen aber auf das andere hoffen.«

Erich wollte ihm herzlich danken, doch verbat sich das der Müller, indem er sagte: »Wofür wollen Sie mir danken? Für das bißchen Essen und Trinken, das ich Ihnen gebe, oder für einen Platz in meinem Hause? Ist nicht der Mühe wert, hoffnungsvoller Provisor! Wenn Sie aber einmal einen recht guten Rat von mir kriegen, dann will ich Ihre Erkenntlichkeit annehmen.«

Gottfried kam mit der Meldung zurück, daß allerdings die Lene droben sei und daß der Fußboden im Wasser schwimme. Auch habe der Lieutenant gebeten, einen Auftrag für ihn an seinen Batteriechef zu besorgen, der heute Nacht auf dem Heidenfeld mit den übrigen Truppen im Bivouac sei.

»So reite hinüber und richte deinen Auftrag aus. Oder meinst du anders?«

»Wenn es dir recht wäre, so nähme ich meinen Jagdwagen und führe mit Friedrich und unserem Gaste hinüber.«

Erich's Augen strahlten vor Freude, was der Thalmüller bemerkte und sogleich zur Antwort gab: »Wenn es dir Vergnügen macht und den beiden jungen Leuten, so habe ich nichts dagegen. Nimm aber einen sicheren Knecht mit, denn deine Pferde sind unruhig, damit, wenn ihr absteigt und unter den Truppen umherlauft, nichts geschieht. Noch Eines,« setzte er hinzu, als Gottfried zum Weggehen schon die Thür in der Hand hatte – »du hast gewiß aus deinem Kleidervorrate noch eine Joppe für den angehenden Schulmeister. Er schont dadurch seinen langen, schwarzen, friedlichen Rock und hat auch heute Abend wärmer, wenn ihr nach Hause fahrt.«

»Wir wollen ihn schon umkleiden,« sagte Gottfried lachend; »und dann will ich ihm auch sein Zimmer zeigen. Die blaue Stube, denke ich, neben meiner Wohnung?«

»Ja, ja, gib ihm die blaue Stube,« pflichtete Herr Doktor Burbus bei und setzte alsdann, wie über etwas nachdenkend, hinzu: »Hatten Sie damals kein Gepäck bei sich, als ich Sie nach Zwingenberg mitnahm?«

»Nein, damals nicht, ich....«

»Thut auch nichts, in Ihrer Jugend braucht man nicht viele Geschichten. Etwas Wäsche steckt man in die Tasche.«

»Ich hatte damals,« vollendete Erich mit einem Ausdrucke der Sicherheit seinen Satz, »meinen Koffer mit Kleidern und Büchern vorausgeschickt und habe ihn jetzt im Schulhause stehen lassen, weil ich nicht wußte....«

»Ob wir Sie hier aufnehmen würden; ja, ja, ich begreife das. Der Andres soll nach dem Schulhause gehen und die Effekten des Herrn Provisors abholen; doch wird es gut sein, wenn Sie ihm etwas Schriftliches mitgeben wollen. Ordnung muß sein!«


 << zurück weiter >>