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4. Kapitel

Leiden und Freuden des Schullehrerstandes auf dem Lande. Erich beginnt sein neues Amt mit Glockengeläute und Naturgeschichte.

Wo die Schule war, danach brauchte Erich nicht lange zu fragen, denn er begegnete bald einzeln, bald truppenweise seinen hoffnungsvollen künftigen Zöglingen, alle sehr einfach, manche ärmlich gekleidet, mit schmutzigen und gestickten Jacken, die meisten echte Barfüßler, fast alle ohne Kopfbedeckung, nur wenige mit einer gestrickten Zipfelmütze versehen.

Sie zeigten ihre Gelehrsamkeit: Schiefertafeln oder mit einem Riemen zusammen gebundene, sehr defekte Schulbücher wurden auf die profanste Weise benutzt teils als Fangbälle oder als Waffen zum Angriffe und zur Verteidigung. Die meisten dieser kleinen Rangen mochten wohl ein ahnungsvolles Gefühl haben, daß der schwarz gekleidete junge Mensch, der ihnen mit so ernstem Gesicht als möglich entgegenkam, später in ein näheres Verhältnis zu ihnen treten würde, denn fast alle blieben mit aufgesperrten Mäulern stehen, als er vorüberging, manche griffen auch verstohlen nach ihrer Zipfelmütze, und als er einen nach dem Schulgebäude fragte, zeigte ein halbes Dutzend auf ein niedriges, unansehnliches, mit Stroh gedecktes Gebäude, das eher einem Stalle als einer Lehranstalt ähnlich sah.

Erich war indessen durch das Äußere seiner väterlichen Wohnung nicht verwöhnt und betrat die Schwelle mit dem Entschlusse, hier alles gut, wenigstens erträglich finden zu wollen. Doch gehörte dazu die ganze Kraft, der ganze, glückliche Mut, ja, Übermut der Jugend. Herr Schmelzer hatte auch gerade in keinem Palaste gewohnt, aber der Hauseingang hier hatte doch gar etwas zu Verfallenes, zu Idyllisches. Auf der Thür, deren unterer Teil hinter den Schülern verschlossen worden war, saß ein Hahn mit drei, vier Hühnern, die gerade keine Spuren von Reinlichkeit hinterlassen hatten, als sie nun bei Erichs Annäherung gackernd ins Haus hineinflogen. Doch hatte ihr Geschrei das Gute, einen dürftig gekleideten, langen, hageren Mann herbeizuziehen, bleich und hohläugig, der sich mit leiser Stimme nach dem Begehr des Fremden erkundigte, dann aber hastig die Hausthür öffnete, sobald Erich den Namen des Herrn Pfarrers genannt, und ihn demütig bat, in ein Zimmer, dicht an dem Hausflur gelegen, zu treten. Auch schob er einen wackeligen Stuhl herbei; doch dankte Erich und bat ihn, das Schreiben zu lesen, welches er ihm übergab.

Während der Schullehrer – denn dieser war es selbst – das Blatt auseinander schlug, warf Erich einen etwas scheuen Blick in dem Zimmer umher. Auch hier war alles dürftig und vernachlässigt über alle Beschreibung. Möbel waren allerdings vorhanden, ein Tisch, einige Stühle, in der Ecke sogar ein Ding, das wie ein Klavier aussah, aber alles beschädigt, abgeschunden, farblos, altersschwach, Tisch und Stühle weder aus dem gleichen Holze, noch in der gleichen Werkstatt entstanden – eine miserable Bettlerfamilie, die sich indessen hier behaglich zu fühlen schien zwischen diesen aschfarbigen, streifigen Wänden und den verblindeten Fensterscheiben, ja, die mit einer Art Schadenfreude auf das arme Klavier zu blicken schien, welches, mit einem roten, zerrissenen Teppich bedeckt, noch immer den Hochmut hatte, von besseren Jugenderinnerungen zehren zu wollen.

Der Schullehrer hatte das Blatt gelesen, und wenn es möglich war, daß sich auf diesem abgekümmerten, durchfurchten, altersgrauen Gesichte, obgleich dieser Mann noch nicht fünfzig Jahre alt war, ein Lächeln hätte verirren können, so war dies jetzt der Fall. Wahrscheinlich aber war es nur eine Nervenzuckung.

»Der Herr Pfarrer ist zu gütig,« sagte er, »für mich um einen Gehilfen besorgt zu sein, der mir allerdings bei meinen zahlreichen Schülern und bei meinem jetzt eingetretenen Unglücke erwünscht wäre. Wir haben zwei Klassen, jede von neunzig Kindern, von denen ich immer abwechselnd eine unterrichtete, während alsdann die andere ihre Aufgaben und Übungen unter der Aufsicht meiner armen Frau machte, welche immer dabei noch Zeit hatte, kleine häusliche Geschäfte zu besorgen, in denen sie auch zuweilen von den gutmütigen Kindern unterstützt wurde. Das kann nun die arme Frau nicht mehr thun, denn – denn –« hier nagte der Lehrer an den Nägeln seiner Finger und schaute mit einem starren Blicke in die Ecke des Zimmers – »denn sie ist gestern morgen gestorben – ja, sie ist gestorben, Gott habe sie selig.«

»Ach, wie mich das schmerzt! O, wenn ich das gewußt hätte, wäre ich heute nicht gekommen!«

»Der Herr Pfarrer hat es wohl gewußt und hat Sie mir gerade deshalb zur notwendigen Beihilfe gegeben. Ja, wissen Sie, mein lieber Herr Provisor – wie heißen Sie denn eigentlich?«

»Erich Freiberg.«

»Ein hübscher Name, Herr Provisor Freiberg. Ja, wissen Sie, es ist für einen armen Schulmeister so eine Sache mit einem Lehrergehilfen.«

»O, meine Anforderungen werden recht bescheiden sein!«

»Bescheiden! Aber der Mensch muß gegessen und getrunken haben und will auch in einem Bette schlafen!«

»Mir wird jedes Lager recht sein; ich bin jung, habe einen guten Schlaf, und was Essen und Trinken anbelangt, so bin ich mit allem zufrieden.«

»Mit allem – ja, mit allem; aber es muß doch – und dann erwähnte der Herr Pfarrer auch nichts von einem Gehalt für Sie, ob die Gemeinde oder der Herr Pfarrer selbst – ja, der Herr Pfarrer versteht das alles freilich sehr genau und liebt es auch, Bestimmungen und Verfügungen zu treffen, aber es geht doch nicht immer alles so, wie er sich es ausgedacht hat.« »Sollte es Ihnen in der That unlieb sein, mich dabehalten zu müssen, Herr Schullehrer?«

»Das will ich gerade nicht sagen, aber was Ihr Gehalt anbetrifft, so muß ich doch mit dem Herrn Pfarrer reden.«

»Thun Sie das vorläufig lieber nicht; ich habe immer noch so viel, um das andere erwarten zu können. Vielleicht später, wenn Sie sich von meiner Brauchbarkeit überzeugt haben.«

Der Herr Schullehrer Wacker betrachtete seinen neuen Gehilfen mit einiger Verwunderung. War derselbe doch außerordentlich gut, ja, recht anständig gekleidet, ließ weiße Wäsche sehen, trug gute Stiefeln und wollte es mit einem baren Gehalt bis auf weiteres bewenden lassen! Dabei hatte derselbe ein frisches, aufgewecktes Auge und einen energischen Zug um den Mund.

»Nun denn,« sagte Herr Wacker, jetzt in der That mit einem allerdings recht matten Lächeln, indem er dem jungen Manne seine magere Hand entgegenstreckte, »so wollen wir es ohne weiteres miteinander versuchen. Es ist, als wenn der Himmel Sie mir heute in meinem Leiden gerade geschickt hätte. Der Herr Pfarrer hat allerdings gemeint, ich solle trotzdem dennoch heute meine Schule halten, zur Zerstreuung meines Leides, wie er sagte, aber heute nachmittag ging es beim besten Willen doch nicht. Wissen Sie, da kommt der Schreiner, und da sollte ich von Rechts wegen doch dabei sein. Es thäte mir leid um die arme Frau, und ich bin fest überzeugt, sie hätte mich in einem ähnlichen Falle auch nicht ganz allein fremden Leuten überlassen. Nein, nein – gewiß nicht!« – Und dabei nagte er abermals an seinen Nägeln und blickte abermals und so anhaltend in die Zimmerecke, bis ihm die Augen überliefen und ein paar dicke Thränen auf seinen abgeschabten schwarzen Rockkragen tröpfelten. – »Und nun kommen Sie, ich will Ihnen die Schulzimmer zeigen.«

Sie gingen auf die andere Seite des Hausflurs und traten in ein langes, breites und sehr niedriges Gemach mit zerkratzten und zerstoßenen Fachwerkwänden, mit einem Fußboden, von dem man weder durch das Gesicht noch durch das Gehör erraten konnte, ob er von Holz sei oder von gestampfter Erde, mit Fensteröffnungen, deren Fensterflügel man der warmen Witterung wegen und zur Schonung des Glases ausgehoben hatte, die aber zu klein waren, um genügend frische Luft in diesen Stall für Menschen einzulassen, denn es herrschte hier eine Atmosphäre, die unbeschreiblich war. Bänke und Tische waren unzertrennliche Möbel, und wo ihre Verbindung durch Zeit und Umstände etwas locker geworden war, da hatte man Leisten quer vorgenagelt und damit wieder einigen Halt gegeben. Dies war das Schulzimmer für neunzig Kinder von zehn bis vierzehn Jahren, daneben befand sich das für jüngere Kinder von sechs bis zehn Jahren. Hier war Schmutz und Einrichtung wie in der ersten Klasse, doch hatten nur die ersten vier Reihen Tische, während sich die anderen bloß mit einer Holzbank begnügen mußten.

»Hier ist also Ihr Wirkungskreis, Herr Freiberg, und wenn Sie heute nachmittag die Aufsicht über beide Klassen führen wollten, so wäre ich Ihnen dafür sehr dankbar. In der letzten Zeit der schweren Krankheit meiner armen Frau that ich das auch, indem ich die Thür zwischen beiden Zimmern öffnete und mich mit meinem Stuhle auf die Schwelle setzte. Aber man kann das nicht lange so forttreiben, es ist zu ermüdend und die Kinder lernen nicht viel dabei, was doch auch in Betracht kommt. Um ein Uhr beginnt die Schule wieder, und will ich Ihnen auch meine Kinder zeigen. Arme Kinder, sie fühlen es am meisten, daß die Mutter tot ist! Sie können es sich gar nicht denken, was die Frau alles auffand und hervorsuchte, um ihnen hier und da eine kleine Freude zu machen, und wie sie darauf hielt, daß sie so ordentlich als möglich erschienen. Das hat in ihrer langen und schweren Krankheit etwas nachgelassen, und Sie müssen sich nicht daran stoßen, wenn es jetzt in dem anderen Zimmer, wo die Kinder sind, etwas drunter und drüber aussieht.«

Es bedurfte nun allerdings dieser Einleitung, um Erich beim Eintritte zur Familie des Schullehrers nicht gar zu sehr zurückschrecken zu machen. Es herrschte hier eine Luft, die ihm fast den Atem benahm, die Luft eines verschlossenen Schlafzimmers, die mit übelriechenden Küchendünsten geschwängert zwar. Ja, die Atmosphäre hier erschien so unheimlich, daß er unwillkürlich einen scheuen Blick auf das in der Ecke stehende Bett warf, ohne glücklicherweise dort das zu sehen, was er gefürchtet. Vielmehr saßen auf diesem Bette zwei Knaben von sechs bis acht Jahren in sehr ärmlicher Kleidung, mit nackten Füßen, während ein Mädchen von zehn bis zwölf Jahren vor einem Waschzuber stand, mit so ernster und wichtiger Miene beschäftigt, daß es sich kaum Zeit nahm, die Eingetretenen mit einem Blicke anzusehen. Von den Buben hatte jeder um den Arm ein schwarzes Band gebunden, während das Mädchen eine schwarze baumwollene Schürze wie ein Umschlagetuch um seine Schultern trug.

»Da sind sie alle bei einander,« sagte Herr Wacker mit einem traurigen Blicke, der von einem tiefen Seufzer begleitet war. »Das ist meine Tochter Anna, die sich, wie Sie sehen, schon der Haushaltung annimmt, und das ist der Max und der Paul.«

»Siehst du, Anna,« wandte er sich an das kleine Mädchen, »dies ist Herr Provisor Freiberg, den der Herr Pfarrer so gütig war, für uns zum Lehrgehilfen zu bestimmen. Er wird bei uns bleiben – aber dabei fällt mir ein, Sie haben wohl noch nicht zu Mittag gegessen? Wie steht es damit, Anna? Hast du noch etwas übrig?«

Als das kleine Mädchen hierauf fragend ihren Vater ansah, fuhr der Schullehrer achselzuckend fort:

»Es wird damit heute schlecht aussehen; bei meinem traurigen Falle ist die Verwirrung groß im Hause und das Leid, Herr Freiberg, das Leid nimmt einem obendrein allen Appetit. Genieren Sie sich aber durchaus nicht, wenn Sie ins Wirtshaus dort gegenüber gehen wollen, wo Sie für Billiges etwas zu essen kriegen. Morgen wird schon besser gesorgt werden, nicht wahr, Anna?«

»Der Bäcker hat ein weißes Brot geschickt und der Nachbar Völker einen Topf mit Milch; Kartoffeln sind auch noch da.« »Ach, so haben wir denn morgen einen Schmaus, wie er sich hier bei dieser Gelegenheit ziemt,« sagte der Schullehrer mit gefalteten Händen, wobei er mit einem sehr bitteren Blicke nach oben schaute, »wenn nur die Veranlassung dazu für uns nicht so gar trostlos wäre.«

Das kleine Mädchen hatte große, dunkelblaue Augen, die aber jetzt so eigentümlich glitzerten und strahlten – sie hatte zu waschen aufgehört und drückte nun ihre Stirn fest auf den Rand des Zubers.

»Wenn es Ihnen recht ist, Herr Schullehrer, so gehe ich nicht in das Wirtshaus,« sagte Erich und lieh seine wohlgefüllte Reisetasche von der Achsel herab auf eine alte Kommode gleiten. »Ich war gestern bei guten Leuten über Nacht, die mich auch obendrein für heute mit mehr als notwendig ist, versorgten. Sehen Sie, da ist Brot und kaltes Fleisch und auch ein paar Aepfel. Sogar ein Fläschchen haben sie mir beigesteckt, in dem wahrscheinlich Wein enthalten ist. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir uns gemeinschaftlich darüber hermachen.«

»O, nein, o nein,« entgegnete Herr Wacker, wobei er seine Blicke von dem lockenden Gegenstände abwandte; »wie können Sie nur so etwas denken – nein, gewiß nicht!«

Doch schienen die beiden Knaben durchaus nicht der Ansicht ihres Vaters zu sein, denn sie rutschten eilfertig von dem Bette herab und stellten sich mit sehr lebhaft erregten Blicken vor der Kommode auf, und als Erich lächelnd sagte: »Es wäre vielleicht besser, wenn wir das im Nebenzimmer besorgten« – so folgten sie ihm auf dem Fuße nach; ja, auch die kleine Anna kam herbei, nur um eine alte Serviette über den Tisch zu decken, und ihr folgte Herr Wacker, einzig und allein in der Absicht, um seinem Gaste und Gehilfen die Honneurs zu machen, indem er fünf Stühle um den Tisch stellte.

Es gibt Verhältnisse, unter denen die beste Einladung die ist, daß man gar keine macht, und so that auch Erich, indem er einfach seine Schätze auseinander breitete und hierauf durch den guten Appetit, mit dem er zugriff, das beste Beispiel zuerst für die Kinder und dann auch für deren Vater gab.

Ah, es war ein köstliches Mahl, das sie hielten, und es war vielleicht auch ein guter Wein, den sie tranken und bei dem sie plaudernd sitzen blieben, bis ein aus den Schulzimmern herübertönender wüster Lärm von schreienden und quiekenden Kinderstimmen den Wiederbeginn der Lehrzeit verkündete.

Paul und Max hatten sich in kurzer Zeit zu ihrem neuen Hausgenossen so hingezogen gefühlt, daß sie mit in die Klasse hinüber wollten, was aber Herr Wacker in Anbetracht ihrer Jugend nicht zugab; doch mußte Erich versprechen, wieder zu ihnen zu kommen, sobald er drüben fertig sei. Die Vorstellung des neuen Gehilfen fand bei den hundertundachtzig Schulkindern in angemessener Feierlichkeit und Würde statt, und zwar unter der geöffneten Thür zwischen den beiden Klassen, wobei der Schullehrer nicht verfehlte, auf die großen und umfassenden, ihm allerdings selbst noch unbekannten Kenntnisse Erichs aufmerksam zu machen, und ebensosehr dessen Milde und Freundlichkeit anpries für gute und fleißige Schüler, als seinen Ernst und seine Strenge für die unverbesserlichen Subjekte. Ja, er verschärfte diesen Schluß seiner Rede noch dadurch, daß er dem neuen Gehilfen ein gewisses, sehr biegsames Instrument, welches auf des Schullehrers Pult lag, feierlich wie ein Scepter überantwortete.

»Dem Stundenplane nach,« fuhr er alsdann fort, »würden wir jetzt vermittelst der Violine Gesangsunterricht haben, doch wollen wir aus Gründen heute davon absehen und dafür eine Lehrstunde einschalten. Nehmt eure Lesebücher hervor, und der Herr Freiberg wird bestimmen, was er mit euch anfangen will.«

So war denn Erich in Amt und Würde eingeführt, und das alles war so rasch gegangen, daß es ihn förmlich schwindeln machte.

Gestern noch auf stolzen Rossen, und heute als Tierbändiger einer Schar von einhundertundachtzig Buben, in deren weit aufgerissenen Augen und vorgestreckten Hälsen für ihn, den jugendlichen Lehrer, noch unbekannt mit dem wilden Naturell dieser Herde, allerlei Unheil verborgen zu liegen schien. Und doch war es ihm gewissermaßen ein recht wohlthätiges Gefühl, das Bewußtsein, hier angestaunt zu werden von dreihundertundsechzig Augen und unumschränkt zu herrschen, er, der vor wenigen Stunden noch eingewandert und unter dem drückenden und auch vielleicht minder glücklichen Gefühle, vielleicht in der nächsten Stunde wieder auswandern zu dürfen. Und nun, als er seine Bestimmung erreicht hatte, als er seinen Rubikon überschritten, als er nun sicher war, hier bleiben zu müssen – war es ein glückliches Gefühl, welches seine Brust durchflog, oder ein schmerzliches? Er wußte es selbst nicht.

Der Empfang bei dem energischen Pfarrer mit dem Löwenhaupte, das freundlich stille Haus desselben mit dem wohlgepflegten Garten und den lustig summenden Insekten, die sich alle da oben behaglich fühlten, hatte ihm nicht so übel gefallen, und von der Zeit an, als er darauf verschiedene Stufen tiefer herabgestiegen war, bis zu dem Schulhause, war ihm alles wie ein seltsamer Traum vorgekommen, gerade nicht schön, aber doch interessant und später beim Erwachen wohl einmal der Mühe wert, ihn geträumt zu haben. Das mußte er sich allerdings sagen: Hätte ihn sein alter Lehrer, Herr Schmelzer, vermittelst eines Zauberspiegels schon vorher einen Blick thun lassen können in sein neues Wirken und seine neuen Verhältnisse, wer weiß, ob er nicht auf gut Glück in die Residenz gewandert wäre zum Herrn Hauptmann von Heinzelmann, oder ob er nicht den fröhlichen Thalmüller um irgend eine Anstellung in dessen klapperndem Werke gebeten hätte. Vorderhand erschien ihm hier als einziger Lichtblick die freilich immerhin traurige Wohnstube des Schullehrers mit dem alten Klavier unter dem roten Teppich, und dort sah er sich schon in seinen Freistunden sitzen, von musikalischen Werken umgeben, Harmonielehre und Generalbaß studierend, um dann, wenn er etwas Tüchtiges gelernt, in die weite, weite fröhliche Welt hinauszuziehen.

Es war eigentümlich, daß ihn dieser Gedanke gerade jetzt beschäftigte, als er in dem schmalen Gange, der sich zwischen den Bänken und Tischen der beiden Schulzimmer befand und welcher diese miteinander verband, hin und her ging, staunend betrachtet von all den Kindergesichtern, die sein Nachsinnen natürlicherweise auf sich bezogen und mit einem nicht ganz sicheren Gefühle darauf hin irgend eine Explosion erwarteten. Dabei traf es sich äußerst glücklich für das Ansehen des künftigen Lehrers, daß er, an den Pulten auf und ab schreitend, fast unwillkürlich die Schiefertafel eines der ältesten und kecksten Schüler, welcher diese bei seinem Herannahen sanft umgewandt hatte, in die Hand nahm und darauf sein eigenes Ebenbild in einigen kühnen Strichen mit einem sehr dicken Kopfe und einem unnatürlich langen Rocke fand. Gerade diesen Schüler, einen bekannten unartigen Schlingel, sogleich erwischt zu haben, gab ihm in den Augen der Kinder ebenso eine gewisse Sicherheit, als sie seine Milde bewunderten, mit der er den Buben auf den Kopf pätschelte und dann ersuchte, hervorzutreten, um dieselbe Zeichnung mit Kreide an der großen Tafel zu wiederholen, damit alle den neuen Lehrer deutlich sehen könnten. Das war noch nicht dagewesen, und der jugendliche Künstler, der sich aus ein paar derben Kopfnüssen durchaus nichts gemacht hatte, stand da in seines Nichts durchbohrendem Gefühle und schämte sich sichtlich bei dem gellenden Gelächter der ganzen Klasse. Ja Erich hatte sich dadurch die Aufmerksamkeit sämtlicher Schüler gewonnen, da er jetzt nur noch das Lesebuch emporzuhalten brauchte und die Seitenzahl fünfzig anzugeben, um mit einem gewaltigen Scharren der Füße und einem rauschenden Umblättern der verschiedenen Seiten tiefe Stille um sich entstehen zu lassen.

»Vom Maikäfer,« sagte er dann, nachdem er eine halbe Seite rasch durchgelesen. »Was ein Maikäfer ist, weiß wohl jeder von euch; sollte es aber einer nicht wissen, so stehe er auf, und ich will es ihm sagen.«

Natürlich rührte sich niemand. Selbst die kleinsten lächelten im Gefühle ihrer tiefen Wissenschaft.

»Der Maikäser ist ein Insekt, zuerst Ei, dann Wurm, dann Larve und später erst Käfer mit sechs Beinen und braunen Flügeldecken, der unbarmherzig das weiche, saftige Laub der Obstbäume abfrißt und so großen Schaden anrichtet.«

»Wie das geschieht, sollst du,« damit wandte er sich an einen Buben mit aufgeweckten Gesichtszügen, »mir und den anderen vorlesen; aber ruhig und deutlich, damit wir dich alle verstehen.«

»So ist es,« fuhr der junge Schullehrergehilfe nach einer Pause fort, die der Knabe mit Lesen ausgefüllt, »und demnach wäre mit dem Maikäfer nichts Gescheites anzufangen. Oder wüßtest du vielleicht etwas,« wandte er sich an einen anderen Knaben, der ihn mit einem frischen, blühenden Gesichte anlächelte.

»O ja, Herr Provisor, man bindet ihnen Fäden an die Füße und macht Windmühlen daraus.«

In den frischen, heiteren Zügen des Gesichtes dieses Knaben lag für Erich etwas so Bekanntes, daß keine Hexerei dazu gehörte, um ihm zu sagen: Du bist gewiß der Sohn des Thalmüllers! Ein neuer Beweis von Allwissenheit, dem eine fast ängstliche Stille im Schulzimmer folgte, sowie eine angestrengte Aufmerksamkeit, welche es dem jungen Gehilfen möglich machte, das höchst interessante und lehrreiche Kapitel von den Maikäfern zu allseitiger Zufriedenheit zum Schlusse bringen zu lassen, wobei er noch, anknüpfend an den so notwendigen Vertilgungskrieg des Menschen mit diesem Insekte, besonders hervorhob, auch hier sei es bösartig und streng verwerflich, dasselbe zu quälen, wie es wohl durch Binden von Fäden an die Beine desselben behufs Drehung kleiner Windmühlenflügel zu geschehen pflegte.

»Und nun wollen wir für heute schließen,« sagte er, »und ich will einmal sehen, wer von euch am ruhigsten und stillsten die Schule verläßt; ihr wißt, daß die Frau eures Herrn Lehrers gestorben ist, und da schickt es sich durchaus nicht, daß man ein solches Haus lärmend und brüllend verläßt, und ebenso nicht, daß man auf der Straße rauft und schreit. Ihr werdet es eurem Herrn Lehrer zuliebe thun und auch der armen Frau, die euch ja alle gekannt hat.«

Hierbei kam es Erich seltsam vor, daß fast sämtliche Kinder bei diesen Worten mit einem gewissen scheuen Ausdrucke nach der Wand des Schulzimmers der zweiten Klasse blickten, an der indessen nichts zu sehen war, als eine sehr kleine Fensteröffnung, die von rückwärts mit einem weißen Tuche bedeckt war, und später, als er nun allein in dem Schulzimmer stand, verursachte es ihm ein eigentümliches Gefühl, weil er nicht genau wußte, ob das, was er hinter dem weißen Vorhange vermutete, sich wirklich dort befände – und fragen mochte er nicht.

Den Schullehrer fand er in dem ärmlichen Schulzimmer sitzend, einen Zettel in der Hand, geradeso wie der, welchen er am Morgen von dem Pfarrer gebracht. Es beunruhigte ihn fast, daß es derselbe sein könnte, den Herr Wacker nochmals durchstudiere; doch sagte dieser mit einem trüben Lächeln:

»Der Herr Pfarrer beehrt mich häufig mit seinen Schreiben, wie Sie später sehen werden; da lesen Sie!«

»Wenn ich auch verstehe,« schrieb Se. Hochwürden, »daß man seine Zeit um ein paar Sekunden versäumen kann, so muß ich es doch bei aller Milde unverantwortlich finden, daß das Gebetläuten heute morgen statt um vier Uhr erst ein Viertel auf fünf Uhr stattfand, und wenn ich auch geneigt bin, den augenblicklichen Verhältnissen Rücksicht zu schenken, so kann ich doch Nachlässigkeiten nicht dulden, die so offenbar das Ansehen der Kirche und der Schule untergraben.«

»Was ist das Gebetläuten?« fragte Erich.

»Nur ein schöner Name für eine alltägliche Beschäftigung, denn dieses Läuten mit der Turmglocke hat bei uns einzig und allein den Zweck, unserer Gemeinde das Aufstehen zu erleichtern. Daß dasselbe mir aber häufig selbst recht sauer wird, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, Herr Provisor; blicken Sie mich nur an, und Sie werden sehen, daß ich keiner der Kräftigsten bin. Woher sollte das auch kommen? Von der Freudigkeit, mit welcher ich mein Amt zu versehen imstande bin? Man sagt, auch das gäbe Kraft und Mut. O nein, ich habe diese Freudigkeit nicht mehr; leider muß ich es Ihnen gestehen, denn ich bin nur noch imstande, mein Tagewerk zu thun, wie ein altes Uhrwerk, dessen Räder nicht geschmiert werden, dessen Feder abgenutzt ist.

»Das muß doch auch einmal besser kommen,« tröstete Erich.

»Ja, besser – aber wann?« gab der Schullehrer zur Antwort, während er langsam seinen Kopf erhob und mit umflorten Augen das kleine Stückchen sonnbeglänzten Himmels betrachtete, dem selbst die trüb angelaufenen Fensterscheiben seine Heiterkeit nicht zu nehmen vermochten. »Doch ich will nicht vor Ihnen klagen,« fuhr er nach einem kurzen Stillschweigen fort; »das nutzt alles nichts, wir können das Getriebe dieser Welt doch nicht ändern. Was liegt auch an armen Kreaturen, wie wir sind? Sind wir ja doch nur zum Ausfüllen da, oder zum Darstellen der ganzen Masse, oder um anderen Glücklicheren eine weiche Unterlage zu bereiten. Hier schon der Staub auf breitem Lebenswege, ein Schicksal, das wir später allerdings in Wirklichkeit teilen werden mit den Reichen und Mächtigen dieser Erde – immerhin eine Hoffnung, doch hätte ich mir auch schon für dieses Stückchen irdischen Lebens ein etwas besseres Los gewünscht.

»So, meine heute besonders traurigen Geschäfte sind besorgt, meine Kinder ebenfalls, dank Ihrer Güte, und wenn es Ihnen recht ist, so machen wir jetzt einen Spaziergang um das Dorf herum, und will ich Sie zu einer Anhöhe führen, wo man eine hübsche Aussicht hat in eine ziemlich weite Ferne. Ich liebe diese Aussicht besonders bei Sonnenuntergang – und ganz besonders heute, denn es ist mir immer, als ließe mir das scheidende Licht einen freundlichen Gruß – auf Wiedersehen, vielleicht hier unten, vielleicht auch anderswo. Kommen Sie, zum Abendläuten sind wir zurück.«

Daß sich Erich später ein ganz besonderes Vergnügen daraus machte, sich das Verfahren beim Abendläuten zeigen zu lassen, versteht sich von selbst, ebenso, daß er sich erbot, dieses Geschäft für den kränklichen Schullehrer wenigstens für die nächste Zeit zu besorgen, und zwar mit einer Pünktlichkeit, über welche selbst der Herr Pfarrer zufrieden sein sollte.

Für die erste Nacht, die er unter dem ärmlichen Dache des Schulhauses zubrachte, wäre ihm das Aufstehen auch dann nicht sauer geworden, wenn er sich nicht schon von Jugend auf daran gewohnt hätte, vor Tagesanbruch auf den Beinen zu sein, denn bei aller Bescheidenheit seiner Ansprüche war das Lager, welches ihm, und zwar auf dem Boden des Wohnzimmers, bereitet wurde, so hart und mangelhaft, daß seine ganze frische Jugend dazu gehörte, um überhaupt einschlafen zu können.

»Morgen,« hatte der Schullehrer gesagt, »werde ich imstande sein, Ihnen Ihr Schlafgemach dicht bei den Schulzimmern anzuweisen.«

»Warum nicht heute?« hütete sich Erich wohl zu fragen, denn ihm schwebte der seltsame Blick der Schulkinder vor, mit dem sie die kleine Fensteröffnung und den weißen Vorhang betrachteten. Auch später, als alles vorüber war, vermied er es, sich Gewißheit zu verschaffen, obgleich er sich lange eines leichten Grauens nicht erwehren konnte, so oft er das Gelaß betrat, das er nun sein Zimmer nennen sollte. Ach, dasselbe war auch ohne alle anderen traurigen Erinnerungen armselig über alle Beschreibung! Es war ein Raum, der einem gewissen unaussprechbaren Gemache abgewonnen zu sein schien, der wohl eben dadurch zwei moderig feuchte, übelriechende Wände hatte und ein einziges Fenster, durch welches, wenn man es öffnete, die heiße, duftige Luft der Schulstube eindrang, und diese war immerhin noch besser, als andere Dünste, welche man bei offener Thür empfand. Was die Möbel anbelangt, so bestanden diese aus einem sogenannten Bettkasten mit einem Strohsacke, einem Heukopfpolster und einer Wollendecke, ferner aus einer kleinen Bank, auf der eine alte Holzkiste stand, welche beide zusammen höchst sinnreich eine Kommode darstellten, und schließlich aus einem von den Würmern zerfressenen Kirchenstuhle, der mit Ueberresten von Holzschnitzereien immerhin noch einen stattlichen Anblick bot.

Das war sein Reich, und ein paar Tage später, nachdem sein Koffer, ein Erbteil des Vaters, mit Büchern, Wäsche und anderen Effekten gefüllt, angekommen war und dieser Koffer nun, wie so manche andere Dinge, recht lebhaft an die alte und bessere Heimat erinnerte, da gab es Augenblicke, wo es Erich vorkam, als sei er imstande, nach und nach auch dieses Gemach lieb zu gewinnen.

Glückliche Täuschung der Jugend, glücklich, weil sie besonders die täglichen Wechsel des Lebens als etwas Interessantes begrüßt und jeder Lebensphase eine schimmernde Seite abzugewinnen weiß! Hier, wo ihm alles neu war, erschien ihm auch alles im höchsten Grade interessant und hatte alles für ihn seine schönen Seiten; seine tägliche Lastarbeit in der Schule, oft in beiden Klassen zugleich, da sich der Lehrer jetzt häufiger als sonst unwohl fühlte; das häufige Beisammensein mit den armen Kindern des Schullehrers, die ihm für alles, was er ihnen Angenehmes erzeigte, so außerordentlich dankbar waren, welche ihm sogar die spärlichen Mahlzeiten dadurch behaglich machten, daß sie sich mit rührender Anhänglichkeit an ihn drängten, alles thaten, was sie ihm an den Augen absehen konnten, und förmlich aufzuleben schienen in dem Glanze der neuen Erscheinung dieses wohlwollenden, freundlichen Schulgehilfen; und das Gebetläuten in der einsamen Kirche an stillen Abenden, wenn durch eine der Turmluken hoch oben ein letzter Strahl der scheidenden Sonne eindrang und mit der Glocke koste, während diese sich wohlbehaglich, hell klingend hin und her schwang. Auch morgens bei Tagesanbruch war es hier poetisch schön, besonders auf der Höhe des Turmes, wenn sich Erich durch eines der Fenster hinausbeugte und über die schlummernde und träumerische Erde hinblickte, oder wenn sein Auge mit einem unaussprechlichen Gefühle der Sehnsucht und Erwartung an jenem hellen Streifen im Osten hing und förmlich mit aufjauchzte, wenn dort nun die ersten, zitternden Strahlen emporschossen.

An solchen Morgen war es ihm nun allerdings hart, wieder in das dunstige Schulhaus zurückzukehren, und er vermied es auch so viel als möglich, nahm ein Buch zu sich und kreiste auf weiten Spaziergängen die Umgegend des Dorfes ab, wobei er auch häufig zur Thalmühle gelangte und da jedesmal von dem freundlichen Müller eingeladen wurde, an der nahrhaften Morgensuppe teilzunehmen, eine nicht unliebe Abwechslung von dem, was ihm zu Hause vorgesetzt werden konnte. Es war wässerige Milch und ein Stück schwarzes Brot. Als wirkliche Lichtpunkte aber erschienen ihm die Stunden, wo es ihm erlaubt war, auf dem wirklich guten Orgelwerke in der Kirche zu spielen, besonders aber die Sonntage, wo es ihm denn auch bald gelungen war, sich durch kräftige Führung des Kirchengesanges die Zufriedenheit des strengen Pfarrers zu erwerben.


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