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18. Kapitel

Von der Brigadeschule, von zarten Unterhaltungen der jungen Zöglinge, vom geheimnisvollen Bund des Hungers und des Durstes.

Schon der Weg, um an den Fuß jener Leiter zu gelangen, von welcher der Wachtmeister sagt, daß sie zur höchsten Macht führe, ist so mit Schwierigkeiten aller Art bedeckt und unser Fuß verwundet sich so leicht an den Dornen und Disteln, die hier auf unserem Pfade wuchern, daß der ganze Mut und der ganze Leichtsinn der glücklichen Jugendzeit dazu gehört, um nicht schon anfangs zurückzuschrecken. In unseren Militärträumen sahen wir uns beständig verkörpert in der Gestalt eines schmucken Reiters oder Artilleristen, der sich plötzlich, wie durch Berührung eines Zauberstabes, aus der dunklen Civilpuppe entwickeln werde. Wir dachten nicht daran, daß diese Entwickelung so nach und nach, mit so unscheinbaren Fortschritten vor sich gehen würde; ebensowenig aber auch der Held unserer Geschichte, der indessen den Vorzug hatte, daß er aus seiner Jugendzeit schon wußte, was eine Montierungskammer sei und welch engherziger Tyrann auf derselben gebiete, der Selbstherrscher aller alten und neuen Hosen, mit dem deutschen Namen Capitain d'armes benannt, gewöhnlich ein alter Unteroffizier, verdrießlich, geizig, schlappig und nur dafür besorgt, daß ein warmer Kommißmantel niemals zu dem benutzt wurde, wozu er doch eigentlich erschaffen war, den Soldaten nämlich vor Kälte zu bewahren.

Da standen nun an jenem Morgen die acht zum Einkleiden bestimmten jungen Leute in einer Reihe auf der halbdunklen Montierungskammer, die meisten hübsche, wohlgewachsene Burschen, welche, nachdem sie mit den ihnen verabreichten Hosen und Jacken bekleidet waren, wie ebenso viele Vogelscheuchen aussahen.

Allerdings wurde der Schneider beauftragt, ihnen das Zeug zurecht zu machen, doch selbst als dies nach einigen Tagen notdürftig geschehen, waren sie von den oben erwähnten militärischen Idealen noch so weit entfernt, wie die graue Larve vom goldstrahlenden Käfer.

Doch beugte auch das glücklicherweise nicht den jugendlichen Mut und Uebermut, ebensowenig wie das oft so pedantische Verfahren in der akademischen Stunde, wie die schmale Kost der Schulmenage, Bohnen, Erbsen, Kartoffeln mit Speck, oder zur Abwechselung Speck mit Bohnen, Erbsen und Kartoffeln, natürlicherweise ebensowenig ohne Vor- und Nachspeise, wie ohne Frühstück und Nachtessen, all die eben genannten Speisen in eine dicke, oft unschmackhafte Suppe verkocht, die in erkaltetem Zustande ein zäher, ungenießbarer Brei war.

Lichtblicke in diesem Leben waren immer noch die rein militärischen Uebungen, besonders nachdem der Elementarunterricht, die Wendungen nach Zählen, die Griffe mit dem Seitengewehr beendigt waren; denn so ein Exerzieren am Geschütze hat gewissermaßen doch immer einen poetischen Anstrich, man kann sich dabei so leicht in jene Zeit hineindenken, wo der metallene Mund des Rohres, der uns jetzt so stumm anblickt, plötzlich unter Flammen und Rauch zu sprechen anfängt und uns beschützt, wenn wir recht sorgfältig für seine Nahrung und Beweglichkeit besorgt sind. Man faßt eine Anhänglichkeit für sein Geschütz, ja man liebt es mit seinem ernsten Anblicke wie ein fühlendes Wesen, und wenn man nach langen langen Jahren eine Batterie auf dem Pflaster daherdröhnen hört, so eilt man herbei und begrüßt jedes Stück wie einen alten, wohlbekannten Freund.

Und aus welch zahlreicher Familie bestand diese Freundschaft, vom jugendlichen, schlanken Feldgeschütze und dem strammen Zwölfpfünder an bis zu jenen schwerfälligen alten Herren, den Dispositions- und Festungsgeschützen, mit dem Oberhaupte, der Familie, jenem dicken, unbehilflichen Vierundzwanzigpfünder! Und alle diese Nebenverwandten, Basen und Vettern, die Haubitzen und Mörser, vom kleinen Probemortier an bis zu jenem kesselartigen Metallstücke, welches hundertzwanzigpfündige Kugeln, ja, Körbe mit Steinen und ganze Familien Handgranaten schleudert! Auch war die Bekanntschaft mit eigentümlichen Seitenverwandten nicht uninteressant, aus der Sippschaft der Raketen und Leuchtkugeln, der Fanale-, Brand- und Stinkgeschosse, letztere allerdings ein etwas heruntergekommenes Geschlecht, das mit seinen üblen Ausdünstungen von einer wohlgerundeten Bombe mit stiller Verachtung angesehen wurde. Auch die Freuden des Laboratoriums waren nicht zu verachten, die Anfertigung all der Voll- und Sprengkugeln, sowie der Feuerwerksgegenstände der verschiedensten Art.

Bei all diesen praktischen Dingen kam es Erich sehr zu statten, daß er von denselben in frühester Jugend schon so viel gesehen, von seinem Vater so manches darüber gehört und seinen Artillerieleitfaden nicht ohne großen Nutzen studiert hatte. Doch blieb er deshalb auch nicht in den Fächern der gewöhnlichen Schulwissenschaften zurück und erwarb sich auf solche Art die Zuneigung seiner Vorgesetzten, besonders aber die des Oberfeuerwerkers Doll, der sich auch keine kleine Mühe mit ihm gab, um ihn in die schönen Geheimnisse der Mathematik einzuführen. Mit seinen Bekannten von früher her blieb Erich in einem, wenn auch spärlichen, Briefverkehr, wenigstens mit den Söhnen des Müllers Burbus; denn was seinen alten, treuen Lehrer Schmelzer anbelangte, so kam ein Brief, worin Erich demselben anzeigte, daß er nach einem guten Examen in die zweite Klasse der Schule aufgerückt sei, unerbrochen und mit der kurzen, traurigen Bemerkung zurück, daß der Adressat gestorben sei. Schmerzlich fühlte er sich davon betroffen, und es war ihm gerade, als sei dadurch das letzte Band zerrissen, das ihn an jenes stille Dörfchen knüpfte, wo das Grab seines Vaters war und wo vielleicht immer noch die armselige Hütte stand, die er bis jetzt als seine Heimat angesehen. Hier hatte er gehofft, Herrn Schmelzer einst besuchen zu können, alle die Orte wiederzusehen, die für ihn in einem hervorragenden Baume, einer eigentümlich geformten Felswand, einem kleinen Wasserfalle und tausend anderen Dingen ebensoviele Erinnerungen an seine Jugend waren, und sich wieder in jene Fernsichten versenken zu können, die ihm gerade dadurch, daß sie für ihn unerreichbar geschienen, mit so geheimnisvollem Reize umwoben waren, vor allem die leuchtende Fläche jenes, schönen See's mit der grünen Insel, an die er so oft im Wachen dachte und von der er im Schlafe nicht selten träumte, wobei er aber den See eigentümlicherweise oftmals unter nächtlichem Himmel sah, leise schlummernd, liegend zwischen den tiefdunklen Bergen, die ihn umgaben und über welchen er auf einmal das schöne Sternbild des Orion leuchtend emporsteigen sah.

Da hatte er sich denn lebhaft an jene Nacht erinnert, als er von dem gräflichen Schlosse floh, und dabei begreiflicherweise auch der Zigeunerin, die ihm bei der Flucht behilflich gewesen, und vor allem des kleinen, blassen Mädchens mit dem ernsten, kummervollen Blicke. Daß der Geschichte seiner angeblichen Wilddieberei nicht mehr gedacht worden war, hatte ihm Georg Burbus geschrieben, und Erich wunderte sich eigentlich nicht darüber, mehr aber über eine andere Nachricht, daß nämlich der alte Graf Seefeld eine Annäherung an Doktor Burbus gesucht und dieser einer Einladung auf das Schloß bereitwilligst und ohne viel Bedenken Folge geleistet, ja, daß er seit jener Zeit Herrn Christian Kurt mit voller Zustimmung des Doktors Herbert häufig besuchte und daß vielleicht infolge hiervon die alte Linde mit dem Z T eines schönen Morgens umgehauen wurde.

Begreiflich finden wir es übrigens bei dem empfänglichen Gemüte Erichs für alle neuen Eindrücke und besonders für die Eindrücke seiner militärischen Umgebung, daß jene andere Zeit, die für ihn ja doch eine recht kummervolle gewesen war, so rasch verblaßte und ihm in kurzem erschien wie ein trüber, verschwommener Traum, aus welchem allein mit einiger Klarheit hervortraten das Bild des kleinen bleichen Mädchens und das leuchtende Gestirn des Orion.

Alles, was er über die Zigeuner erfahren hatte, bestand darin, daß die kranke Frau mit dem kleinen Mädchen von der Gräfin Seefeld noch ein paar Tage auf dem Schlosse behalten worden sei; von da ab wußte man aber auch dort nichts weiter von ihnen. Wer kümmerte sich auch darum! Dergleichen kommt und geht und wird mit derselben Gleichgültigkeit betrachtet wie ein Windzug, der heute von Süden, morgen von Osten herüber streicht und ebenso spurlos wieder verschwindet.

Auch Erich war nun in den Jahren, wo alles, was nicht unmittelbar seine täglichen Kreise berührte, wenig Eindruck auf ihn zu machen vermochte, in jenen Jahren, wo wir auch unsere vergangene Jugend so leicht vergessen und an Vorfälle nicht mehr denken, die aber alsdann Jahre später wieder so lebendig vor uns treten, als hätten sie erst gestern stattgefunden. Wenn man Erich heute sah, nach abgelaufenem ersten Schuljahre, und damit seine Erscheinung im langen, schwarzen Schullehrergewande oder auch in jenen alten Montierungsstücken, die ihm am ersten Tage verabreicht worden, verglich, so mußte man sich gestehen, daß man einigen Zweifel haben konnte, ob dieser junge, schmucke Soldat wirklich derselbe sei. Er hielt viel auf sich und war, wie wir wissen, von der Natur auch in äußeren Gaben reichlich bedacht. Selbstverständlich war es dagegen, daß er in Kleidung und Vergnügungen keinen Aufwand treiben konnte wie manche seiner bemittelten Kollegen; doch war er dagegen selbst ein so vortrefflicher, liebenswürdiger und gesuchter Kamerad, daß die anderen es ihm auf alle Weise möglich zu machen suchten, an ihren Vergnügungen teilzunehmen, wogegen er dann auch nicht ermangelte, alle lustigen, ja, tollen Streiche nicht nur mitzumachen, sondern häufig genug anzuführen. So war er der Erfinder jenes schönen Manövers, durch welches es ihm und gleichgesinnten Kameraden möglich wurde, die Brigadeschule, ein ehemaliges Kloster, dessen Hof und unbedeutender Garten mit einer hohen Mauer umgeben war, auch nach neun Uhr abends noch zu verlassen. Man nahm nämlich ein halbes Dutzend von den kleinen Schemeln der Schlafstube mit, band an jeden einen Bindfaden und stellte sie an die Mauer übereinander, um auf dieser allerdings gebrechlichen Leiter in die Höhe zu klettern, worauf nun der letzte von der Gesellschaft die Schemel in die Höhe ziehen mußte, welche alsdann auf der anderen Seite sorgfältig verborgen wurden. Wozu diese nächtlichen Streifereien dienten, brauchen wir eigentlich nicht zu sagen; war Geld vorhanden, so trieb sich die lockere Bande bis zu dem letzten Pfennig in Wirtshäusern herum, um schließlich noch den ruhigen Bürger durch Streiche der verschiedensten Art in Angst oder wenigstens in Aufregung zu versetzen. So wurden Wirtshaus- und andere Schilder auf die ergötzlichste Art verwechselt und verhangen; so wurden Dachrinnen bei Regenwetter unten zugestopft, damit sich das Wasser einen anderen und oft sehr belästigenden Weg suche; da wurde die Wissenschaft des Anläutens an den Häusern durch Verbindung mehrerer Klingelzüge neben- und gegenüberliegender Häuser in allen Variationen mit dem größten Raffinement betrieben; da wurde beim nächtlichen Umhertreiben der beliebte, gespensterhafte Gänsemarsch geübt, wo einer hinter dem anderen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf tief herabgebeugt, als suche man etwas auf der Erde, im langsamsten Schritte dahinschlich, dabei harmlos Begegnende, am liebsten Damengesellschaften, in weiten Kreisen und Schlangenlinien umzog, bis sich vielleicht ein Begleiter dieser jungen Damen, nachdem er dem Treiben staunend zugeschaut, plötzlich als Offizier entpuppte und dann die ganze Bande mit einem sauve qui peut auseinander stob. Aber es gab auch nächtliche Unterhaltungen zarterer Art, wenn beim Namensfeste irgend einer Schönen Ständchen zur Guitarre gesungen wurden, oder auch vierstimmig, und hier war es hauptsächlich wieder Erich, der mit seinem großen musikalischen Talente dergleichen in Scene setzte, doch, wie wir hinzufügen müssen, bis jetzt noch beständig für fremdes Interesse.

Erich war mit Leib und Seele Soldat, sowie aufs ernstlichste mit seinen Studien beschäftigt, die auch selbst bei den oben erwähnten kleinen und an sich recht unschuldigen Ausschweifungen insofern keinen Schaden litten, als sein kräftiger, gestählter Körper und sein frischer Geist Spannkraft genug besaßen, um selbst nach durchschwärmter Nacht wieder unverdrossen an die Arbeit gehen zu können. Es wurde ihm das leicht, da, wie wir eben angedeutet, sein Herz noch keine Eindrücke empfangen hatte, die imstande waren, seine Gedanken lebhafter, wärmer zu beschäftigen, als es bis jetzt der Exerzierplatz und seine Bücher gethan; fühlte er doch auch durchaus keinen Drang danach, Leidenschaften kennen zu lernen, für die manche seiner Kameraden aufs glühendste schwärmten, ja, er fand es lächerlich, wenn bei jenen Serenaden der Betreffende mit gespannter Erwartung an ein schwach erleuchtetes Fenster hinaufsah oder in unverkennbarem Entzücken versicherte, es habe sich droben ein Schatten gezeigt oder ein weißer Vorhang sanft bewegt! Bei solchen Partien spielte Herr Bombardier Schmoller eine Hauptrolle, denn er ließ es sich angelegen sein, auf seine Art für die Ausbildung der jungen Brigadeschüler zu sorgen. Als Beamter der Brigadeadjutantur, wie er sich gern zu nennen pflegte, stand er natürlicherweise in bedeutendem Ansehen, welches dadurch aufs Höchste gesteigert wurde, daß niemand so wie er alle Schliche und Ränke kannte, um irgend ein Verbot zu umgehen und verbotene Früchte zu pflücken. Er nahm häufig Serenaden seinetwegen in Anspruch, und wenn man aus diesen Ständchen an den verschiedensten Namensfesten auf seine intimen Bekanntschaften schließen konnte, so mußten diese höchst zahlreich sein. Daraus machte er auch kein Hehl, und der hundertste Teil der Liebesabenteuer, die er erzählte, würde ihn zu einem zweiten Don Juan gemacht haben, wenn sie wahr gewesen wären. Auch Erich wurde bei ähnlichen Plaudereien häufig zu Mitteilungen aufgefordert und schämte sich fast, daß er eigentlich gar nichts zu sagen wußte. Endlich einmal erzählte er, gedrängt von den anderen, seine Begegnungen mit der Zigeunerin, sowie aus seinem Leben in Zwingenberg ein paar unbedeutende Scenen, die er mit Selma gehabt, begriff aber nicht, als ihm hierauf Herr Schmoller sagte wobei er mit einer gewissen heroischen Bewegung durch sein borstiges Haar fuhr , daß er sich, Erich nämlich, damals mit einer unbegreiflichen Borniertheit benommen. »Mir sollte so eine Selma mit hochblonden Haaren kommen!« meinte er, siegreich lächelnd. Daß nach den nächtlichen Vergnügungen der oben erwähnten Art die Aufmerksamkeit in den Schulstunden nicht immer die genügendste war, braucht man kaum zu sagen, wobei es alsdann häufig geschah, daß einer oder der andere der jungen Leute, der bei den ernsten Vorträgen in festen Schlaf gesunken war, auf eine unangenehme Art geweckt und zum Nachexerzieren oder einer Kasernenstrafe verurteilt wurde, wogegen indessen der Lehrer der Mathematik, Oberfeuerwerker Doll, es vorzog, durch recht schöne, verwickelte Aufgaben die Schläfrigkeit seines Auditoriums zu vertreiben.

Erich war sein Lieblingsschüler geworden und schien es auch bleiben zu wollen, wenigstens solange er die Schule besuchte; auch hatte ihm der alte Oberfeuerwerker in verschiedenen anderen Sachen, bei Anschaffung von Büchern, durch Einladung in seine bescheidene Wohnung und dergleichen allen möglichen Vorschub geleistet, ihn in seinen Studien auf jede Art ermuntert, kurz, sich als einen wahren Freund gegen ihn bewiesen.

Um so schmerzhafter war für Erich denn auch ein Vorfall im zweiten Jahre seines Schulaufenthaltes, welcher diese Freundschaft des Oberfeuerwerkers nicht nur ganz und gar fraglich machte, sondern ihn selbst als sehr undankbar darstellte, ein Vorfall, an dem er obendrein gänzlich unschuldig war.

Der Oberfeuerwerker nämlich hatte, neben vielen guten Eigenschaften, die etwas komische einer allzu großen Beweglichkeit und Lebendigkeit, besonders wenn er, einigermaßen erregt durch die mangelhaften Antworten seiner unaufmerksamen Zöglinge, mit einem mächtigen Schwämme in der Linken und einem großen Stück Kreide in der Rechten, förmlich vor der Tafel hin und her tanzte und auf einer kleinen Treppe auf und ab fuhr.

Die ausgelassene Jugend hatte schon häufig hinter ihm in solchen Augenblicken Bewegungen eines Hampelmanns gemacht; er hatte dies auch schon bemerkt, doch nichts darüber gesagt, ob es gleich seine Eitelkeit, die er in hohem Grade besaß, verletzte. Da hatte er eines Tages die halbe Klasse, und darunter auch Erich, wegen gründlicher Unaufmerksamkeit an dem Beweise nachexerzieren lassen, und als am anderen Morgen darauf die mathematische Stunde wieder begann und mit ihr der Oberfeuerwerker Doll, bemerkte er auf der großen schwarzen Tafel ein kolossales, kühn geschwungenes Wurzelzeichen, an dessen einem, weitgekrümmten Arme die Figur des Oberfeuerwerkers bedeutend zappelnd hing, während darunter die Worte standen:

»Rein mathematisch war Dolls Lebenslauf, Drum hing er sich an diesem Wurzelzeichen auf.«

Erich aber erschrak, denn die Schriftzüge waren wie von seiner Hand gemacht, und ein eigentümlicher Blick, welchen ihm der Lehrer der Mathematik herübersandte, schien die gleiche Vermutung auszusprechen; doch nahm er ruhig die kleine Hasenpfote, welche beständig im Bereiche seiner Hand lag, um damit über die Karikatur wegzufahren, als die Thür des Saales weit aufgerissen wurde und der Oberst, um einmal wieder nachzusehen, »wat das junge Volk lernt und ob se och noch sonstige Streiche machen,« eintrat. Leider fiel dabei sein erster Blick auf die Tafel, und daß er sich eines augenblicklichen komischen Gesichtsausdruckes nicht erwehren konnte, war wohl das, was den Oberfeuerwerker am meisten kränkte. Gleich darauf aber runzelte der Alte finster seine Stirn, schob seinen Helm mit einem kräftigen Rucke von der linken auf die rechte Seite des Kopfes, legte die Hände auf den Rücken und brüllte die Erschreckten an, während er wackelnd durch den breiten Gang zwischen den Bänken vorwärtsschritt: »Na, dat muß ich sagen, da mache sich ener enen verjnügten Morgen, wenn er dieses Grobzeug besucht! Hören Se, Herr Oberfeuerwerker, ick mache Sie selber verantwortlich, daß Sie mir diesen Millionen-Hund, der dat gethan, herausbringen! So enen Kerl sollte man von Rechts wegen aus der Schule entfernen! O, o und wie se alle so unschuldig dreinschauen! Sollte man nicht jloben, kener von denen allen wäre imstande, det Wasser zu trüben! Aber ick werde euch Possen treiben mit eurem Lehrer, mit eurem Lehrer, der« hier berührte er seinen Helm wie zum Gruße ein wenig »ein höchst respektierlicher Mann und Professor ist, der« damit berührte er den Helm zum zweitenmale »dat Portepee wie euer Oberst trägt, der« und hiermit zog er seinen Helm mit einem gewaltigen Schwunge tief herab »von Seiner Majestät unserem allergnädigsten König und Herrn daher gesetzt wurde, um sein Leben damit zu vergeuden, daß er sich die vergebliche Mühe macht, ener ruppigen Schwefelbande, wie ihr seid, mathematische Kenntnisse beizubringen ja, ener nixnutzigen Schwefelbande!« schrie er einen der Zöglinge speciell an, der vielleicht mit einem lächelnden Gesichtsausdrucke zu ihm emporgeschaut hatte und der sich nun vergeblich alle Mühe gab, die gefährliche Aufmerksamkeit von sich abzulenken, indem er rasch den Kopf niederduckte und in seinen Papieren kramte. Aber vergeblich; schon hatte ihn die schwere Hand des Obersten am Kragen gefaßt, und er mußte ihm an die Tafel folgen, wo er ihn vor den Oberfeuerwerker mit dem Befehle hinstellte, diese Pflanze »emal durch die Kreuz und Quer zu examinieren« und ihm dadurch Gelegenheit zu geben, wegen Faulheit und Unaufmerksamkeit ein abschreckendes Beispiel zu statuieren. Glücklicherweise aber hatte der Oberst gerade einen herausgesucht, der in der Mathematik vortrefflich gesattelt war und das Kreuzfeuer der Fragen des gekränkten Oberfeuerwerkers so befriedigend aushielt, daß der Alte anfing, mit dem Kopfe zu nicken und nach verschiedenen Na, Na! und O, O! den Betreffenden nicht gerade ungnädig nach seinem Platze entließ, glücklicherweise für die ganze Klasse nur nicht für Erich, denn wenn sich der Zorn des Obersten nicht gelegt hätte, so würde er wahrscheinlich durch eine strenge Untersuchung, wie er sie zu führen verstand, den wirklichen Thäter entdeckt haben, und der Verdacht wäre nicht auf einem Unschuldigen haften geblieben.

Daß aber Erich unter diesem Verdachte stand, merkte er von der Stunde an aus dem Benehmen des Oberfeuerwerkers, und wenn auch Erich eines Tages seine Unschuld versicherte, so erhielt er nur den bekannten Spruch zur Antwort: » Qui s'exuse s'accuse!« Ueberhaupt war es eigentümlich, daß Erich Freiberg bei allen ähnlichen Veranlassungen als Rädelsführer seiner Klasse angesehen wurde, was er indessen nicht war; nicht als ob er ein Ausbund von Weisheit gewesen wäre: nahm er doch häufig genug Veranlassung, von diesem oder jenem tollen Streiche abzuraten, ja, sich von seinen Kameraden zu trennen und so die Ausführung zu verhindern, ohne aber irgend welchen Dank dafür zu haben, denn bei seinen Vorgesetzten hieß es alsdann gewöhnlich: »Wenn auch obendrein der Freiberg dabei gewesen wäre, so würde es noch toller zugegangen sein!«

Erichs Aeußeres hatte sich in den letzten Jahren außerordentlich und sehr vorteilhaft entwickelt; er war nicht nur größer geworden, sondern erschien mit seinen breiten Schultern, seiner gewölbten Brust, die neben seiner schlanken Taille fast zu stark hervortrat, von einnehmender, eleganter Gestalt, wozu sein Kopf mit den wohlgeformten und doch nicht zu regelmäßigen Gesichtszügen, seinen klaren, glänzenden Augen, seiner hohen Stirn und dem blonden, lockigen Haare vortrefflich paßte und die Erscheinung des wirklich schönen jungen Mannes harmonisch ergänzte. Daß ihm manch sinnender Mädchenblick nachschaute, wußte er kaum, denn er war in diesem Punkte von einer so merkwürdigen Unbefangenheit, daß Herr Schmoller, an seinem Geschlechte zweifelnd, {bild} zuweilen zu sagen pflegte: »Entweder ist dieser Freiberg ein ausgemachter, verstockter Sünder oder in gewisser Beziehung ein blitzdummer Kerl!« Dabei war er sowohl in seinen Studien auf der Schule als in seinen Kenntnissen auf dem Exerzierplatze, in der Reitbahn oder auf dem Fechtboden einer der ersten, ja, hier so sehr der Liebling des Maitre d'Escrime, eines alten Franzosen, daß dieser mit Stolz zu sagen pflegte: , Ce jeune homme sera un jour une fine lame d'épée!« Begreiflich aber war es bei seiner Körperkraft, seiner Größe und Gewandtheit, daß er, wie oben schon bemerkt, bei allen vorkommenden Ausschweifungen als Anführer der übrigen galt, und hatte er sich dieses Renommee hauptsächlich dadurch erworben, daß, wenn er sich einmal mit seinen Kameraden in ein zweifelhaftes Unternehmen eingelassen, er es alsdann auch mit ebenso viel Mut wie Ausdauer und Geschicklichkeit zu Ende führte. Ja, auch sogar um andere, die sich in Not befanden, aus derselben zu befreien, hatte er sich schon häufig in verdrießliche Händel verwickelt. So, als er eines Nachts ziemlich spät mit einigen Kameraden nach Hause zog, bemerkten sie in einer etwas verrufenen Kneipe eines entlegenen Stadtviertels durch die Fenster des Lokales eine bedeutende Schlägerei, und zwar von einer Uebermacht von Civilisten, gegen wenige Leute von der Artillerie, die, in einer Ecke zusammengedrängt, sich mit Mühe ihrer Haut wehrten. Die Brigadeschüler, Erich an der Spitze, wollten sogleich zu Hilfe in das Haus dringen; doch war die Thür verschlossen und verrammelt, worauf sich der junge Freiberg nicht lange besann, einen tüchtigen Stein von der Straße aufhob, von außen auf die niedrige Fensterbank sprang, alsdann mit dem Rücken zuerst durch Fenster und Glas in die Stube einbrach, zum Schrecken der Civilisten und zur Ermunterung der anderen, die nun unter Erichs Beihilfe ihrerseits zum Angriffe übergingen, und zwar so erfolgreich, daß die Feinde in kurzem das Zimmer durchs offene Fenster hindurch räumten. Leider aber erschien in diesem Augenblicke eine von dem Wirte herbeigerufene Infanteriepatrouille, vor welcher Erichs Kameraden draußen am Fenster nach allen Richtungen ausrissen und die ihn mitsamt seinen geretteten Artilleristen festnahm und auf die Hauptwache brachte. Freilich wurde er am anderen Morgen von der Brigadeschule reklamiert, um von dem Präses derselben, Hauptmann Wetter, mit vierzehn Tagen Stubenarrest und mit zweimonatlicher Entziehung jeder Erlaubnis zum Ausgehen bestraft zu werden. Und zwar aus besonderer Gnade entging er dieses Mal einem schärferen Arreste, weil der Schulvorstand anzunehmen geneigt war, daß an der Erzählung Erichs, wie er in die Schlägerei hineingekommen, doch vielleicht etwas Wahres sein könne.

Dabei aber war und blieb er harmlos, wie der Jüngste der Klasse, und wo es neben thörichten Geschichten kindische Streiche auszuführen galt, da fehlte er gewiß nicht, und hierbei konnte man mit Recht sagen, daß er der Anführer war.

So saß die ganze Stubenkameradschaft an einem trüben Sonntagnachmittage im Winter verdrießlich bei einander, weil keiner mehr einen Kreuzer Geld hatte und weil auch der Kredit in verschiedenen Wirtshäusern über die Gebühr angestrengt worden war. Nach verschiedenen, meist sehr chimärischen Projekten, um die leere Kasse zu füllen, machte Erich den Vorschlag, eine Theatervorstellung zu geben und dazu die wohlhabenden Kameraden der benachbarten Stuben gegen ein Eintrittsgeld von drei Kreuzern einzuladen. Publikum, das sich zu Hause gehörig langweilte, war ringsumher genug vorhanden, denn der Hauptmann hatte wegen verschiedener grober Excesse der ganzen Klasse Stubenarrest gegeben.

Ein langer, hagerer junger Mensch mit einer dünnen Fistelstimme, welche noch außerdem bei jedem dritten Worte überzuschlagen pflegte, mußte sein Hemd über die Beinkleider anziehen, wurde mit einem Fouragierstrick umgürtet, mit einem spitzigen Hute von blauem Papier geschmückt und dann mit einer Trompete, welche zuerst von der Musikstube entwendet werden mußte, auf den langen Korridor hinausgeschickt, wo er nach einigen mißlungenen Versuchen, dem Instrument einen kläglichen Ton zu entlocken, mit lauter Stimme einem hohen Adel und verehrungswürdigen Publikum verkünden mußte, daß mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung auf dem Zimmer Nr. 8 nach Verlauf von einer halben Stunde ein noch nie dagewesenes Schauer- Trauer- und Thränenspiel unter dem vielversprechenden Titel: »Der Bund des Hungers und des Durstes«, aufgeführt werden sollte, wobei man für die Kleinigkeit von drei Kreuzern nicht nur zusehen, sondern auch handelnd mitwirken dürfe.

Natürlicherweise wurde diese Ankündigung mit schluchzender Stimme vorgetragen und aufs gierigste angehört.

Die Vorbereitungen zu dem unerhörten Trauerspiele waren noch nicht einmal ganz beendigt, da drängte sich schon das ausgewählteste Publikum vor der Thür Nr. 8.

Diese Vorbereitungen, von Erich geleitet, bestanden darin, daß vier der aufgeprotzten, das heißt aufeinander gestellten Betten so in die Stube hineingezogen wurden, daß sie einen schmalen Gang bildeten, der hinten durch ein quer vorgeschobenes Bett geschlossen war. Von den Seitenbetten hingen Leintücher herab, was schon einen eigentümlichen, geheimnisvollen Anblick bot, zu dessen Erhöhung es aber wesentlich beitrug, daß hinter dem quergestellten Bette drei Schemel aufeinander gestellt emporragten, ebenfalls weiß drapiert, und auf diesem befanden sich übers Kreuz zusammengestellt zwei Säbel und eine Pistole, wobei der Lauf der letzteren als Lichtträger diente, und zwar eines dünnen Talglichtes, dessen Schein noch obendrein durch eine Papiertüte gedämpft wurde. Der Gang zwischen den Betten war mit einem der langen Teppiche belegt, welche sonst zur Unterlage des Sattels dienten, und ein Ende dieses Teppichs verlor sich unter der quer vorgestellten Bettlade, wo es von kräftigen Händen festgehalten wurde. Auf diesem Bette saß Erich Freiberg, wunderlich in Leintücher vermummt und zusammengekauert, während ein anderer seiner Kameraden vor der Thür des Zimmers stand, um die Schaulustigen nach Bezahlung des Eintrittsgeldes, und zwar nur immer einen derselben, einzulassen. Dieser wurde angewiesen, sich dem Tempel des Hungers und des Durstes zu nähern, worauf er lautlos auf dem Teppich bis zu der vermummten Gestalt hinschritt, die ihm mit einer Grabesstimme sagte:

»Jüngling, du bist also gesonnen, in den ewig bestehenden Bund des Hungers und des Durstes einzutreten? Prüfe dich genau, denn die Enttäuschung ist fürchterlich!«

Natürlicherweise bekräftigte jeder seinen Wunsch der Aufnahme durch ein lautes »Ja«, worauf ihn die Gestalt aufforderte, näher zu treten, und ihm einen fürchterlichen Schwur, die unverbrüchlichste Verschwiegenheit betreffend, vorsagte, ihm alsdann seinen Kopf tief herabdrückte und ihn aufnahm in den Bund mit den Worten:

»So betrachte dich denn als Mitglied einer Verbrüderung, die seit Beginn der Welt bestanden, und auch bestehen muß, solange gegessen und getrunken wird. Hilf dem Schwachen, teile dem Armen mit und fahre am Ende deines Lebens getröstet ab!« Bei dem letzten Worte »ab« wurde ihm von den obenerwähnten unsichtbaren Händen die Decke unter den Füßen weggezogen, worauf er dröhnend auf den Rücken niederfiel. Da nun aber bei diesem Schauspiele jeder so viel Corpsgeist und auch nebenbei Schadenfreude hatte, um den draußen Harrenden von dem, was er gehört und gesehen, nichts zu verraten, so erschien jeder auf dem Gange mit Miene und Ausdruck der höchsten Befriedigung, so daß es gelang, ungefähr sechzig Mitglieder a drei Kreuzer in den Bund des Hungers und des Durstes aufzunehmen, und wäre die Sache wohl noch weiter fortgegangen, wenn die Wache nicht Veranlassung genommen hätte, sich nach dem beispiellosen Spektakel an einem Sonntagnachmittage zu erkundigen; doch wurde Ruhe gelobt und die Sache dadurch wieder gütlich beigelegt.

Nicht ganz so glimpflich verlief eine andere Episode aus diesem Zusammenleben eines Dutzends dieser jungen, sprudelnden Köpfe, die so manche Stunde für sich hatten, wo sie sich, wie es eben gehen wollte, zu entschädigen suchten für ihren Mangel an Freiheit, durch moralisches Zerren und Reißen an der ihnen durch den Schulzwang angelegten harten, oft unerträglich scheinenden Kette. Die Sache mit den Schemeln, welche zur Uebersteigung der Mauer dienten, war verraten worden, und ein paar Infanterieposten, die nun allabendlich ringsumher ihren Spaziergang machten, verhinderten das Ausgehen ohne Erlaubnisschein. Karten- und sonstige Spiele waren nicht gestattet, das Rauchen verboten und wurde nur hie und da an unnennbaren Orten betrieben. Daß die Schüler es in den sogenannten Freistunden nicht liebten, besonders wenn die vorgeschriebenen Aufgaben notdürftig gemacht waren, abermals die langweiligen Bücher vorzunehmen, mit denen man den ganzen Tag geplagt wurde, verstand sich ebensosehr von selbst, als daß der unruhige Geist dieser eingesperrten jungen Leute auf die tollsten, extravagantesten Streiche geriet. Gewöhnlich aber, und immer, wenn sie von Erich Freiberg ausgedacht wurden, waren sie so harmloser Art, daß man sie für einen Zeitvertreib für Knaben von zwölf Jahren hätte halten können. So an einem Feiertage, als des schlechten, nebeligen Wetters wegen jede Erlaubnis zum Spazierengehen verweigert wurde und nicht einmal so viel Kasse vorhanden war, um die langsam schreitende Zeit durch irgend ein erregendes Getränk rascher dahineilend zu machen, und deshalb Erich an dem trüben, langweiligen Spätnachmittage ein künstliches Artilleriemanöver {bild} vorschlug, welches darin bestand, daß einer aus der Gesellschaft, und zwar ein kurzer, dicker Freiwilliger, in Decken eingewickelt und eingenäht, das Geschützrohr vorstellen muhte, und von vier anderen, welche die Lafette bildeten, auf die Schultern genommen und im scharfen Trabe im Zimmer umhergeführt wurde, bis man auf: »Batterie halt!« das Geschütz auf dem Tische abprotzte und nach allen Regeln der Kunst bediente, wozu Nr. 1 den Stubenbesen in der Hand hatte, Nr. 3 aber das Schüreisen des Ofens. Welcher Höllenlärm dabei entstand, kann man sich wohl denken, besonders als das arme Geschützrohr durch eine zu rasche, unvorsichtige Wendung vom Tische herabrollte und aus vollem Halse zu schreien und zu schimpfen anfing. Doch half ihm das alles nichts, er wurde aufs neue auf die Lafette befördert und im Carriere weiter geführt, was aber einen so heillosen Lärm verursachte, daß die Kasernenwache heraufkam, um sich nach dessen Ursache zu erkundigen und Ruhe zu gebieten aber vergebens. Man war so im Eifer des Gefechtes, daß der Vorschlag, auch noch im Feuer zu exerzieren, von allen, mit Ausnahme des unglücklichen Schlachtopfers, jubelnd begrüßt wurde. Das Schüreisen wurde heimlicherweise heiß gemacht und beim abermaligen Kommando: »Geschütz Feuerrrr!« wurde es unter einem unauslöschlichen Gelächter an die betreffende Stelle gehalten, worauf aber der eingenähte Freiwillige so verzweifelnde Anstrengungen machte, daß er seine Bande sprengte, aufsprang und die Quälgeister mit einer wahren Flut von Vorwürfen überschüttete, wobei er sich einen gewissen Körperteil so anhaltend und mit so komischen Gebärden rieb, daß die ganze Geschützbedienung unter einem brüllenden Gelächter auf Schemel und Betten zurückfiel um gleich darauf aber mit einer merkwürdigen Schnelligkeit wieder in die Höhe zu fahren. Keiner hatte es bemerkt, daß die Thür geöffnet worden und unter derselben nicht nur der Hauptmann Wetter, sondern auch der alte Oberst selbst erschienen war, der, seine beiden Fäuste in die Hüften gestemmt mit zornglühendem Gesichte und einem bedenklichen Kopfschütteln diese Entweihung einer königlichen Kaserne sowie der geheiligten Stubenutensilien betrachtete.

Was geschehen war, wußte der Hauptmann Wetter bereits durch die Wache und meldete es dem Obersten achselzuckend, worauf dieser mit drei langen Schritten in die Mitte der Stube trat, sich hier rings umschaute und dann mit der Nase in die Luft schnüffelte, da sich ein allerdings bedeutender Brandgeruch bemerklich machte.

»So,« rief, er, »ihr habt also exerziert; na dat könnte ick mir schon gefallen lassen und müßte es loben, wenn ich euch unten in dem Geschützschuppen angetroffen hätte. Aber hier« dabei erhob sich seine Stimme, sehr unangenehm anschwellend, als er fortfuhr: »auf der Stube einer königlichen Kaserne, wo Ruhe und Ordnung, Zucht und Sitte herrschen soll, hier, wo die Herren Freiwilligen und Brigadeschüler über ihren Büchern sitzen sollen, und zwar in einem anständigen Anzuge, während diese Schwefelbande aussieht, als sei sie einer Jahrmarktsbude entloofen!«

Und das mußte wahr sein, der Anzug der sämtlichen Beteiligten sah ungemein phantastisch aus, denn die Geschützbedienung war nur bekleidet mit ihren Stiefeln, hatte den Säbel über das Hemd geschnallt und den Helm auf dem Kopfe, während sich Erich Freiberg als Kommandierender dadurch auszeichnete, daß er seinen Waffenrock wie eine Husarenjacke auf die linke Schulter gehangen hatte. Das unglückliche Geschütz aber in Hemd und Unterhosen suchte seine Blöße zu bedecken, indem es sich in diesem fürchterlichen Augenblicke in die wollene Bettdecke wickelte, die aber hinten ein bedeutendes Brandloch zeigte.

»Und bei all dem Unfug haben se obendrein noch mit Feuer gespielt, denn ick rieche dat deutlich; forschen Se mir nach, Herr Hauptmann Wetter, wat diese Millionenhunde angestellt haben! Und Er da hinten,« schrie er auf einmal im höchsten Zorne, »ick werde Ihm helfen, das Schüreisen vor seinem Obersten zu verheimlichen hervor damit! Nun, wat haben Se gefunden, Herr Hauptmann Wetter?«

Dieser, ein wohlwollender Offizier und gutmütiger Vorgesetzter, konnte nun nicht anders, als achselzuckend sagen, daß man wahrscheinlich auf gar zu natürliche Art das Abbrennen des Geschützes vorgestellt.

»Mit einem Schüreisen seh einer dat Grobzeug an!« rief der Oberst. »Und wohin haben se dir gehalten?« fragte er den kleinen dicken Freiwilligen, der denn auch nicht genug von einem Mucius Scävola an sich hatte, um seine Schmerzen zu verbeißen, sondern mit der Hand an die betreffende Stelle fuhr, worauf ihn die kräftige Faust des Obersten rasch herumdrehte und dieser das große verbrannte Loch in der Bettdecke sah.

»Ne, hören Se, Herr Hauptmann Wetter,« rief er nun, vor Zorn blaurot im Gesicht, »wat zu toll is, dat is zu toll! Ick hätte große Lust, über diese Bande species facti aufnehmen zu lassen, sie von der Schule wegzuschicken nach irgend einer Batterie, wo sie gezwiebelt würden, dat se Christum erkennen lernen sollten! Ist Ihnen je so ene Geschichte vorgekommen? Mich noch nicht, Gott straf' mir, und ich diene doch schon über vierzig Jahre! Lächeln Se mir nicht, Herr Hauptmann Wetter, ick kann dat in diesem Augenblicke durchaus nich ertragen! Es is allerdings wahr, daß dieser korpulente Freiwillige eine sehr klägliche Figur spielt, aber ick bitte Se, Herr Hauptmann Wetter, es kann och nich anders sind, wenn man jemand auf so unverantwortliche Art mit dem Schüreisen abfeuert! Aber wer is hier der Rädelsführer? Ick will den Rädelsführer haben, um ihn exemplarisch zu bestrafen!« .

Eine Sekunde lang meldete sich niemand; dann aber trat Erich Freiberg vor, senkte den gezogenen Säbel salutierend gegen den Boden und sagte: »Ich, Herr Oberst, war es, der das Geschütz zusammengestellt, der es kommandiert und der auch den Befehl gab, im Feuer zu exerzieren.«

»So Er! Ah, schon wieder dieser Freiberg! Ick kann Ihm versichern, dat Er so tief in meiner Gunst herabsinkt, dat et ihm nimmer gelingen wird, die Epauletten zu erlangen!«

»Es ist eigentlich schade um ihn,« sagte begütigend der Chef der Schule; »er ist sonst nicht unaufmerksam, und auch über seine Aufführung ließe sich manches Gute sagen, wenn nur nicht dieser unüberlegte Hang zu allen tollen Streichen bei ihm vorherrschend wäre!«

»Dat is derselbe Freiberg, der neulich schon wegen einer Schlägerei bestraft wurde Herrr, finden Se dat nich unwürdig von einem Brigadeschüler?«

»Allerdings, Herr Oberst, aber was die Schlägerei anbelangt. ..«

»Ick weiß schon, dat der Herr Hauptmann Wetter mildernde Gründe annahm, und wir wollen nich weiter darüber reden; aber wie Se entschuldigen wollen, königliche Decken mit einem heißen Schüreisen zu verbrennen und zugleich einem Kameraden dat möcht ick mir erklären lassen.« »Ich weiß leider keine Entschuldigung, Herr Oberst.« »Na, dat freut mich, und da ick ooch keene weeß, so wird der Herr Hauptmann Wetter, Ihr Chef, wohl nix dagegen haben, wenn ick Se drei Tage aufs Holz schicke bei Wasser und Brot

– drei Tage Mittelarrest! –

Verstanden, Herr Hauptmann?«

»Zu befehlen, Herr Oberst!«

»Und sogleich abzuführen!«

Der Vorstand der Schule legte stillschweigend die Hand an seinen Helm und folgte alsdann dem Obersten, der mit seinem gewöhnlichen wackeligen Schritte hierauf zur Thür hinausging, nicht ohne daß er vorher noch einmal den Zurückbleibenden zu Gemüte geführt, daß aller militärische Dienst nur durch Ordnung aufrecht zu erhalten sei und daß Ordnung unter allen Umständen gehandhabt werden müsse.

Nun ist drei Tage Mittelarrest beim aktiven Militär eigentlich keine besonders hohe Strafe, obgleich es auch hier nicht zu den Annehmlichkeiten des Lebens gehört, drei Tage und drei Nächte in einem hölzernen Käfig zu sitzen, der vielleicht vier Schritte lang und zwei Schritte breit ist, mit einer hölzernen Pritsche, einem Wasserkruge und einem schmutzigen Eimer versehen, in einem Käfig, der selbst am Tage nur dämmerig erhellt ist durch ein kleines, vergittertes Loch an der Thür, welches auf die trübe Wand eines großen Gemaches geht, in welchem sich diese Käfige, zehn bis zwölf an der Zahl, befinden. Dabei hat man zur Nahrung ein Stück schwarzes Brot und Kälte genug, denn wenn auch der Vorschrift gemäß das Arrestlokal während der Winterszeit abends geheizt werden soll, so erfüllen doch die paar Stückchen Holz, welche der gewöhnlich sehr eigennützige Arrestaufseher in den großen Ofen schiebt, durchaus nicht diesen Zweck. Ja, wie oben schon gesagt, es ist bei der Truppe sehr leicht, auf einige Zeit in Nummer Sicher eingesponnen zu werden, für ein vorlautes Wort, für einen bedeutenden Fehler beim Exerzieren, für einen mangelhaft angenähten Knopf an der Uniform, für einen Rostflecken am Säbel oder an der Kinnkette des Pferdes, für einen fehlenden Hufnagel oder dergleichen, wogegen es für einen Zögling der Brigadeschule schon ein Ereignis war, drei Tage Mittelarrest zu erhalten, auch weil diese Strafe als solche in das Abgangszeugnis gesetzt wurde. Doch war hier nichts dagegen zu machen. Der Befehl ging unmittelbar von dem Obersten aus, unter dem die Schule stand, und es war an kein Zurücknehmen desselben zu denken, obgleich der nachsichtige Hauptmann Wetter hierzu einen Versuch machte, während er den Obersten die Treppe hinabgeleitete.

»Es wird ihm durchaus nich schaden,« hatte der Alte zur Antwort gegeben und sich alsdann entfernt, indem er die rechte Hand, mit derselben einen weiten Bogen beschreibend, an seine Mütze gelegt; »und ick muß bitten, daß es heute abend noch geschieht.« Der Vorstand der Schule ging verdrießlich in das Zimmer des dienstthuenden Feldwebels, um ihn den Befehl des Obersten ausführen zu lassen.

Erich hatte sich achselzuckend in sein Schicksal ergeben und war in kurzer Zeit zu dem bevorstehenden unliebsamen Ausgange angekleidet, wobei sich ihm die Kameraden unter Dankesbezeigungen, daß er sich bereitwillig für sie geopfert, so erkenntlich als möglich bewiesen; und dazu hatten sie vollkommen Ursache, denn was den schwärzesten Punkt der Anklage betraf, das Heißmachen des Schüreisens, so war diese Illustration des Geschützexerzierens ihm ja ganz gegen seinen Willen eingeflochten worden. Alle aber bewegten sich ziemlich betäubt ob der ungeheuren Strafe von drei Tagen Mittelarrest, für einen Brigadeschüler nämlich, um den Kameraden herum; jeder bot ihm irgend etwas an, was er sich der harten Pritsche wegen um den Leib wickeln sollte, und der dicke Freiwillige, der das Geschütz vorgestellt hatte, trieb die Selbstverleugnung so weit, daß er unter Verpfändung eines vergoldeten Ringes, eines Familien- und Erbstückes, wie er sagte, einen Schoppen Rum auftrieb, der in einer platten Flasche zwischen Stiefel und Strumpf Erichs verborgen wurde, um so in das Arrestlokal eingeschmuggelt zu werden. Es gilt in diesen betreffenden Fällen ebensowohl um die Kälte der Nacht zu vertreiben, sowie auch als Schlaftrunk, und ist sehr probat. Eine schlechte, defekte Jacke oder Uniform, wie sie bei der Truppe zum Arrest angezogen wird, besaß Erich als Brigadeschüler nicht, und so hätte man ihn, als er nun fertig zum Abholen war, ebensowohl für einen hübschen jungen Mann halten können, der in eine Abendgesellschaft geht, als für einen zu drei Tage Mittelarrest Verurteilten, der gerade im Begriffe ist, dorthin abgeführt zu werden.

Da öffnete sich die Thür und herein trat der Bombardier Schmoller, ausnahmsweise mit einem recht verdrießlichen Gesichte.

»Hol' euch der Henker alle miteinander!« rief er, auf der Schwelle stehend, »treibt ihr das tollste Zeug, und nicht nur zum Schaden eurer eigenen Dickköpfe, sondern auch zum Verdruß anderer ehrlicher Leute, die durch euch geschunden und geplagt sind.«

Schmoller hatte den Säbel umgeschnallt und befand sich, ungewöhnlich zu dieser Tages- oder vielmehr Abendzeit, unter der {bild} Pickelhaube, was jedenfalls etwas zu bedeuten hatte; auch zog er gerade seine Handschuhe an, während er unter den linken Arm einen Zettel geklemmt hatte, den er noch nicht Zeit gefunden, irgendwo hinzustecken.

»Was hat's denn eigentlich gegeben?«

Ein halbes Dutzend erzählte, durcheinander rufend, die ganze Geschichte, und auch wie Erich Freiberg alles auf sich genommen. »Wofür er jetzt drei Tage brummen muß,« sagte Schmoller; »es geschähe übrigens euch Kindsköpfen allen miteinander recht, wenn ihr heute nacht auf der harten Pritsche liegen müßtet! Aber so komm denn, Erich, damit wir keine Zeit verlieren!«

»Mit dir wohin?«

»Komische Frage. Siehst du mir denn nicht an, daß ich in Amt und Würden bin? Hatte deshalb auch wohl ein Recht, mich über eure kindischen Streiche zu beklagen? Will da vorhin auf meiner Schreibstube noch rasch eine Arbeit vollenden, um dann ganz gemütlich meiner Wege zu ziehen, als mich der Feldwebel aufgreift, um, weil sonst kein Unteroffizier um den Weg ist, einen Taugenichts wie du in Arrest zu bringen. Ich sage dir, es nimmt mir das eine kostbare Zeit weg, die ich anderswo besser hätte anwenden können. Aber nur vorwärts. Hier damit schlug er auf den Zettel ist der Vorzeiger dieses, eine Eintrittskarte für dich zu jenem erhabenen Orte, wo da ist Heulen und Zähneklappern!«


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