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Siebentes Capitel.

Der Spruch des Obertribunals.

Zu einer für die Sitten der höhern Stände außerordentlich frühen Stunde fuhr am Palais des Fürsten von Hohenberg in der Stadt ein Wagen vor, dem eine hohe, schlankgewachsene, schon ältere weibliche Erscheinung entstieg. Sie fand die Dienerschaft in voller Bewegung. So schnell hatte man die Rückkunft der Herrschaften nicht erwartet. Um Mitternacht waren sie angekommen nach einer Fahrt ohne Aufenthalt, fast wie vom Sturmwinde dahergeführt...

Es war ein regnerischer Tag. Die Aussteigende achtete kaum des Schirmes, den der Bediente über sie hielt. Mit raschen Schritten war sie unter dem Säulenportal, die Stiegen hinauf, an die Zimmer der Fürstin gekommen, wo sie trotz der frühen Stunde Einlaß fand. Die Kommende war eine Frau, der das ganze Palais wie ihre eigne Wohnung offen stand, Pauline von Harder.

Die Fürstin, eben erst nach der ermüdenden so plötzlich anberaumten Rückfahrt von Hohenberg von ihrem Lager erstanden, ordnete in einer Anzahl von Paketen und Zusendungen aller Art, die sie auf dem Hohenberg nicht hatte empfangen wollen. Sie war in ihren Räumlichkeiten etwas beschränkt. Das große Palais trug überall die Spuren des langen Alleinbesitzes durch den Generalfeldmarschall. Das hier den Frauen gebührende untere Stockwerk war vernachlässigt und bedurfte eines Umbaues, zu dem dem Fürsten jetzt die Mittel und die Muße fehlten. So war sie auch auf kaum drei Zimmer und eine Anzahl Kabinette beschränkt, deren Ausstattung nach den Anforderungen des neuesten Komforts viel zu wünschen übrig ließ. Die übergroßen, hohen, oben gerundeten Fenster hatten etwas Peinlich-Feierliches, in das sich Pauline von Harder am wenigsten finden konnte. Jedes Mal, wenn sie zur Fürstin kam, war ihr erstes Wort eine Anklage ihrer Zimmer. Nein, diese Reitsäle, nein, diese Kirchenfenster, nein, diese Laternen-Existenz! Ihr müßt bauen lassen, dieser alte Palast-Styl ist zu rococo geworden, zu unbequem! Alle Zimmer wie Eßsäle in den Kasernen, wie die Räume eines anatomischen Museums! Hier könnt' ich nicht leben! Wie Das hier zieht! Nein, treten Sie hierher, Melanie, wie hier die Fenster wackeln! Halten Sie die Hand dahin! Und diese Parketts, diese Thüren, diese Plafonds! Hier brecht Ihr einmal förmlich durch oder die Decke fällt Euch eines schönen Morgens gradezu auf den Kopf!

Heute machte die Geheimräthin eine Ausnahme von dieser fast stereotypen Regel. Sie überraschte die Fürstin auf ihrem gewöhnlichen Etablissement, einem an ein großes Fenster gerückten Durcheinander von Stühlen, Halbsophas, Chaiseslongues, »Balzacs«, die rings um einen Tisch gerückt waren und so standen, daß man auf ihnen sitzend oder liegend ein volles Licht genoß. Die Fürstin war nach ihrem häuslichen Winkelwerk in der alten Komthurei sehnsüchtig nach dem Lichte geworden und lebte hier wie eine Blume dem hellen Tage zugewandt. Und die Geheimräthin tadelte beim Eintreten gewöhnlich auch diese Niederlassung. Immer trat sie mit dem zweiten Theile ihrer Predigten ein: Aber, Beste! Sie sitzen schon wieder auf der Straße! Ich sehe Sie schon wieder zum Fenster hinausfallen! Sie haben nun das Einzige, was diese alte Kommode von Palais noch brauchbar macht, die dunkeln Winkel und dennoch – rücken Sie doch die Etagère da fort und stellen Sie das Kanape dahin – Himmel, wie könnt' ich so aushalten! Ich würde die Chaise longue umwenden, so fällt das Licht besser, hier die Tabourets, da der Spiegel! Die Konsolen müssen drüben hin an den Blumentisch, mit dem würd' ich die Chaise longue maskiren und den Balzac, den würd' ich dorthin schieben, wo der Fürst das Licht auf sich fallen hat! Welche Frau läßt denn immer das Licht auf sich fallen und die Männer im Dunkeln sitzen! Grade umgekehrt!

Aber auch diese zweiten stereotypen Eintrittsworte der Geheimräthin fielen heute fort. Sie hatte nie ein Besserwissen bei ihnen im Sinne, sondern nur ein Besserwollen, wirkliche Absicht sich nützlich zu erweisen. Der Fürst war ja fast ihr Sohn geworden und die Fürstin noch mehr, ihr Bijou. Sie hatte diese zwei Menschen von der ganzen übrigen Welt wie losgelöst und gleichsam für sich adoptirt. Gesellschaftlich existirten sie nur für sie und Diejenigen, denen sie gestattete, sich ihnen zu nähern. Und regelmäßig auch, wenn Pauline die Bauart des Palais und die Anordnung des Komforts getadelt hatte, bewunderte sie die Toilette der Fürstin und ihre Schönheit. Das stand so fest. Erst der Ausfall auf diese Treppen, diese Fenster, dann sogleich eine Polemik gegen die Chaises longues und die Balzacs, aber zur Aussöhnung dann auch: Sie haben freilich das Helldunkel der petits coins nicht nöthig! Sie sind ein Edelstein, der immer à plein jour gesehen werden muß! Und diese allerliebste gelbe Kapotte, wie lange tragen Sie die? O wie lieb hab' ich die natürliche Seide! Sie erinnert mich immer an die zarten Cocons von Italien... charmant, diese Morgenrobe! Wie allerliebst das Gewebe dieser Brandenbourgs! O wie bewundr' ich Ihren Geschmack, Sie sind schon die Tonangeberin der Gesellschaft geworden und Alles richtet sich nach Ihnen!

Heute wurde aber auch diese Anerkennung der Schönheit, des Geschmackes und der Morgentoilette nicht ausgesprochen, obgleich grade diese neu war und für den Herbst hier schon die Fürstin erwartete.

Es war nur das Einzige: Warum sind Sie schon da? Was treibt Sie zurück? Wo ist der Fürst? Ich muß ihn sprechen. Verrieth er Nichts? Sagt' er Nichts? Hat man Nichts entdeckt? Was wissen Sie? Was weiß Egon? Reden Sie doch! Ich beschwöre Sie!

Die Fürstin schwieg jetzt vollends erst, sie war betroffen genug über die plötzliche Abreise von Hohenberg. So wie sie einst eine ganze Gesellschaft von jenem Schlosse mit dem Machtworte: Wir reisen! entführt hatte, so war sie jetzt selbst entführt worden und unmöglich konnte es wie damals Dankmar Wildungen sein, der wenn auch unter traurig veränderten Umständen die Veranlassung dieser Eile war. Einfach berichtete sie:

Wir sind Kurier gefahren. Von ein Uhr gestern Mittags bis diese Mitternacht, ohne Aufenthalt. Egon schien bewegt, gereizt, ja voll Zorn. Sie wissen, daß ich in solchen Fällen meine alten Arien trällere und durch meine schlechte Stimme sein zum Tadeln geneigtes Gemüth auf einen Gegenstand ablenke, den ich von Herzen gern dem Spott und einem Ausrufe: Verschone meine Ohren! preisgebe.

Pauline von Harder kannte diesen eigenthümlichen Pflichtenkultus, der den Frauen gestellt ist, sich in ein fremdes Männerwesen, das zufällig mit uns verheirathet wird, ohne Sympathie des Herzens hinüberleben zu müssen. Sie nannte diese Aufgabe eine von den mehreren Märtyrerschaften der Frauen. Sie wußte, daß Melanie den Fürsten nicht mit der Innigkeit des seligsten Einverständnisses liebte, sondern daß sie in Furcht und Zagen, dabei diese Furcht verbergend und hinter guter Laune versteckend, so hintastend in dem fremden, seltsamen Manne sich festzuwurzeln suchen mußte. Es ist Das unser Aller Loos, sagte sie sonst wol schon, wir müssen Alle diesen Schauder überwinden, ein durch Zufall an uns gekommenes Wesen unser zu nennen und nun zu forschen, wie sich wol dieser dunkeln Persönlichkeit menschlich beikommen läßt, bis dann gewöhnlich uns die eingefleischten Teufel angrinsen, lügnerische, gemeine Naturen erkenntlich werden, Betrüger, oft falsche Spieler, ja Räuber... kurz, Pauline von Harder, wenn ihr die Ludmer damals nicht zugeblinkt und gleichsam gerufen hätte: Aber Pauline! würde zur Bestätigung dieser einen von den mehreren Märtyrerschaften der Frauen vielleicht gar die Geschichte des Barons Grimm erzählt haben. Sie bewunderte immer an Melanie diese große Kunst, mit der sie sich in ein ihr fremdes und innerlichst antipathisches Leben eindachte und Egon selbst einmal zu der etwas dunkeln Bemerkung veranlaßte: Ich fühle Das so, liebe Pauline, daß ich glaube, Melanie mit mehr belohnen zu müssen als nur mit meinem Fürstentitel!

Heute aber verließ die Geheimräthin sogleich das Feld der Reflexionen und wollte Thatsachen. Sie sprach von der schon in aller Frühe durch Pax und die Ludmer ihr bekannt gewordenen Verhaftung jenes Dankmar Wildungen, dessen frühere Beziehung zu Egon, besonders aber zu Melanie und die dem Fürsten unbekannt gebliebene Theilnahme desselben an der dunkelsten Geschichte der Eroberung des Bildes seiner Mutter ihr geläufig genug war. Es gab ein Geheimniß über Egon, das die Geheimräthin Melanie verschwieg, den Inhalt jenes Testamentes der Mutter, und es gab wieder ein Geheimniß von Melanie, das die Geheimräthin Egon verschwieg, die Art, wie Dankmar Wildungen zu dem Bilde, das jene Denkwürdigkeiten enthielt, gekommen war. Die Diskretion über so gewaltige Lebensfragen gehörte bei dieser in vielen Dingen einzigen Frau zu ihrer Natur. Sie machte nicht einmal Anspruch, daß ihr diese Diskretion als eine Tugend angerechnet wurde.

Pauline wollte sogleich von Dankmar reden, aber wichtiger war ihr doch, ein furchtbares Wort von der Zunge zu lösen:

Sprach der Fürst seinen Generalpächter?

Nein, erwiderte Melanie. Geschäfte hielten diesen fern und als er zurückkam, hatte der Fürst schon den Plan zur schnellen Rückreise gefaßt.

Sagte er nichts von ihm? Nannte er ihn nie?

Wen?

Sie sind so ruhig, Melanie! Nannte er nie –

Was ist nur?

Der Fürst sprach ihn nicht? Sah ihn nicht?

Dankmar Wildungen?

O Sie Gute! Woran denken Sie? Ich glaube wol, daß Sie nur an ihn denken...

Sie sprechen von jenem Ackermann – doch nein, er heißt...

Sie wissen?... Egon weiß?

Mein Gott, was sind Sie aufgeregt!

Sagen Sie mir, Beste... was red' ich denn? O, ich kann nicht da sitzen, ich kann nicht da stehen... ich habe den Fürsten zu sprechen...

Die Fürstin begriff die Aufregung der Geheimräthin nicht, die im Zimmer auf und ab schritt und zuletzt abbrach, um sich zu den Zimmern des Fürsten zu wenden, die ihr offen standen zu jeder Zeit.

Schon hatte sie den Drücker in der Hand, als ein Bedienter mit Papieren eintrat, Rechnungen, Büchern...

Durchlaucht zu sprechen? Melden Sie mich ihm! sagte Pauline.

Excellenz, Bankier Reichmeyer sind drüben...

Reichmeyer? So wie er geht, sagen Sie, ich bäte um einen Augenblick.

Der Diener ging. Pauline sank auf einen Sessel. Melanie fragte nach der Ursache ihrer Aufregung.

Nichts, Beste! Nichts! Aber Sie sagten, der Fürst weiß, daß der unter dem Namen Ackermann bei ihm in Dienste getretene Ökonom seines wahren Namens Rodewald heißt!

Rodewald! antwortete Melanie, die den Namen nicht hatte behalten können. Der Fürst schien ungehalten über ihn, sprach oft vor sich hin jenen Namen, zog eine Visitenkarte, die den Namen, richtig, Heinrich Rodewald, enthielt...

Heinrich Rodewald!

Aber was haben Sie nur mit diesem Namen?

Er sprach ihn nicht?

Der Fürst den Verwalter? Nein!

Er vermied ihn?

Er schien erzürnt auf ihn. Das Auftreten mit einem falschen Namen schien ihm zu misfallen. Seine lange Abwesenheit, während wir in Hohenberg waren, ohnehin. Und wenn ich recht verstanden habe –

Was?

So empörte es ihn, daß Wildungen, ein Verfolgter, ein Kompromittirter sich auf seinen eignen Gütern hatte aufhalten, bei seinen eignen Beamten hatte Schutz finden können...

Wildungen ist ja der Neffe jenes Rodewald...

In der That? Das entschuldigt den Generalpächter. Der Neffe! Man sollte nicht zu streng sein in der Art, wie man jetzt die Verläugnung der natürlichsten Gefühle verlangt. Und Sie wissen doch, daß Wildungen die Tochter dieses Rodewald liebt... also seine Cousine!

Meine Nichte!

Ihre Nichte?

Selma!

Selma Ihre Nichte?

Ha! Was sag' ich! Ich vergesse, daß ich in der Sphäre der Großmütter lebe. Die galante Sprache hat für die Großtanten keinen Namen, der mit dem Begriff Enkel korrespondirt. Selma Rodewald ist die Tochter meiner Nichte, die Enkelin Annen's. Sie ist draußen in Tempelheide...

Weiter kam Pauline nicht in Aufklärungen, die die Fürstin überraschen mußten. Der Diener war zurückgekehrt. Bankier Reichmeyer konnte nicht hindern, daß Pauline sogleich zum Fürsten eintrat. Hatte doch, wie man zugleich erfuhr, eben angespannt werden sollen, damit der Fürst grade zur Geheimräthin fuhr! Sie verschwand. Die Fürstin war allein und blickte bewegt der Eilenden nach. Sie kannte keinen Zusammenhang, suchte ihn auch nicht, forschte auch nicht. Sie begnügte sich, einen schönen vollen Blumenstrauß, den ihr eben Dorette Wandstabler hereintrug, in zwei Hälften zu theilen und die größere sauber mit einem Bändchen zu umwickeln, sie in einen feinen Briefbogen zu hüllen und in die Komthurei als Morgengruß an ihre Eltern zu schicken. Den Rest betrachtete sie voll Nachdenken. Sie mußte sich Selma's Rodewald erinnern, die sie ein einziges Mal flüchtig als Knaben gesehen hatte. Sie mußte der Freude gedenken, die dies Mädchen empfand, als sie bisher im Ullagrund Dankmar vor Gefahren schützen konnte, des Schreckens jetzt, wenn sie in Tempelheide das Schicksal des Geliebten erfuhr. Sie mußte sich sagen: Ich bin eifersüchtig auf ihr Glück und ihr Unglück.

Egon aber kam Paulinen schon auf halbem Wege entgegen. Sie brauchten sich nichts zu sagen. Beim ersten Blick wußten sie, was sie in dieser Stunde zusammenführte. Sie zogen sich, Reichmeyer war gegangen, in das entlegenste Kabinet zurück. Dort erzählte Pauline, wie sie erst vor wenig Tagen von den Vorfällen auf Tempelheide wäre unterrichtet worden, wie sie erst von Gerüchten die Ankunft einer Enkelin ihrer Schwester, dann durch die Nachforschungen der Ludmer den genauesten Zusammenhang in Erfahrung gebracht hätte. Jener Ackermann, der des Prinzen Güter mit unbestreitbarem Glücke zu bewirthschaften begonnen hätte, wäre Rodewald! Ihr wär' es gewesen, als öffneten sich die Gräber! Aber, fuhr sie fort, Rodewald ein Ökonom, ein Schaafzüchter, ein Wollhändler, ich mocht' es nicht glauben. Dennoch ist es so. Ich bin gefaßt, Egon. Aber Sie?

Ein Blick auf Egon zeigte ihr dessen tiefste Erschütterung. Er hatte die Hand auf die Sophalehne gestemmt und stützte das bekümmerte Haupt...

Pauline fuhr fort hastig zu erzählen, von Selma, von dem Glück der Schwester, von dem Antheil, den alle Cirkel an dem Vorfall nähmen.

Egon erwiderte immer noch nichts. Er kannte alle Persönlichkeiten, die Pauline erwähnte, setzte sich aus ihren Verwickelungen ihre Verhältnisse und gegenwärtigen Situationen zusammen und ließ Pauline reden, die sich neben ihn auf das Kanape setzte und gespannt lauschte, welche Entschließungen sich auf seinem Antlitz kenntlich machen würden.

Man erzählt sich, fuhr sie fort, wie die Mädchen Selma und Olga sich und ihre nahverwandte Neigung zu den beiden Wildungen erkannten. Im Tannenpark auf Tempelheide hängen Äolsharfen. Eine überraschte die Andre öfters unter den melodischen Klanggrüßen aus unbekannten Luftreichen. So wußten sie bald, daß in ihren jungen Herzen gleiche Flammen schlugen, gleiche Sehnsucht sie in's Weite und Unendliche zog. Nun tauschten sie ihre Ideale aus und nannten sie nicht. Im Scherze aber beschrieben sie sie und da Olga eine Malerin ist und Selma von allen Talenten ihres Vaters auch das einer raschen Handhabung des Crayons sich aneignete – auf Reisen welche unschätzbare Annehmlichkeit! – so sagte Eine zur Andern: Zeichne mir Den, den du liebst! Und Beide begannen Den zu zeichnen, den sie lieben! Welch' ein Schrecken nun, als sie ihre Blätter sich zeigten und eine das Bild des Freundes der Andern getroffen hatte! Die erste Angst und Überraschung löste sich in Jubel auf, die Neuverbundenen liefen zu Anna, machten sie zur Vertrauten ihrer Neigung zu zwei sich ähnlichen Brüdern und die böse Welt zischelte schon gestern, daß es nun kein Wunder wäre, wenn die juristische Logik des alten Präsidenten eine Entscheidung des Prozesses befördert hätte, die einer Komtesse, wie Olga, statt des Narren Dystra die Hand eines plötzlich wie in Tausend und einer Nacht bereicherten Künstlers böte. Kurz, alle diese Menschen, schloß sie, kennen sich, alle treten sie in Wechselwirkungen und ziehen um uns Beide geheimnißvolle Kreise zu Zwecken, die wenigstens bei Rodewald noch ganz im Dunkeln liegen.

Diese mit der Andeutung einer bedenklichen Gefahr betonten Worte schnellten den Fürsten, der nur halb zugehört hatte, empor.

Nein! rief er; ich sollte dies elende Leben führen und vor der Enthüllung eines illegitimen Ursprungs zittern? Tollkühne, verbrecherisch-leichtsinnige Menschen, die mir das Leben gaben, sollten mich im Wirbel kreiseln, willkürlich wie Spreu im Winde jagen und hetzen können? Dies Ich, dies festgewurzelte Ich, sollte unterwühlt werden dürfen von Menschen, die mich wie einen ihrer Gnade Überlieferten über dem Wasser hielten und drohend ausriefen: Ich kann dich jetzt, wenn ich will, fallen und ertrinken lassen?

Egon! unterbrach Pauline...

Ich spreche nicht von Ihnen. Ich spreche von diesem Revenant Rodewald, der mich mit dem Blicke eines Dämons betrachten wird, als gehörte ich ihm! Wüßte er, wie ich im Grunde ihn haßte! Und kann ich ihm sagen, was ich so über ihn fühle?

L'amour dans la haine? sagte Pauline forschend. Aber Egon erwiderte:

Liebe? Ich will die Sitte, das Gesetz, das ewig Bindende der Tradition im großen Ganzen vertheidigen und soll in mir selbst den Makel der nagenden Lüge fühlen? Ich soll die Karikatur eines Jahrhunderts spielen, das sich auf den ewigen Zusammenhang der Zeiten, den wellenförmig gleichen Strom der Überlieferung beruft und in sich selbst nur Lüge bärge? Mitten auf der Tribüne, wenn ich von der Bedeutung des Adels, wenn er recht verstanden wird, spreche, wird mich ein innerer Fieberfrost schütteln und eben wenn ich von Quadersteinen und der grandiosen Architektur der Sitte und des Gesetzes reden will, umtanzen mich tausend Larven, äffen mich und rufen mir den Abend zurück, wo ich schon einmal in der Kammer nach drei schlaflosen Nächten plötzlich ein Riesenbild im Dämmerlicht auftauchen zu sehen glaubte, einen Teufel in rother Tracht, der auf ein Wappen zeigte, wo Fuchs und Löwe sich begatten und dabei sprach: Wir zeugen die Legitimität!

Um Gotteswillen, rief Pauline, Egon, was haben Sie? Sie sprechen irre! Geben Sie mir Ihre Hand! Ich klingle...

Egon wehrte Paulinen ab. Ohne sich zu beruhigen, fuhr er fort:

Ich spreche meine Qualen aus. Lassen Sie mich reden! Wüßten es Alle, es würde mich erleichtern...

Hohenberg!

Pauline hatte soviel Aufregung an dem Fürsten selbst an jenem schrecklichen Abende nicht gesehen, wo er ihr das Testament seiner Mutter abgezwungen...

Wie ist das Leben so toll zusammengesetzt, fuhr er fort, wie ist man Seiltänzer zwischen Wahnsinn und Verbrechen, Lüge und Fratze und Jeder gibt seine Narrheit für Wahrheit aus. O Pauline, überzeugt sein von dem Richtigen und verhindert werden es auszuführen! Ich kann mir die Thaten des Tiberius, des Philipp von Spanien und der Alba's erklären. Ja, ich verstehe, was es heißt: Alles zerstampfen lassen, zertreten diese Widersprüche, die uns an jedes Dummen Meinung binden, der sich Mensch nennt und deshalb geschont sein will! Was bleibt zuletzt denn übrig? Ich kann die Schädelkränze begreifen, die die Paläste der orientalischen Dynasten schmücken. Man muß ja grausam sein, wenn man nützen will...

Pauline war sprachlos. Sie hatte oft bemerkt, daß Egon von Hohenberg in allmäliger Folge seiner Berufung zum Minister eines großen tonangebenden Staates schon Anfälle von Geisteserschütterungen, von förmlicher Seelenstörung gehabt hatte. Sie hatte sich in Egon's Interesse von Drommeldey warnen lassen. Die Pathologie des Genius, sagte dieser oft zu ihr, bietet die schaudervollsten Erscheinungen. Ich bitte Sie, Geheimräthin, suchen Sie diesen Vulkan zu mildern. Er will durch sein Feuer die Welt zerstören; er wird sich zerstören! Denken Sie an Castlereagh, der sich das Leben nahm, an Canning, der an den Folgen seiner aufgeregten politischen Leidenschaft so früh starb! Pauline that auch seitdem Alles, was Egon nur beschwichtigen konnte. Aber dies Auftauchen eines Todtgeglaubten! Dies dreiste, rasche Eingreifen Rodewald's in das nächste Schicksal seines Sohnes! Sie entgegnete, um die wahre Ursache der Aufregung des Fürsten zu mildern:

Rodewald kann nicht geglaubt haben, daß die Fürstin von der Erde nicht hat scheiden wollen, ohne das Maaß der tiefsten Erniedrigung mit sich zu nehmen. Er hat Hohenberg gesehen, den Leichenhügel Amanda's, er hat in der Nähe dieser Erinnerungen bleiben wollen aus Liebe für Sie, Egon...

Der Teufel! schrie Egon. Liebe für mich? Ich erwidre diese Liebe nicht. Ich würde, wenn ich ihm begegnete, nicht den mindesten Schauer von Ehrfurcht empfinden. Ich finde seine Handlungsweise, wie schön sie die Mutter auch zu entschuldigen wußte, von seiner Seite verbrecherisch unter allen Umständen und vollends – Sie sagen, er würde das Geheimniß ehren? Finden Sie darin Diskretion, daß er sich so dicht, so unmittelbar ohne Weiteres schon an meiner Existenz niederläßt?

Pauline ergriff die Hand des Tobenden und zog ihn zu sich nieder. Sie suchte den Sturm seiner Empfindungen zu mildern...

Egon, sagte sie, am Abend, wenn die Sonne sinkt, werfen die Menschen und die körperlich irdischen Dinge Schatten über die Erde, riesengroß, erschreckend anzuschauen. In der Mittagshöhe sind die Schatten klein, geringer als sie sollten, lügnerisch, schmeichelnd unsern Fehlern, Alles verkürzend und vermindernd. Ach, mein junger Freund, ich wünsche oft, ich hätte die Abendschatten schon in meiner Jugend gesehen, dem Alter würden die Riesenschatten jetzt wie die der Zwerge erscheinen. Aber dennoch, wenn wir nur Eines, nur irgend ein uns ganz beglückendes Streben noch am Abend des Lebens erreichten, legt sich allmälig die Furcht vor Menschlichem. Nennen Sie meinen Zustand, wie Sie wollen, ich bin ruhiger geworden, ich könnte Rodewald begegnen und ihm die Hand bieten zur Versöhnung; ich könnte mein ganzes vergangnes Leben wie ein in Falten gelegtes Tuch grade ziehen, ich könnte segnen, wo ich einst fluchte, wenn nach dem Fluche unsrer Thaten nicht jede Reue zu spät käme. Ja, ich bereue meine Verblendung, meine Hast, meine immerwährende fieberhafte Sucht nach Bewährung meiner selbst und Erlebniß durch Andere; nein, ich entschuldige nicht Alles, was auf meinem Herzen lastet... ach, Egon, seit ich glücklich bin im Bunde mit Ihnen, möcht' ich viel Gutes thun, alte Wunden heilen, alte Versäumnisse nachholen. Es ist aber gut, daß ich es nicht thue, mein eignes zerflossenes Gemüth nicht in den Dingen selbst, denen es sich nähern möchte, auch voraussetze; es gäbe nur neue bittre Erfahrungen; denn nichts rächt sich mehr, als wenn wir da gut sein wollen, Egon, wo einmal vorausgesetzt worden ist, daß wir schlimm sind. Was red' ich Ihnen? Was will ich? Ich möchte Sie bestimmen, gleichgültig zu sein. Ich möchte aus den langen Schatten des Abends und den kleinen Schatten des Mittags die Lehre ziehen, daß beide unwahr sind, nichts uns übermäßig sorglos, nichts uns übermäßig schreckhaft stimmen soll. Gott, Gott, könnt' ich mir die Vergangenheit zurückrufen und meine vergangenen Thorheiten durch diese im Alter gewonnene Philosophie ungeschaffen machen! Was wollen Sie so verzweifeln, so tief auf den Grund aller Dinge sehen, so sich von Ungeduld verzehren, daß nicht Alles eine aufgehende Rechnung gibt! Sie sind bewundert von der Welt, Sie haben sich einen Namen im Buche der Geschichte geschrieben, Sie haben Freunde, die Ihnen Gerechtigkeit werden widerfahren lassen und sollte es auch erst dann sein, wenn Andre nach Ihnen kommen werden, was, will's Gott! lange dauern soll! Sie haben philosophische Bedürfnisse, nach denen Sie sich Ihr Leben einrichten können...

Der Fürst wollte widersprechen...

Nein, Egon, mach' ich Ihnen Vorwürfe? Soll ich denn dies Prinzip der Selbsterhaltung, das bei Ihnen in der größten und weihevollsten Form zur Geltung kommt –

Ich bin kein Egoist, schaltete der Fürst mit Nachdruck ein. Ich bin nur in der Lage, wie alle Menschen, die nach einer gewissen Vollkommenheit strebten. Was Ihr Euch Egoismus nennt, ist uns die Gerechtigkeit und Strenge gegen uns selbst. Wir würden Euch nicht Egoisten sein, wenn wir Alles thäten, was Euch gefällig wäre und gegen unsre eigne tiefste Würde stritte. Wären wir schwach, würdet Ihr uns die Liebe selbst nennen!

Nun gut, Egon, räumte Pauline ein, die ihr Glück, mit dem wichtigsten und ersten Manne des Tages so zu stehen, wie sie mit ihm stand, in langen und seligen Zügen genoß und die aus diesem innigsten Behagen fließende Sorglosigkeit wieder eine »Läuterung« nannte; wie Sie wollen, Egon, aber gewöhnen Sie sich nur an das Unabänderliche! Lassen Sie Allegorieen, die Sie mit sich selber anstellen, diese hypochondrischen Parallelen, die Sie zwischen Ihrer Aufgabe, Ihrer Zeitauffassung und Ihrer persönlichen Lage ziehen. Warten Sie ab, was kommt! Mit dem Stolze, den Sie auf Ihren Namen haben dürfen, sind Sie gewappnet gegen jede Anmaßung, jede zweideutige Einmischung in Ihre Existenz. Ist Ihnen der Gedanke lästig, ist die Nähe dieses Mannes Ihnen störend an sich, so könnten Sie ihn ja entfernen. Oder glauben Sie, daß seine Verwaltung –

Ich gebe sie ungern auf, fiel Egon ein, allein ich opfre lieber mein ganzes Besitzthum, als in diesem geheimnißvollen, mich drückenden, meine Unbefangenheit störenden Verhältnisse ausharren. Bankier Reichmeyer war auf meinen Wunsch schon in aller Frühe bei mir. Ich will alle meine Besitzungen verkaufen, wenn es irgendwie geht...

Der Entschluß ist rasch, Egon...

Oft erwogen! Mein Stamm wird aussterben. Für Melanie's Zukunft wird sich sorgen lassen... Ich gebe diesen Besitz auf.

Überlegen Sie!

Grade meinen Gegnern gegenüber, die auf den Boden basiren und Steuerbefreiungen haben wollen, geb' ich mein Besitzthum auf. Ich wäre nicht mehr Minister, wenn wir Allodial- und Majoratsvertretungen in unserm Staatsorganismus einführten, ich verließe Deutschland. Ich will kein Pair des Hofes sein, wenn erst die mittelalterliche Reaktion bis zum Pairsmachen wieder angelangt sein wird...

Eine Unterbrechung störte diese Auseinandersetzung. Pauline wußte, daß Egon von Hohenberg keine Absicht hatte, sich durch Rodewald's Rückkehr aus Amerika von seiner Bahn des Ruhmes stören zu lassen. Sie fand ihn so erfüllt vom Standes- und Kastengeist, wie es ihr in der Ordnung schien. Für die Sentimentalität der Mutter war hier kein Raum gegeben. Trotz ihrer schönen Redewendungen über lange Abend- und kurze Mittagsschatten, trotz ihrer melancholischen Schleier, die sie auf ihre jüngere, richtiger mittlere Lebensepoche warf, hätte sie nichts dagegen gehabt, wenn der Fürst irgend eine gewaltsame Entfernung seines eignen natürlichen Vaters beantragt hätte. Sie hörte voll Zufriedenheit, daß sich der Fürst begnügen würde, das Pachtverhältniß des Ankömmlings rückgängig zu machen, lobte Egon's Entschluß, dies Vorhaben schon innerhalb der nächsten vierzehn Tage in Ausführung zu bringen, bat den Sohn ihrer Liebe, wie sie ihn gern nannte, zur Erörterung so vieler Dinge, die seit der Abwesenheit des Ministers vorgefallen, heute bei ihr wie sonst ohne seine Gemahlin ein trauliches Diner einzunehmen, erhielt die Zustimmung und verließ den Fürsten, an den inzwischen bereits auch schon wieder die mächtige Woge und durch die kurze Abstauung nur stürmischer gewordene Brandung der Geschäfte anschlug, mit vollster Zufriedenheit. Er fuhr zum König, sie ging zu Melanie.

Diese war mit ihrer Toilette beschäftigt und unterhielt sich mit ihr nur zum Abschied durch eine spanische Wand. Sie hörte die Bestimmung, daß Egon bei Paulinen äße und öffnete nur, um das schöne unfrisirte Haupt hinauszustrecken mit der leise geflüsterten Frage:

Wurde von ihm gesprochen?

Von wem?

Dem Gefangenen?

Beste! Das muß seinen Lauf gehen. Diesem Glücklichen winken so viel Lebensfreuden, blühen so viel große Hoffnungen, daß ihm für seine geheime Verbindung eine Haft von einem oder zwei Jahren – ich kenne das Strafmaaß für Verschwörungen nicht – keine so grauen Haare machen wird, wie er und das Treiben seiner Genossen schon dem Fürsten gemacht haben.

Damit, fast strafend, ging die große, schlanke, stolze Frau von Dannen.

Die Fürstin aber drückte die Tapetenthür zu, vollendete ihre Toilette und benutzte die nun bis spät gegen Abend dauernde Abwesenheit des Fürsten zu ihrer liebsten Erholung. Durch Dorette Wandstabler, die sich ihr, mit klugem Takte, unbedingt ergeben hatte, ließ sie in einem der kleinen Kabinette des Gartensalons heizen, eine ausgezeichnete Tafel zu drei Couverten herrichten und die Eltern, die so theuern, so geliebten Eltern für heute zu sich einladen. Nach einer halben Stunde schon wußte sie, daß die Mutter, schmollend, wie seit der ganzen Heirath, da Melanie keine »Ehepakten« dulden wollte, nicht kommen würde, aber der Justizrath, hieß es, würde kommen... Schlurck kam. Es war dasselbe Palais, in dem er früher als Herrscher gewaltet hatte, dasselbe, das er mit der Bezeichnung eines Schurken einst hatte verlassen müssen; jetzt würde er es, als Vater der Fürstin, mit dem alten sichern Selbstgefühl wieder haben betreten dürfen, aber les jours de fête sont passés, sagte er oft selbst. Er war zusammengefallen, älter geworden, nachlässiger in seiner Kleidung sogar. Zwar trug er noch keine schwarzen Fräcke, er war bei seinen blauen mit Metallknöpfen geblieben, aber es saß ihm Alles weit und schlottrig. Es fehlte die alte Elastizität. Sein Wesen hatte einer ironischen Gelassenheit Platz gemacht... Seine Plaudereien über den Pavillon, die kleinen Gemächer, die servirte Tafel waren ganz im alten Geschmack, er begrüßte die Fürstin mit Innigkeit, entschuldigte den mit den Jahren und seit den Prüfungen des Geschicks über die Mutter gekommenen Trotz mit allem Humor, meinte dann aber doch, diese ihm so von seiner Tochter in aller Stille gespendete Liebe hätte etwas dermaßen Rührendes für ihn, daß er fürchte, die Speisen würden nicht von seinem Appetit die Anerkennung finden, die der Koch des Palais' verdiente. Doch ermunterte ihn Melanie, setzte sich ihm gegenüber und genoß die Freude, den Vater eine Weile glücklich zu sehen. Die Weine machten ihn beredter. Er fragte nach dem Hohenberg, nach Frau von Zeisel, seiner letzten Herzensverirrung, über die er zu seiner Tochter wie zu seinem intimsten Freunde scherzte, er wollte von Henrietten's von Sänger gegenwärtiger Neigung hören, ob Civil, ob Militär, ob Geistlich, ob Weltlich, er wollte von Ackermann hören, über dessen Metamorphose er nicht unterrichtet war. Melanie erzählte ihm Alles. Er kannte Rodewald nur aus dunkelster Erinnerung; er besann sich, einmal den Namen in jüngern Jahren gehört zu haben. Von Dankmar's Verhaftung wußte er nichts. Er las keine Zeitungen. Er begegnete zu sehr in ihnen einem Leben, das ihm zu beweisen schien, daß die Welt in der That aus Nichts geschaffen wurde. Noch ehe die Fürstin, aus Rücksicht auf die Bedienung, von jenem sie und den Fürsten so nahe berührenden Vorfall sprechen konnte, hatte er geäußert:

Diese neue plötzliche Erhebung hat jede Narrheit mündig gemacht! Die Blätter sind weißes Papier, die nach Füllung lechzen und womit füllt man sie? Das geringste Faktum wird mit einem Schwall von Worten breitgetreten und dehnt sich immer gleich so aus, als wenn es bestimmt wäre, die ganze Geschichte des Alterthums, der Hohenstaufen, Schiller und Goethe zu ersetzen. Ich mußte früher über diese Politik lachen, jetzt ärgr' ich mich über sie. Glaubt man, irgend eine Frage in dem großen Durcheinander der Menschen und Meinungen mitbestimmen zu können, meldet man sich gleichsam um's Wort, so hat es schon ein Dutzend Andrer und mit Jedem von diesem Dutzend scheint der Gegenstand allein auf die Welt gekommen zu sein. Es ist ja ein Egoismus im Schwunge jetzt, Kind, der alle Schönheitsregeln über Bord geworfen hat! Früher waren wir auch egoistisch, wir thaten im Durchschnitt immer mehr für uns als für Andre, aber so malhonett wie jetzt ging es dabei doch nicht her. Jetzt stößt man sich auf die plumpste Art vom Brunnen weg, um Wasser zu holen, früher wartete man doch, unterhielt sich doch, plauderte, schwatzte durch gute Witze die Mägde vom Schwengel weg und ging mit seinem gefüllten Eimer lachend davon, wenn jene noch auf die Pointe warteten und das Maul aufsperrten. Ach, mein bestes Kind, diese schrankenlose Emanzipation nicht etwa der Presse, sei die frei, nicht etwa der Juden, mögen die ohne sich taufen zu lassen jetzt Kirchenvorstände werden, nicht der Frauen, eine Emanzipirte haßt die andre so, daß sie sich unter einander selbst aufheben; aber die furchtbare Emanzipation der Dummheit, siehst du, die ist schrecklich! Auf dem Kasino und in der Loge hielten sonst vier Fünftel der Mitglieder immer das Maul. Denn warum? Die Zeitfragen waren damals gleichsam eine Art Lateinisch oder Hebräisch. Jetzt solltest du dies Gesumme hören! Jeder kommt um's Wort ein und Jeder weiß auch etwas zu sagen; denn eben das Redenswerthe ist jetzt nur noch der alltägliche Zeitungsschnack... Nun kommt man mir oft und will von den Maßnahmen des Ministeriums hören. Ich kann mit Fug und Recht fragen: Wer ist jetzt Minister? Denn wer z. B. unsre Finanzen verwaltet, das weiß ich in der That nicht. Ich erstaune über Aufstände, die längst unterdrückt sind und weiß wirklich nicht, sind die Schleswig-Holsteiner in Kopenhagen oder sind die Dänen wieder in Altona? Oft bereu' ich, daß ich damals nicht mit dem Übergang in die Politik Ernst machte. Ich glaubte nicht an die Möglichkeit, daß ich jemals meine Administrationen verlieren würde. Was ich jetzt wäre, weiß ich nicht. Vielleicht bankrott, wie jetzt eben fast auch, aber eine Nationalsubskription hätte mir vielleicht ein Landhaus gekauft, hätte meinen Wagen, meine Pferde gerettet und ich könnte auf hundert Komités Wechsel ziehen. Wer weiß, ob ich nicht einige Minister zu Tode geärgert hätte! Wer weiß, wenn es geheißen hätte: Nun fehlt nur noch eine Stimme, die des Justizraths und Obertribunalprokurators Franz Schlurck, und nun hätt' ich mich in Preis gesetzt, ich hätte für mein Ja! den Zuschlag mindestens einer Eisenbahn oder die Anwartschaft auf ein zum halben Preise zu verkaufendes Staatsetablissement oder eine feste Anstellung verlangt, etwa im Steuerfache, wo einem die Sportel-Delikatessen verfaulen, weil man die Menge nicht unterzubringen weiß und doch damit keinen Handel eröffnen kann. Warum nicht? Meiner Familie zu Liebe hätt' ich vielleicht alle Bürgerkronen der Welt ausgeschlagen, falls man mir eine fixe Anstellung von 5000 Thalern als Äquivalent geboten hätte. Dann – ah bah! – dann – dann hätt' ich immer noch manchmal ein bischen rebellisch werden können und auf Zulage, Gratifikationen hin meine Pandekten anders interpretiren als die Minister. Denn Das weißt du doch noch, liebes Kind, daß der beste Kommentar über die Pandekten aus dreißig Bänden besteht und der Verfasser desselben Glück heißt? Das Glück ist unser wahrer Professor der Rechte! Das Glück legt die Pandekten immer am Bequemsten aus, nur das Unglück weiß gleich den Sinn zu finden, der hinreicht, Einem den Hals umzudrehen. So hör' ich z. B., daß jetzt in unserm Johanniterprozesse...

Leider wurde der Justizrath an dieser für seine Tochter fesselnden Stelle durch die Bedienung unterbrochen... Die Speisen, die Melanie ihrem Vater bei diesen kleinen geheimen Diners zu serviren pflegte, waren so kunstvoll zubereitet, so auf seinen feinsten Kennergeschmack berechnet, daß er sich bei der Würdigung derselben, wenn sie eben aufgetragen wurden, von jeder Erörterung abstrakter Fragen entfernte und den Faden derselben in der Analyse von Zubereitungen verlor, wo er jedem Pfefferkörnchen, jeder Kaper, jeder zerriebenen Sardelle nachspürte und die Komposition und ihre Bestandtheile in die Zeit des Kochens, des Röstenlassens, des Durchseihens u. s. w. fachkennerisch auflöste. Der Champagner floß dabei und die Tochter ließ den Vater ruhig durcheinander reden. Sie gönnte ihm diese stillen Augenblicke seines verkürzten Lebensglückes. Endlich gegen Ende der Tafel, die zuletzt doch wieder alle Lebensgeister Schlurck's geweckt hatte, fand sie Gelegenheit, ihm das neueste Erlebniß auf dem politischen Gebiete, das er nicht kannte, die Verhaftung Dankmar Wildungen's, mitzutheilen. Diese würde Schlurck wenig interessirt haben, sie würde ihm sogar eine Genugthuung für all' das Unglück gewesen sein, das seit dem Schrein mit dem vierblättrigen Kleeblatt-Kreuze über sein Leben gekommen war, aber er wußte, wie Melanie für den kühnen, entschlossenen, kalten jungen Mann fühlte, dem er damals vergebens die Hand des schönsten Mädchens der Welt anbot, er sah bestürzt in ihr Auge, er wußte, daß sie litt, daß sie Egon, diesen ihm aus tiefster Antipathie verhaßten Schwiegersohn, nur aus Pflichtgefühl in Ehren hielt und voll Wehmuth ihr die Hand reichend, sagte er nach einem Rückblick auf die erste Bekanntschaft mit Dankmar:

Mit diesem abenteuerlichen jungen Manne würden wir uns in Strudel gestürzt haben, bei denen selbst das größte Glück der Erde uns keinen Genuß bereitet hätte! Schon im Heidekrug damals verrieth sich die Idee einer solchen Verschwörung, wie sie jetzt zum Schrecken aller Gewaltigen geschlossen sein soll. Diese neuen Propheten des Geistes thun schon Wunder, die Todten stehen schon auf, die Blinden sehen und die Tauben hören. Sie gehören gewiß auch zu diesem merkwürdigen neuen Bunde? sagte mir kürzlich der Propst Gelbsattel und wollte die geheimen Zeichen der Verschwornen wissen. Ich sagte ihm, ich wisse nicht mehr davon als die Kühe, von denen mir unbekannt wäre, ob sie im Klee Dreiblätter von Vierblättern unterschieden. Aber nun biß er erst recht an. Sagen Sie mir nur, rief er in seiner Geheimnißsucht, wie und wo bringen die Ritter vom Geiste ihr Symbol, das vierblättrige Kleeblatt, an? Machen Sie das Zeichen auch mit den Fingern am Halse, wie wir Freimaurer oder drücken Sie sich auch die Hände auf unsre Art? Haben Sie einen verborgenen Kultus, höhere und niedere Grade? Ist es wahr, daß Sie sich in Höhlen versammeln und von den alten Templern Ceremonieen entlehnten, die an unsre Kunst anknüpfen? Auf alle diese wundergläubige Geheimnißsucht konnt' ich nur erwidern, daß sich die geheime Vehme noch bei mir nicht hätte blicken lassen; man erzähle sich aber, sie klopfe bei Jedem an, der irgend eine kühne That unternähme, irgend eine Lanze mit den Fürsten breche, irgend ein Dogma der Kirche umzustoßen wage, besonders wenn er dabei ein Amt zu verlieren nicht achtete; solchen freiwilligen Märtyrern geschähe es augenblicklich, daß Nachts etwas an ihr Fenster poche und wenn sie hinaussähen, ständen gewöhnlich drei Vermummte auf der Straße, riefen mit Beziehung auf den in der Schlafmütze zum Fenster hinausblickenden abgesetzten Regierungsrath oder disziplinirten Appellationspräsidenten oder nicht mehr zu Hofe geladenen Kirchenprälaten: Ein Vierblatt! Und augenblicklich, sagt man, hebt sich ein Stock in der Form eines Pilgerstabes in die Höhe, an dessen krummem Endschnabel sich ein Sack mit vollwichtigen neuesten Doppelfriedrichsd'oren befände! Gelbsattel lachte ungläubig. Aber ich sagte, er möchte es nur einmal versuchen, er möchte nur einmal der Regierung den Fehdehandschuh hinwerfen für den Beweis, daß unsre Verfassung mit der Macht der Oberkonsistorien in keinem Einklang stünde und überhaupt die Wiederherstellung einer Menge von organischen Institutionen nur dazu versucht würde, um allmälig die Verfassung aufzulockern und in die inzwischen erstarkten andern Institutionen, als da sind: Kreistage, Kirchentage, Provinziallandtage u. s. w. aufzulösen, er möchte nur einmal ausrufen: Christus würde auch die Deutschkatholiken für Menschen erklärt haben! Da stutzte der Mann, erschrak, zitterte, grübelt aber doch, ich wette, Tag und Nacht, welchen kleinen Handschuh er dem Ministerium Hohenberg in's Gesicht werfen könnte, ohne dabei 1) die Gunst des Hofes, 2) seine Propstei zu verlieren und 3) wo möglich doch den nächtlichen Besuch der Ritter vom Geiste und ein Exemplar der Statuten zu gewinnen, die auf einem merkwürdigen Papiere geschrieben sein sollen, nämlich auf einem Papiere, das man das Papier der Liebe nennen sollte...

Melanie horchte voll Spannung diesen Expektorationen der ihr bekannten Champagner- und Dessertlaune des Vaters...

Papier der Liebe, gutes Kind, antwortete er auf die Frage seiner Tochter nach diesem eigenthümlichen Handelsartikel, Papier der Liebe ist eine Art...

Asbest! sagte die Fürstin. Unverbrennlich, selbst im Feuer...

Im Gegentheil! sagte Schlurck. Papier der Liebe kann unmöglich etwas Andres sein als eine Art von Daguerreotypie, ein so zartes Gewebe, ja nur ein Hauch, ein Material, das zerstiebt, verweht in dem Moment, wo das Auge seinen Inhalt gelesen hat. Freilich würden wir Advokaten wenig Ehescheidungsklagen durchführen können, wenn dies Papier der Liebe patentirt würde; denn wo sollten die Beweisdokumente, die schönen Resultate erbrochener Kaunitze, die glorreichen Trophäen, die man den Briefträgern abjagt, herkommen? Allein die Statuten der Ritter vom Geiste, sagt man, sind in der That auf einem Papiere gedruckt, das in dem Augenblicke, wo von Jemanden die Paragraphen der Verbrüderung gelesen sind, in Sonnenstäubchen zerstiebt und nur den Duft von Märtyrer-Rosen zurückläßt. Hab' ich Recht, wenn ich solches Papier das rechte Material der Liebe nenne?

Melanie ließ lächelnd den Vater so fort plaudern...

Auch Drommeldey, sagte er, wollte mich neulich damit necken, daß er auf meine Zurückgezogenheit anspielend sagte: Sie sind wol auch schon ein Ritter vom Geiste geworden? Als ich ihn, auf seinen Wagen deutend und auf meine bestäubten Füße, einen herzlosen Spötter nannte, fing er in allem Ernste von dem Bunde an und verrieth, daß man innerhalb seiner aristokratischen Praxis von dieser Chimäre dächte wie von einer den furchtbarsten Ausbruch drohenden sizilianischen Vesper. Nur am Hofe, fügte er hinzu, nur die näheren Umgebungen des Generals Voland von der Hahnenfeder witterten etwas von einer Thatsache, die allerdings zunächst getrost die Polizei zu verfolgen hätte, die aber denn doch auch die Sammler, die Kuriositätenjäger, die Freunde des Mittelalters, die Schwärmer für Symbolik und byzantinische Geschichte, ja auch die Sammler unsrer Zeitrichtungen um so mehr interessiren dürfte, als selbst der Kommunismus bei Hofe manchmal als etwas ursprünglich doch Christliches nicht unangesehen wäre, wenn man nur wüßte, wie man ihn mit der innern Mission und dem jährlichen Millionenbedarf für die verschiedenen Ministerien in Verbindung bringen könnte. Einstweilen, fuhr mein kluger Sanitätsrath fort, behaupte man, wäre selbst die alte Excellenz von Harder auf Tempelheide für den Bund schon gewonnen, denn nach ihren neulichen, dem Monarchen gegebenen freimaurerischen Lehren wäre es keinem Zweifel unterworfen, daß dieser alte Herr in dem Bunde der Ritter vom Geiste die wahre Blüthe der Templerei und der Loge entfaltet sähe und ihr zu Liebe würden auch der Paulus und Johannes dieses neuen Evangeliums, die Gebrüder Dankmar und Siegbert Wildungen, den Prozeß gewinnen und dem Bunde wirklich möglich machen, jene Fabel von den in nächtlicher Stille an die Fenster der Märtyrer hinaufgelassenen Säcken mit Doppelfriedrichsd'oren zu bewahrheiten. Und in der That, wir wollen sehen. Man bringt mir ja da ein Billet...

Ein Diener brachte ein Billet an den Herrn Justizrath vom Obertribunal. Ein Kollege schrieb ihm, daß der oberste Gerichtssenat soeben der Meinung seines Präsidenten beigetreten wäre und den Prozeß zu Gunsten des Klägers entschieden hätte...

Zu Gunsten? warf die Fürstin dazwischen. Der Vater hatte laut gelesen.

Schlurck staunte eine Weile, lächelte dann, zog die goldne Brille von der Stirn und sagte:

Die besten Feldherren waren meist die, die geschlagen wurden.

Die Tochter wünschte Aufklärung, um welche Summen es sich handelte, ob diese Entscheidung auf Dankmar's Gefangenschaft einwirken würde und wie die Beweisführung für die Brüder endlich wirklich hätte so günstig ausfallen können?

Die Beweisführung? sagte Schlurck. Ich sagte dir ja schon, der Kommentator der Pandekten heißt Glück. In jenen Dokumenten, die du damals dem Glücklichsten aller Gefangenen gegen mein Wissen kopf- und herzüber nachwarfst, liegt der Nerv des ganzen Handels. Ich hätte, Bartusch und der Mutter folgend, vielleicht jene Papiere verbrannt und mich dem Schicksal ausgesetzt, daß mein Leben nicht etwa mit Mollakkorden wie jetzt, sondern mit schreienden Dissonanzen geendet hätte; in zwei Instanzen hab' ich, eigentlich nur auf den Grund von zwei Pünktchen oder Kommaten, jedes Mal den Prozeß gewonnen, von zweien Kommaten, die ich ehrlicher Esel nicht ausradirte, trotzdem, daß Herr Dankmar Wildungen sie in seiner Abschrift übersah. Erst die halbblinden Augen jenes Greises haben die beiden Kommata wieder entdeckt; seine Liebe zu diesem Prozeß kam hinzu, er kannte die Geschichte des Ordens der Templer, die der St.-Johannesritter, er wußte zu beweisen, daß es im Ordenshause zu Angerode niemals Verwandte des Ritters Hugo von Wildungen gab... er hatte seit Jahren über diesen Gegenstand Sammlungen angestellt und bewies bei der Stelle des Komthurs Hugo, wo er in der Cessionsurkunde sagt: Cedo propinquis meis equitibus...

Vater, was versteh' ich von diesen Dingen! Ist es möglich! Also Wildungen Erbe dieser unermeßlichen Güter?

Die Stadt wird vom Staate die Erlaubniß zu einer Anleihe begehren müssen und auf die Ameliorationen der Güter rechnen, die die Summe verkleinern dürfte. Läßt sich leugnen, daß z. B. die Komthurei, die wir bewohnen, viele Spuren unsrer glücklichen Tage zeigt und daß ich allen Grund habe, sie binnen Kurzem mit Leidwesen zu verlassen...

Das Haus gekündigt? rief die Fürstin voll Schmerz...

Aber Schlurck hatte schon angefangen, sich in sein Loos zu finden... Er sagte nur:

Ich verlass' es arm, ich könnte sagen mit dem Bewußtsein, ehrlich gewesen zu sein, wenn die Grabschrift: Üb' immer Treu und Redlichkeit! nicht gar zu trivial wäre. Oft mach' ich mir Vorwürfe, daß ich den Einsatz nicht wagte, keine entschlossene That beging, auf dem Wege nicht fortfuhr, wie damals, als ich den Schrein an der Schmiede in Plessen fand und ihn aufraffte... Das Wagniß gab mir Riesenkräfte; ich hatte nur nöthig, dem Schmied Schweigen zuzurufen; ich wußte, daß er an einer alten Falschmünzerei betheiligt war, die auch Frau Pauline von Harder berührt... tragen konnt' ich schwacher Mann den Schrein selbst, so riesenkräftig macht die Entschlossenheit, wie Goethe sagt: Muth ruft die Arme der Götter herbei! und wenn ich bedenke...

Nichts, nichts, Vater! beschwichtigte Melanie den immer mehr sich nun vor Mismuth aufregenden Vater, der sich jetzt von seiner Tochter entfernte, nachdem er noch einen Akt kindlicher Liebe mit diesen Worten von ihr entgegengenommen:

Vater, nach dieser Nachricht über Dankmar treibt es mich hinaus nach Tempelheide zur guten Anna von Harder. Da sind zwei Kinder, die ich trösten, umarmen muß. Beide lieben sie die Brüder Wildungen! Vater!... Du hast neue Prüfungen zu überstehen. Du sollst das Haus meiner Jugend verlassen. Ich bin nicht reich, du weißt wohl, wie ärmlich dieser Glanz ist, der einen großen Namen trägt. Aber ich beschränke mich, ich kann sparen, ich will nicht mehr in Allem glänzen, ich lernte entbehren. Da! Nimm, Papa! Es sind meine ersten Ersparnisse! Schlage sie nicht aus! Du machst mich glücklich, wenn du sie nimmst. Verschweig' es der Mutter oder sag' es ihr, wie du willst! Du darfst dich nicht unglücklich fühlen! Weiche nicht den Leiden, die dich bestürmen! Du gingst unversehrt aus den Gefahren der Versuchung; Vater, ich kenne die Versuchung! Nimm! Nimm! Ich höre Geräusch... wenn es Egon wäre! Leb' wohl! Auf Wiedersehen! Sei nachsichtig mit dem Anfang! Es soll besser kommen!

Damit verschwand die Fürstin. Schlurck hatte ein Päckchen in der Hand, das sie aus ihrer Brust gezogen hatte. Es war eine Anzahl von Banknoten, nicht viel, aber man sah die Liebe. Ein tiefes Gefühl der Schaam überflog den zurückgekommenen, mitten im Genuß plötzlich auf Entbehrungen verwiesenen Epikuräer. Fröstelnd, wie immer nach einem Diner, aber nie so mit Unbehaglichkeit wie jetzt, schlich er sich aus dem Pavillon, sah nieder wie ein Verbrecher, hatte all' die guten Einfälle seiner heitern Laune vergessen und ging aus dem Hause wie ein zum Tode Geknickter. Diese dreihundert Thaler von seiner Tochter, die sie ihm als eine Art Taschengeld für seine Vergnügungen geschenkt hatte, diese Summe, bei der sie voraussetzte, er brauchte davon der Mutter nichts zu sagen, sondern könnte mit ihr heimlich die alten stillen Wege seiner Laune wandeln, entwürdigten ihn nicht etwa, sie rührten ihn nur, sie untergruben seine Philosophie, sie waren bei ihm der Anfang einer ernstlicheren Betrachtung über Das, was die Erde bietet und versagt und was der Tod auf alle Fälle sicher gibt...

Aber damals, an jenem ersten Tage, wo die Fürstin so eine dauernde Aufopferung für die Ihrigen begann, war diese hinausgefahren nach Tempelheide. Sie fand Selma über Dankmar's Schicksal in Thränen, Olga bestürzt. Die Romantik solcher Gefahren gehörte nicht in die Welt der phantastischen Träume, aus der Olga durch Selma's Natürlichkeit immer mehr zu erwachen anfing. Anna von Harder, überrascht von Melanie's, der so hoch Gestiegenen, Güte, vermittelte zwischen ihrem ungeahnten Besuche und den beiden charakterstarken, auf Egon von Hohenberg wie auf das böse Prinzip erzürnten jungfräulichen Mädchenherzen wenigstens den Waffenstillstand, daß sie den Worten der schönen jungen Frau Gehör gaben:

Nehmen Sie dies Schicksal nicht so ernst! Sie lieben jungen Engel können nur gewinnen, wenn Sie Denen, die Sie lieben, gleich Ersatz für ein ernstes Leben sind! Sie, holde kleine Selma, die Sie mir noch gar nicht die Miene machen, die ich mir im Lauf der Zeit von Ihnen zu erobern gedenke, Sie, weiß ich recht gut, entbehren in Dankmar mehr als nur den Vetter. Und Komtesse Olga hat ja das Gedicht ihres Herzens vor aller Welt aufgeführt. Zu deuten wag' ich's nicht, nicht will ich Namen nennen, die wie weiße Wölkchen in blauen Lüften schweben, aber Herrn von Dystra möcht' ich doch sagen, daß er diese holde träumerische Wasserlilie des Schwarzen Meeres nicht nach dem Tempelstein entführen wird. Die Wildungen haben den Prozeß gewonnen durch zwei kleine Pünktchen, die Sie wol selber sind, meine Damen! Wäre die Excellenz schon aus der Stadt zurück, ich nähme lateinische Stunde bei ihr. Die beiden kleinen Kommata müssen Sie sein! Bedenken Sie diesen Triumph eines Eingekerkerten und eines Flüchtlings. So lebten die alten Märtyrer in Kerkern und trugen ihren Heiligenschein um die Schläfe, daß er durch die Eisenstäbe leuchtete! Sie konnten mit ihrem eignen Abglanz alle Ketten schmelzen und wandelten frei. Denn Das wissen Sie doch, daß die Ritter vom Geiste Niemanden untergehen lassen und alle Kerker öffnen, ob nun Fee'n oder junge liebende Mädchen, Engel oder Kobolde dabei helfen.

Die Fürstin war so angeregt, daß die Mädchen Vertrauen faßten und wenigstens nicht mehr scheu zur Seite standen, wenn Anna, die Melanie immer gern gehabt hatte, mit ihr sprach. Es war fast Abend, als die Fürstin von Tempelheide schied und drei Menschen zurückließ, die auch jetzt erst, nach diesem Besuche, wagten, in der ihnen selbst seit Mittag bekannten Entscheidung des Prozesses einen Lichtschimmer am Rande der Nacht zu erblicken, die sie Alle umhüllte. Sie hatten Dankmar's Gefangennehmung nicht nur erfahren, sondern sie selbst gesehen, selbst erlebt, daß vor Tempelheide ein Wagen vorüberfuhr, aus dem ein blasses Männerantlitz sie grüßte und eine Hand hinterwärts zeigte, gleichsam nach Hohenberg zu, oder wie Olga sagte, nach dem Leben, dem Glück, der verlornen Freiheit hin... Sogleich hatten sie anspannen lassen, waren nach der Stadt, dem Profoßamte gefahren, hatten gehört, was ihnen, als sie, ohne Dankmar sehen zu können, verzweifelnd nach Tempelheide zurückkehrten, ein inzwischen angekommener Brief von Franziska Heunisch und einige Zeilen von Rodewald ausführlicher berichteten; aber doch auch die wunderbare Nachricht über den Prozeß brachten sie zu einstweiligem Trost aus der Stadt mit.

Der alte Obertribunalspräsident kam erst am Abend spät nach Tempelheide zurück. Er war seit Jahren zum ersten Male wieder in der Loge gewesen, deren oberste Würde er für das ganze Land bekleidete. Auf die ihm dort gemachte Mittheilung vom Schicksal der Männer, die durch sein eignes theilnehmendes und begeistertes Erforschen dieser Angelegenheit eine so große Summe gewonnen hatten, auf das Forschen und Lauern über seinen persönlichen Antheil an den Brüdern Wildungen erwiderte er:

Mein Studium galt nicht den Personen, sondern der Sache.

Und jede weitere Erörterung schnitt er durch das bekannte feierliche Wort ab.

Die Loge ist gedeckt.


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