Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Dagobert von Harder, der Obertribunalspräsident, war von kleiner gedrungener Figur, ganz im Gegensatz seines zweiten Sohnes, des langaufgeschossenen Kurt Henning Detlev. Der große Kopf saß tief in dem gewaltigen Brustumfange. Hände und Füße waren zierlicher, letztere besonders weiß und zart gepflegt, fast sammetweich. Den Schädel bedeckte kein Härchen mehr. Ein sammtnes Käppchen schützte das glänzende, mit Äderchen unterlaufene Haupt. Das Antlitz zeigte die Spuren des hohen Alters. Es war wie ein durchfurchtes Feld, wie eine Netzzeichnung, so in tausend kleine Quadrate getheilt, die alle länglich von den Schläfen herab sich senkten. Die Augen quollen, wie von Hautsäcken umgeben, etwas hervor und hatten einen Anflug von Blödsichtigkeit. Die Lippen waren fast mit den Zähnen verschwunden und ganz in die Höhlung zwischen Backenknochen und Unterkiefer verloren gegangen. Der Kopf senkte sich ein wenig über. Ein Diener mußte immer in der Nähe sein, dem über Achtzigjährigen den Arm zu bieten und ihn zu führen.
Bei dem Vogelhändler stand der Präsident. Die Erörterung schien ihm Elastizität zu geben. Der Abrichter hob wol an dreißig kleine hölzerne Käfige auf einem Tische auseinander und pries unter steter Wiederholung der Anrede: Excellenz! die Leistungen seiner Kanarienhähne, Dompfaffen, Zeisige, Rothkehlchen und Stieglitze. Daß sich Excellenz aus den kleinen Späßen mit dem Aufziehen eines Futterkarrens und dergleichen nicht viel machten, wußte der Thüringer schon, aber mit den Vögeln, die ihm Melodieen nachpfiffen, legte er mehr Ehre ein und erwarb sich mit Fug den Thaler, den ihm die alte Excellenz jährlich schenkten, wenn er vom Harze kam und seine neuen Virtuosen vorführte. Gekauft wurde nichts mehr in Tempelheide, der Präsident erklärte sich für zu alt, um noch in seine schon vorhandene Gesellschaft neue Elemente einzulassen; denn sein Zähmungsprinzip war grade die allmälige Gewöhnung und für diese blieb ihm, der stündlich die Augen zuschließen konnte, keine Muße und Aussicht mehr. Mit einer weichen, sehr leisen, von vielem Räuspern unterbrochenen Stimme lobte er den Thüringer, warnte ihn vor Anwendung grausamer Mittel und entließ ihn mit dem üblichen Thaler, zu dem er noch die für Dystra und sein Anliegen spannenden Worte fügte:
Kommt Er auch durch Angerode?
Angerode, Excellenz? Ja wohl, Excellenz, Angerode! Grade von da bin ich.
Keine weitere Frage. Papageno mit dem Zeisiggesichte war entlassen...
Nun erst wandte sich der alte Herr an der Hand des zweiten Bedienten, der mit ihm aus der Stadt gekommen war, zu Dystra und wiederholte, die weißschimmernden Augen aufziehend, das leichte Kopfnicken, mit dem er den von oben herabkommenden Dystra begrüßt hatte...
Baron essen mit uns? wandte sich der Alte fragend zu Anna, die über diese unerwartete Wendung noch in Schrecken war, da sie Dystra's Gourmandise kannte und nicht wußte, wie sich bei einer solchen Änderung der sonst so einfachen Tafelordnung Olga benehmen würde.
Der Alte wurde langsam die Treppe hinaufgeführt. Anna bot ihm selbst den Arm. Dystra flüsterte, folgend, dem Bedienten zu, man möchte etwas für seine Mohren sorgen, damit deren menschliche Ungeduld von der Zahmheit der hiesigen Thiere nicht beschämt würde...
Von einer weitern Unterhaltung, längern Vorstellung war keine Rede. Der Greis wurde sogleich ins Eßzimmer geführt. Er nahm Dystra für einen Besuch bei Olga, den man Anstandshalber, der Entfernung von der Stadt wegen, dabehalten müsse und begann seine Suppe aus einem mächtigen halben Vorlegelöffel mehr zu schlürfen, als zu essen.
Anna winkte Dystra, sich des Olga'schen Couverts zu bedienen. Denn der zweite Diener hatte schon angezeigt, die junge Comtesse ließe sich entschuldigen. Punktum! sagte Dystra leise und biß sich auf die Lippen.
Nach einer Weile erst bemerkte der Greis die Abwesenheit einer ihm liebgewordenen, immer stillen Gesellschafterin und fragte:
Comtesse Olga?
Nicht wohl! sagte Anna, deren Geduld heute auf die großartigsten Proben gestellt wurde.
Die Bedienten nahmen die Suppenteller fort. Dystra hatte das kräftige Consommé nicht verschmäht. Man schenkte Wein ein, dem Greise in einem großen silbernen Becher, den er mit beiden Händen erfaßte...
Onkel von Comtesse? fragte er Dystra nach einer Weile, als man kleine Pasteten aufsetzte.
Dystra, der nur horchte, beobachtete, sich umsah, staunte, erwiderte mit einer Dreistigkeit, die Anna erröthen machte:
Vergebung, Excellenz, Cousin!
Diese Unwahrheit konnte Anna kaum dulden und nicht ohne Schärfe bemerkte sie, als sie die kleinen, weichen, gar mürben Pasteten austheilte:
Großväterchen liebt alle Namen, in denen der A-Laut liegt; er behauptet, daß alle Menschen gewissermaßen aus einem Vokale komponirt sind und im A läge – die Wahrheit!
Dystra! sagte keck der Getroffene und betonte die Endsylbe.
Der Name thut's allein nicht, sagte der Greis mit einem leisen Aufflammen des Auges, der Charakter, der ganze Ton des Wesens und Redens muß es machen. Die gute kleine Olga ist noch zu sehr in O und U gesetzt...
Dystra verstand noch nicht recht, was Das für kuriose musikalische Schlüssel sein sollten und bat um genauere Erläuterung.
Anna gab sie dahin, daß nach dem Präsidenten alle Menschen sich aus einem bestimmten Laute zu geben pflegten, je nach ihrem Charakter; bei den Sanguinischen hörte man nichts als I-Laute, bei den Cholerischen, Mäkelnden, Nergelnden ein ewiges widerliches E, bei den Melancholischen und Hypochondern die klagenden für sie wahrhaft herzzerreißenden Unkentöne in U...
Und den A-Laut?
Liebt Großpapa als den klaren Ton der Wahrheit, des echten Maßes und der richtigen Mitte...
Anna von Harder, geborne von Marschalk! sprach der Greis, langsam die A hervorhebend, mit einem Anflug von alter ritterlicher Galanterie.
Es schien, als wenn der Präsident bei einem gedankenmäßigen Gespräche recht aufthauen konnte.
Dystra aber wagte kaum zu sprechen, aus Furcht, zu den I- und E-Menschen zu gehören. Alle seine Bekannten, besann er sich wirklich, besonders die Russen, waren meistens in I und E gesetzt, wie die ewig zwitschernden und zankenden Vögel. Voland von der Hahnenfeder war tief in U. Dumme Menschen meist in O, z. B. der eigne Sohn des Greises, der Intendant von Harder. Klare, besonnene, rüstige, konsequente, wohlwollende wie Rudhard, Siegbert, Dankmar, Leidenfrost, wenn nicht im Namen, doch im Wesen alle aus dem A. Es ärgerte ihn fast, daß ihm sein ganzes Wesen wie eine Resonanz von I und E klang.
Der Greis erschöpfte sich jetzt in freundlichen Betrachtungen über Olga und beschämte Dystra mit der Voraussetzung, daß er ihm verpflichtet sei, von Anna's Pflegebefohlener zu erzählen. Der Greis hatte die Natur derselben sehr wahr erkannt. In kurzen abgerissenen Sätzen ließ er soviel treffende Andeutungen über Erziehung und Mädchencharakter fallen, daß Dystra im Hinblick auf den Intendanten erstaunte, wie die Praxis hier hinter der Theorie zurückgeblieben war... Das bescheidene Gemüse, das er jetzt verzehren konnte, wenn er Appetit gehabt hätte, ließ ihm Zeit, über ein Mittel nachzudenken, wie er wol, ohne absichtlich zu erscheinen, auf den Prozeß der Gebrüder Wildungen kommen konnte.
Überrascht mußte Dystra sein, als der Greis von den Thieren anfing, die Herr von Dystra seinem Sohne für die königliche Bühne verehrt hätte. Als er die Überraschung über diese seine plötzliche Bekanntschaft bei dem Greise aussprach, erwiderte Anna:
Wir lesen mit Aufmerksamkeit die Zeitungen. Wenn die große Welt sich in den Theatern und Salons bewegt, holen wir nach, was die Menschen alles unsrer Lektüre zu Gefallen Schönes oder Häßliches anstellen. So hat uns auch Ihre Unterstützung der darstellenden Künste sehr unterhalten. Alle Blätter erwähnten den Vorfall mit den Meerkatzen.
Das Feld war für die Thierliebhaberei des Greises nun offen. Angeregt durch den Besuch und eine kurze Mittheilung der Reisen, die Dystra gemacht hatte, sprach Dagobert von Harder sich dahin aus, daß ihn seine Väter und Ahnen, die alle im Forstfache dienten, früh auf die Naturbetrachtung hätten führen müssen. Dann, sagte er, kam mir als Juristen das Naturrecht in der alten römischen Definition entgegen. Sie wissen, mon cher Baron, daß das Natur- oder Völkerrecht bei den Alten das Recht alles Lebendigen war. Was da athmet, was zu dem großen schönen Bau der Erde, zu dem herrlichen Kosmos des Daseins gehört, hat ein Recht der Pflege, der Schonung, soweit seine Freiheit die Freiheit der Andern nicht beschränkt. Das Recht ist sozusagen der unsichtbare Genius, der seine schützenden Fittiche über Alles, was ist, ausbreitet. Von der Natur fängt es an und wo es in der Natur nicht ist, wird's im Geiste nicht sein. So hab' ich schon früh als Jurist gedacht und wenn wir weise werden wollen, wo können wir denn auch anders anfangen, als mit dem Leben der Natur? Die Brücken, die ein Kind, hab' ich noch jüngst zu Ihrer Cousine gesagt, Herr Baron, die Brücken, die du dir bauen willst in das unendlich Leere, sind wie Regenbogen, an deren Ende ich als Knabe immer glaubte Gold zu finden. Die Leute sagten's. Ich lief und lief, um die Stelle zu erreichen, wo der Bogen, der bunte, schöne Reif sich endlich zur Erde senkt; ach und ein Sonnenblick und die ganze täuschende Phantasmagorie war mit dem Golde verschwunden! Nicht in's Leere baue, sondern in das Gegebene! Wenn ich nun Ordnung und Gesetz, Harmonie und Verständniß in den Wesenstufen der vorhandenen, unsern Sinnen zugänglichen Schöpfung entdecke, soll mich Das nicht mit Ehrfurcht vor dem Räthsel des großen Weltenplanes erfüllen? Und jemehr ich Seele, Seelentrieb, Bewußtsein entdecke, desto geringfügiger kann mir doch die innere, sie belebende Flamme der Materie nicht erscheinen? Nein, im Gegentheil! Je mehr Millionen dieser kleinen Flämmchen selbst im Wurme, in Insekten und Fischen leben, desto höher wächst mir das große Centralfeuer der sich selbst erkennenden Gottheit. Was ich in Allem finde, muß ein Großes, ein Lichtgebornes, Ewiges sein. Und wenn ich dem Astronomen, Geologen, Botaniker überlassen will, in seinem Bereiche die Harmonie der Gesetze, das Streben nach Individualisirung und nach kosmischer Schönheit in den oft so bewundernswürdigen Gattungsregeln zu entdecken, so hab' ich mit Liebe mich der Thierwelt angeschlossen und ein Mysterium darin gefunden, daß in ihr gebunden dieselbe Seele schlummert, die uns für Halbgötter hält, während die ganzen Gottheiten wol wieder über uns Thiermenschen lächeln.
Anna von Harder zerschnitt eben in kleinste Stückchen die Portion Braten, die der in's Redefeuer gerathene Greis mit dem Löffel aß, da das Aufstecken auf die Gabel der zitternden Hand nicht geschwind genug gelang... Sie verrieth eine innerste Genugthuung über diese Worte des Alten, die so bedeutungsvoll waren, daß sie Dystra mit seiner Moquerie beschämten.
Ich dachte, Excellenz, sagte Dystra trotzdem witzhaschend, ich dachte, Excellenz wären ein Pythagoräer und enthielten sich des Fleisches, wie noch jetzt die Hindus.
Ah bah! Ah bah! antwortete der Greis. Daß ich ein Narr wäre! Zur Sentimentalität soll uns die Liebe zum Geschaffnen nicht verführen. Das Vollgefühl der Race, das Bewußtsein und der Erhaltungstrieb der menschlichen Gattung erfordert die Thiernahrung. Grade weil wir Raubthiere sind, haben wir Geist. Die Wiederkäuer, die Schaafe, die Rinder sind von geringem Geiste. Verloren gehen soll der Mensch an das Thier nicht, wenn wir auch mehr als dünkelhaft sind in dem blinden Ignoriren alles Dessen, was um uns fliegt, kriecht, schwimmt, hüpft und bellt. Es liegt hierin eine Offenbarung, die in tausend Zungen so vernehmlich spricht, daß wir selbst verwildern, wenn wir zu unsern Füßen nur Verwilderung sehen. Die dumme Lehre vom Instinkt hat uns der ganzen unermeßlichen Pflicht des Niederblickens mit einer Phrase überheben sollen. Wo ist mehr von diesem mechanischen Instinkt als beim Menschen? Der Instinkt lehrt uns, auf zwei Beinen gehen und den Kopf hochtragen. Der Instinkt lehrt uns, des Nachts schlafen und nicht am Tage. Der Instinkt lehrt uns die Furcht und die Bewaffnung gegen Alles, dem unsre Kräfte nicht gewachsen sind. Unsre Paarung, unsre Kindesliebe, unsre Todtenbeseitigung ist Instinkt, wie auch das Grundprincip unsrer Staaten, unsrer Rechtspflege, unsrer meisten Sitten und Gebräuche. Was uns die Vernunft erfunden zu haben scheint, ist der Trieb der Gattungserhaltung. Wüchse nur die Liebe zu allem wahrhaft Lebendigen, wir würden nicht so viel geistig Todtes haben, nicht so viel verblendete méchante Hypothesen aufstellen und uns nicht so sehnen, aus diesem Chaos von Lüge und Irrthum, Misbrauch der Vernunft, Umgehung der Natur, bei Zeiten herauszukommen!
Anna, noch bewegt von dem Stolze, wie der edle Greis Dystra's geringe Meinung von der ihm gebührenden Rücksicht beschämte, erschreckt von der dem Präsidenten eignen Todessehnsucht, die er oft äußerte, ergriff die zarte kleine Hand, sie bittend und liebevoll streichelnd...
Großväterchen, sagte sie, will mich einmal wieder mein Vielliebchen nicht gewinnen lassen und wir haben doch gewettet, daß die hundert Jahre voll werden!
Da sei Gott für! antwortete der Greis und sah sich, weil man das Dessert brachte, Früchte und Bisquit, nach seinen gewöhnlichen Dessertgästen um. Die Thüren wurden geöffnet und Noah's ganze Arche schien sich zu entleeren. Selbst die Schildkröte wurde auf Anna's besondern Befehl von dem Bedienten in den obern Stock getragen...
Der Greis fütterte seine Gäste. Man hatte ihm Schüsseln mit Körnern hingestellt. Er gab reichlich, strafte aber jeden Näscher und gab jedem Gehorsamen mit Schmeichelreden...
Es ist die Liebe, sagte er zu dem erstaunt blickenden Dystra, den seine Beklommenheit verließ, es ist die Liebe, die die ganze Thierwelt nur zu sehr an uns vermißt. Wenn wir uns vor Dem, was außer uns lebt, fürchten, so geht Das noch, es ist eine Idiosynkrasie der Gattung; aber wir hassen die Thiere; wir toben unsre Leidenschaften an ihnen, wie nur zu oft auch an unsern Kindern aus. Kein Wunder, daß Alles um uns her dann tückisch, zornig, rachsüchtig wird und nun auch wieder seine Leidenschaft gegen das noch Schwächere austobt! Wodurch verbind' ich Hund und Katze? Dadurch, daß ich sie nicht aufeinanderhetze, nicht Gefallen an ihren Unarten finde. Ich verweise Sie auf den Blick des Thieres. Finden Sie da in meinem großen schwarzen Bafomet – der Greis nahm den riesigen Kater und stellte ihn dicht vor sich auf den Tisch – nicht einen Ausdruck der stillen Ergebung, des geduldigen Tragens dieser Erdenhülle..?
Daß man fast an die Seelenwanderung glauben möchte? sagte Dystra forschend, ob nicht dies alte ägyptische Dogma in dem etwas ketzerisch sich äußernden Alten zum Vorschein käme...
Da erhob sich aber eben Anna. Sie hatte es drei Uhr vom Kirchthurme schlagen hören und schon erblickte sie einen Wagen, der von der Landstraße ablenkend zum Hause herauffuhr... Vielleicht der der Frau von Trompetta, die immer die Erste war.
Sie wissen, Baron, sagte sie mit hocherröthenden Wangen, daß wir heute unsre musikalischen Übungen haben; aber ich bedaure, daß die Anwesenheit ungeladner Zeugen...
Das sind strenge Gesetze, warf der Greis, sich erhebend, scherzend ein, aber ich zeige Herrn von Dystra einen Winkel, wo wir unbelauscht zuhören können oder...
Unsern Mittagsschlaf halten, ergänzte Dystra mit Beziehung auf den Greis.
O nein! O nein! lehnte dieser ab. Mein Ohr hört nie schärfer, als wenn die Augen zufallen. Ich schließe die Augen, Baron, in dem kleinen Winkel, den ich Ihnen zeigen werde, aber wenn man Bach und Händel singt, schlaf' ich nicht.
Dystra war weder für Bach noch für Händel besonders eingenommen, aber er sah, daß die Excellenz gesprächig werden konnte. In der Hoffnung, daß eine Erörterung, die schon bei der Seelenwanderung angekommen war, sich auch noch auf das Mittelalter, das heilige Grab und die Tempelherren würde ausdehnen lassen, erklärte er, die Winke der Frau Landräthin nicht zu verstehen und sich ganz im Verborgenen halten zu wollen. Sein Spartakus und Cicero säßen hoffentlich bedacht in der Küche...
Die Nachricht von den Mohren machte dem Alten große Freude. Er wünschte sie später zu sehen...
Hätte Dystra ahnen können, was Alles die arme Kapellmeisterin bestürmte, er würde sie mehr geschont haben! Sie sollte ihm jetzt sagen, was Olga triebe, warum sie nicht gekommen wäre, ob sie bei Tisch immer schwiege, ob sie vor den Thieren nicht Apprehensionen empfände, ob er wagen dürfte, sie in ihrem Zimmer zu überraschen, wo hinaus es läge, ob sie jetzt äße... Alle diese Fragen erwiderte sie mit dem einfachen Bescheide, Olga male, sie würde zu ihr gehen und ihr leider wol wiederholt die Versicherung geben müssen, daß man sie betrachten wolle wie eine Einsiedlerin...
Also nach Norden liegt ihr Zimmer! sagte Dystra und wollte trotzdem folgen, wenn nicht der Greis sich erboten hätte, ihm jetzt den Versteck zu zeigen, aus dem er gewohnt wäre, den Akademieen zuzuhören. Dystra mußte ihm schon den Arm bieten. Sie gingen über den Corridor, eine kleine versteckte Treppe hinunter...
Inzwischen hatte sich die Zahl der Wägen, die vorfuhren, ansehnlich vermehrt... Anna hatte Olga ersucht, an der Akademie Theil zu nehmen... Sie schlug die Aufforderung aus... es bebte ihr durch's Herz, als das träumerische Mädchen, ihr fast stereotypes Schweigen brechend, gesagt hatte:
Dein Haus ist wol ein Gefängniß für mich; aber die gefiederten Sänger der Luft wohnen gern in ihm. Ich gehöre zu den Stillen, die man nur muß gehen lassen, wenn sie Jeden erfreuen sollen. Ich weiß, jener Dystra ist bei Euch, dem sie mich vermählen wollen, weil er Schätze besitzt. Ich fliehe vor ihm, wie vor der Klapperschlange die Thiere fliehen, über die ich dem Großpapa zuweilen vorlese. Deine Welt, in der du lebst, liebe Anna, ist wunderbar. Weißt du, daß ich manchmal Muth bekomme, weit, weit über die Thiere und Menschen hinaus, die sich vor Schlangen fürchten? Ich bin gar nicht erschrocken vor den Mädchen, die, wie Großpapa erzählt, mit Schlangen sich umringeln, kleine Vipern als Halsschmuck, große als Shawls tragen! Ich möchte so mitten inne in der Wildniß sitzen, ich wüßte, ihre Bewohner schonten mich. Ach, sind denn die Menschen nicht viel schrecklicher? Von diesem Dystra mit seiner geckenhaften Eleganz, seinen parfümirten Redensarten, seiner Eitelkeit auf seine kleinen Füße red' ich nicht. Er ist nur lächerlich und ich würde mich schämen, wenn ich ein Wort mit ihm redete. Aber es gibt größere Ungeheuer! Laß mir die Einsamkeit, gute Anna! Ich habe so viel erlebt, so viel in meinem innersten Herzen zurecht zu legen, daß ich dieses verzauberten Schlosses recht bedarf, um mich zu sammeln. Es ist mir bei Euch, wie ich von der Höhle des Trophonius gelesen habe, in der man die Stimme des Erdgeistes hörte.
Dabei zeigte Olga rund herum auf ihr gemüthlich eingerichtetes Zimmer, das immer für fremden Besuch auf Tempelheide eingerichtet war und in Nebenkämmerchen noch Raum für zahlreichere Gäste bot. Die Meubles waren hier moderner als im übrigen Hause, die Bilder zeigten auch einmal andre als naturhistorische Gegenstände, und an den nach Norden gelegenen Fenstern gediehen in kühlem Schatten einige Blumenstöcke von ausgesuchterem Werthe. Auf einem dicht ans offne Fenster gerückten Tische malte Olga in Aquarellfarben, deren Anwendung sie von Siegbert Wildungen gelernt hatte, eine italienische Fernsicht. Das dunkelblaue Meer und einen einzigen darüber hinweg schwebenden Vogel erklärte sie für das Abbild ihres eigenen Lebens. Und als Anna sie nicht bewegen konnte, der Versammlung unten, deren bevorstehende Überraschung sie freilich verschweigen mußte, beizuwohnen und gehen wollte, rief ihr Olga plötzlich wie aufthauend noch nach:
Und dein heutiges Freudenfest?
Anna drückte das Mädchen bewegt an ihr Herz und erwiderte:
Viele Jahre hindurch, ich kann sagen wieviel, siebzehn Jahre hindurch war der heutige Tag ein Freudentag. Dann hab' ich länger als zwölf Jahre an diesem Tage bitter geweint, vor aller Welt mich abgeschlossen, Niemanden sehen mögen, als die Bilder, die vor meinem innern Auge lebten. Zuletzt, je näher ich dem Ziele unsrer allgemeinen Pilgerschaft komme, hab' ich von diesem Tage nur noch die alte Freude behalten und feiere ihn still innerlich wol, aber mit Ergebung, wie wenn Alles so wäre, wie es nicht ist.
Olga wußte nun, daß Anna von dem Geburtstage ihrer Tochter sprach, über deren Leben und Tod Anna seit Jahren nichts mehr vernommen hatte...
Schon war die würdige Frau gegangen. Auf der Stiege sich sammelnd, den Dienern jede nöthige Aufmerksamkeit einschärfend, das Vorzimmer des Musiksaales im Vorübergehen noch etwas aufräumend trat sie zu mehren schon unten anwesenden Damen und Herren ein. Der Chor schien heute besonders stark zu werden. Das unverändert schöne Wetter lockte jedes Mitglied, die Veranlassung einer so angenehmen Spazierfahrt nicht zu versäumen. Nur ein Billet, das sich vorfand, war ein absagendes, grade von der Trompetta! Diese schrieb, ihr stünde der überraschende Besuch ihres Vetters, wie sie sagte, »des Chefpräsidenten von Trompetta Excellenz« bevor, einer bekannten, in der Provinz im Sinne der äußersten Reaktion wirkenden Persönlichkeit, die man schon oft als eine Ministerchance genannt hatte, ebenso wie einen Verwandten des Fräuleins von Flottwitz, den Oberpräsidenten von Flottwitz, der gleichfalls in der Provinz zu den letzten Trümpfen gehörte, die die Äußersten gern ausgespielt hätten, wenn nicht Egon von Hohenberg zur Zeit noch unerschütterlich erschien. Die arme Trompetta! Die Bedauernswerthe! Wenn sie ahnen konnte, was sie heute versäumte! Wagen an Wagen fuhr vor. Bediente sprangen von den vordern Böcken und öffneten die Schläge. In der Hausflur saßen schon fast ein Dutzend gallonirter weißer Sklaven, die bald die Nähe der schwarzen in der Küche gewittert hatten und ihr Übergewicht zu Hänseleien benutzten, grade wie sie der alte Oberpräsident im Umgang der Menschen mit der Thierwelt als die Quelle der Verwilderung derselben bezeichnet hatte. Die Kammerdienerssöhne der Majestät von Angora nahmen die Späße, die man sich mit ihnen erlaubte, nicht zu übel auf, sondern genossen ihr Vorrecht, sich mit den Speiseschränken auf Tempelheide vertrauter gestellt zu sehen, als die Europäer, in einem Grade, der den Neid der letzteren, deren Herrschaften alle erst um sechs dinirten, sehr rege machte und sie um so mehr verstummen ließ, als die beiden alten Diener des Hauses, die ihre beste blaugelbe Livree angezogen hatten, auf Ruhe und Ordnung hielten in dem Augenblick, wo vom Musiksaale her die ersten Töne des Pianos erklangen.
Vor dem Schlosse eines Fürsten, wenn seine höchsten Räthe bei ihm versammelt sind, kann es nicht belebter aussehen als jetzt vor dem kleinen Landhause von Tempelheide. Die gewählteste Gesellschaft wurde an den Wappen von mehr als zwanzig Wägen erkennbar. Auch die Männer gehörten nicht alle dem bescheidenen Stande der jungen Offiziere und Referendare an, sondern mancher Rath, mancher jüngere Präsident übte noch die Fertigkeit seiner Stimme und hielt treu bei diesen fashionablen Tonübungen aus. Die Dorfbewohner, ja städtische Lustwandelnde horchten zu vom Hügel der Kirche, vom Friedhofe und den beiden Linden herüber. Die Jugend staunte der Wägen, der stolzen Rosse und Bedienten. Dies wunderreiche kleine Schloß, sonst so still, wie belebt war es heute! Die Thiere wurden eingehalten oder ihr Gackern und Lärmen erstickte in den entfernten Ställen oder der häßliche Schrei des Pfauen in den hohen Wipfeln des Tannenparks... Es schlug halb vier Uhr. Die Akademie begann... Fräulein von Flottwitz kam noch in einem unscheinbaren Wagen etwas verspätet. Wahrscheinlich hatte ihr die Trompetta den Streich gespielt, ihr die Mitbenutzung ihres Wagens unmöglich zu machen. Dadurch hatte sie einen Miethwagen nehmen, sich ängstigen müssen... Aber welche frohe Botschaft brachte sie auch mit! Sie hatte ja den Hof über die Felder hinausfahren sehen, die um Tempelheide lagen, die königlichen Wagen sechsspännig mit Vorreitern und mit zwei Wägen voll Kammerherren und Hofdamen. Und nun, wie gehoben konnte sich die junge Aristokratin fühlen schon durch den Anblick der andern Wägen, die vor Tempelheide standen! Welch' Gefühl der Exclusivität, so in einen Saal zu treten, wo es nur Mitglieder der höhern Gesellschaft gab, ja sogar unter sechs bis acht Gräfinnen eine Fürstin, vielleicht eine Fürstin von Sein-Haben-Werden! Sie kam grade zurecht, in ein Miserere mit einzustimmen, dem es gut that, bei der Stelle dele iniquitatem meam durch ihre helle hochliegende Stimme in der rechten Lerchen-Wirbel-Schwebe gehalten zu werden.
Anna dirigirte mit Feuer und Begeisterung. Was auch kommen und drohen mochte, in der Musik hoben sich ihr alle Schwingen. Da hörte der kleine Flug über die Erde auf, da wurde nicht mehr mit den Fittichen über die Rücksichten leise hinweggeflattert, da schlug sie Akkorde, die die Seele entfesselten und emportrugen in die Welt der Ahnungen und des lebendigsten Gottvertrauens. Sonst ihre Stimme im Reden so weich und fast tonlos, jetzt markvoll und schmetternd Befehle ertheilend! Cis! Cis! Cis! so durchgedonnert durch die falschgreifenden Baronessen und Gräfinnen, ein Zu früh! den Räthen, Präsidenten, Kapitäns, Assessoren, Sekondelieutenants und Kadetten – wieder einem Flottwitz hatte sich endlich die Stimme gesetzt zu einem recht brauchbaren Falsett-Tenor – so ein Zu früh! das war wie der Tuba-Ton eines Jahrhunderts, der diesen Herrschaften sonst gewöhnlich nur zuzurufen pflegt: Zu spät! Freilich auch Zu spät's! kamen genug vor, besonders bei den etwas nachmittagsschläfrigen Bässen, die ihr exultabunt ossa mea ganz im Gegensatz zur Bedeutung dieser Worte etwas gar zu sehr wie wiederkäuendes bequemes Hornvieh hervorbrummelten. Am meisten Noth hatte die gute Anna mit der Fürstin Sein-Haben-Werden, die die Musik leidenschaftlich liebte und die heilige vollends mit Auszeichnung, aber an einer für Menschen fast instinktwidrigen musikalischen Gehörlosigkeit litt und im Vergreifen des Einsetzens im Laufe der Übung es in der That für den Zusammenhang der Töne zuweilen zu einem wirklichen kompletten Miserere brachte.
Dystra inzwischen litt nicht nur an seinem höchst geringen Interesse für geistliche Antiphonieen und Responsorien, sondern in noch erhöhterem Grade in seinem ganzen, von dem Lokale, wo er sich befand, in Belagerungszustand gesetzten Nervensystem. Der ihm so wohlwollend zugewandte Greis hatte sich von ihm die kleine Haustreppe hinunter in ein Gemach führen lassen, das zwar eine sehr angenehme Kühle verbreitete, aber bald für ihn ein Gegenstand des Schreckens werden sollte. Der Alte hatte es die Spinnstube genannt. Dystra folgte in Bewunderung vor der ländlichen Patriarchalität dieser Wohnung, wo noch gesponnen wurde, wie im Zeitalter der Königin Bertha.
Wie erschrak er aber, als er sich auf einen Stuhl neben einem Sessel, in den sich der Alte niederließ, warf und entdeckte, daß dies nicht die Spinn-, sondern die Spinnenstube war! Wirkliche Spinnen waren es, die hier spannen, und welche Ungeheuer, welche achtbeinigen Arachniden, welche Netze! Quer über das ganze Zimmer hingen die Fäden und junge und alte Kreuzspinnen schaukelten sich auf ihnen. Es ist wahr, der Greis sprach sehr schön über den Ton und dessen Einwirkung auf die Thierwelt. Er verglich den Ton mit dem Lichte und erklärte, daß Ton und Licht dem Thiere zusammenflösse, dem Fische, dem Käfer, der Spinne. Es ist wahr, man konnte bei den ersten Takten, die in dem Musiksaale nebenan angeschlagen wurden, die Bewegung sehen, wie die Spinnen stutzten und der Thür sich zuwandten. Aber der unheimliche Eindruck blieb doch und wurde gesteigert, als der Präsident auf ein kleines Loch am Fußboden zeigte und sagte: Geben Sie jetzt Acht! Er gab Acht und errieth fast, daß aus diesem Loche noch ein Freund der Musik erwartet wurde, aber am liebsten hätt' er sich einen Kehrbesen und eine muthige Magd gewünscht, die hier die Wände rein gefegt hätte. Es half nichts, er mußte die Spannung des Alten theilen, der aus diesem Loche den Besuch einer kleinen Maus erwartete, die nie ausblieb, wenn die Akademie im Gange war. Es dauerte heute lange. Der Alte bekam schon Bedenken, fürchtete für die Rückfälle seiner Katzen, schalt über die Hunde, die Mägde, die Ratten, die Diener, Alles in einem Tone. Er hörte nichts von den majestätischen Hymnen, die nebenan mit allen Unterbrechungen eines möglichsten Strebens nach Correktheit gesungen wurden, bis endlich wirklich zu seiner innigsten Freude ein kleines graues Mäuslein sich hervorwagte, klug die Äuglein um sich warf, den Boden prüfte, den Schweif ringelte und sich den an der Thür wie verzaubert lauschenden Spinnen als alter bekannter Musikfreund hinzuzugesellen suchte. Schon längst hatte man nebenan einen Versuch in mehr unserm Jahrhundert sich annähernder Musik gemacht, schon längst hatte Dystra soviel gewonnen, daß er mindestens eine durchgebildetere Verschlingung der von den einzelnen Stimmen getragenen Tonfiguren zu bemerken glaubte, als dem Greise sein Experiment gelungen schien und er sein Mäuschen wie einen alten Bekannten begrüßte. Nur dauerte die Freude nicht lange. Denn... plötzlich stockte der Gesang, die Spinnen bewegten sich erschrocken auf den hohen Stelzbeinen, das Mäuschen stutzte, eine kräftige Hand pochte an die Thür, ein Bedienter öffnete... eine Überraschung... der Hof... Was?... Der König... Wie?... Die Königin... Himmel?... Anna näherte sich schon dem Papa – es ist ja nicht glaublich! Doch! Doch! Der Hof eben vorübergefahren, schon bei dem Magnifikat still gehalten... jetzt wo es an Händel ginge, ließe man fragen, ob ein Besuch der Herrschaften erlaubt und Zuhörer gestattet wären... Staunen, Bewegung, Unentschlossenheit... endliche Fassung... zwei Minuten darauf hatte sich die Scene merkwürdig geändert... dem Schlosse von Tempelheide war großes Heil widerfahren.