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Im Vorzimmer des Musiksaales zu Tempelheide bei geöffneten Thüren sitzt das Monarchenpaar, andächtig lauschend einem mit unendlich gesteigertem Eifer wieder begonnenen Händelschen Psalm, einem Musikstücke, auf das sich die im Innersten bebende Anna verlassen konnte... Die Altenwyl, freudestrahlend über den gelungenen Überfall, denn grade in dem Plötzlichen, dem Unvorbereiteten lag der Reiz, lag der Zauber, der allein die Herrschaften in dem Glauben erhielt, sie beglückten sehr die Menschheit und verstünden sie in ihrem tiefsten und geheimsten Walten... Eine Ankündigung dieses Besuchs, wen hätte sie nicht Alles verletzt, wieviel Neid hätte sie erweckt und wie leicht hätte sie das Zustandekommen vereiteln können, da Anna so schwer zugänglich war... Nun aber war der kühne Wurf gelungen... Der Monarch blickt gläubig, seine Gattin erbaut sich an der Sache selbst und an der Andacht des Gemahls... Zwei Kammerherren in bescheidner Entfernung, zwei Hofdamen sitzend hinter der Herrscherin und alle mit denselben Mienen wie diese, dieselben Achs! Dieselben Os! wie jene, ja als sich die Augen der Königin bei einem Adagio mit Thränen füllten, weinten auch die weiblichen Umgebungen... Die Kammerherren waren etwas selbständiger; sie fühlten dem Monarchen nach, daß seine Empfindung eine getheilte war. Halb war sie der altklassischen Musik, halb dem greisen Obertribunalspräsidenten zugewandt, der von seinem Gaste, dem russischen Staatsrathe Otto von Dystra, geführt, neben den Majestäten saß und mit sicherm ruhigen Bewußtsein, ja mit einer gewissen vornehmen Fassung die Ehre entgegennahm, die seinem Hause so überraschend widerfuhr... Dystra war längst dem Hofe vorgestellt und seiner halbverwachsenen Figur wegen sogleich als der Sonderling erkannt, von dem man glücklicherweise seine Bekanntschaft mit gewissen zweideutigen Elementen der Gesellschaft noch nicht in Erfahrung gebracht hatte... Die Königin irrte sich gar nicht, wenn sie bei ihrem Gemahl voraussetzte, daß ihm diese unmittelbare Annäherung an den Chef der Gerechtigkeit in seinen Staaten außerordentlich wohl that und er sich in dem Bewußtsein betraf: Du lehnst dich da an das Gute und das Edle, an das von Gott Eingesetzte und ewig Gewollte, an den Widerschein der himmlischen Ordnung und du bist in der Weise, wie du nun einmal regierst oder regieren lässest, nicht nur in deinem göttlichen Rechte, sondern auch in der wahren Bahn deiner urweltlich prädestinirten Pflichten!... Und nun dazu diese Musik, diese alte bewährte Tonschöpfung eines großen Meisters! Welche Sicherheit gewährte ihm diese Anlehnung an eine Jakobsleiter, die gleichsam in den Himmel selber führte! Ach, es sah so düster auf dem Gebiete der täglichen Erfahrung aus. Die Ruhe war hergestellt, aber theilweise mit gewaltsamen Mitteln. Man hatte in Egon von Hohenberg eine seltne Kraft des Willens, der Durchführung, des Vertrauens sogar gewonnen, aber selber wollte man nicht vertrauen. Man fühlte sich einsam, leer, beängstigt wie immer. Man hatte einen Staat, aber kein Volk mehr. Man sah Gehorsam, aber so wenig Begeisterung bei Denen, die gehorchten, weil sie mußten. Man hatte Beispiele von Strenge geben müssen. Bis in das Heer, das man den Kern und die Blüthe des Volkes zu nennen pflegte – der Kern und die Blüthe des Volkes ist die Schule, hatte dagegen Egon selbst einmal eines Abends in den kleinen Cirkeln mit Reizbarkeit gesagt – bis in das Heer war das »Gift der Neuerung« gedrungen. Es waren Beweise von Verrath gegeben worden, die man zum abschreckenden Beispiele hatte mit buchstabenscharfer Rücksichtslosigkeit strafen »müssen«. Noch beunruhigend genug war die Sage von einem großen geheimen Bunde, der bis in die weiteste Verzweigung aller Stände griff und den Boden, auf dem man täglich wandelte, unsicher machte. Egon selbst, der nicht blos das Land, sondern auch zuweilen den Hof, wenigstens dessen liebste Angehörige, tyrannisirte, der Premierminister, dies allbewunderte, strahlend aufgegangne Gestirn, das weithin am europäischen Himmel leuchtete, Egon von Hohenberg selbst hatte eines Abends, als von gewissen strafenden Worten die Rede war, die ein Prinz des Hauses in der Provinz zu einem Gemeinderathe gesprochen, gesagt: Hüteten sich doch die Fürsten, mit ihren persönlichen Ansprüchen auf die Empfindungen der Menschen jetzt noch zuweit sich hervorzuwagen! Es kann eine Zeit kommen, wo das Fürstenwesen von Allen, vom Bürger, Bauer, Adel und der Bureaukratie umgangen worden ist und es plötzlich in einer Vereinsamung dasteht, die es vor der Treulosigkeit seiner besten Freunde wird erschaudern lassen! Solche Egon'schen Worte waren längst die Veranlassung einer geheimen Hofverschwörung gegen den Staatsretter geworden, wie man ihn öffentlich nannte. Die Königin stand selbst an der Spitze dieser Opposition, die zunächst eine sittliche war und von der Gräfin Altenwyl von dem Augenblick offen bekannt wurde, als sich der Fürst mit dem schönsten Mädchen der Residenz vermählt hatte, dem man die bürgerliche Abkunft nachgesehen hätte, wenn nicht Melanie's Ruf, der Ruf jener Pauline, unter deren Auspicien diese Ehe zu Stande kam, Anstoß hätte erregen müssen. Es war eine Demonstration gegen Pauline und gegen Egon selbst, daß man Anna von Harder heute besuchte, sittliche Elemente schützte, die seelenreinigende Musik verehrte und in dem uralten Chef der Justiz gleichsam jenen alten Staatsorganismus, durch den das Land groß geworden, an Macht und wahrem Glücke gewonnen hatte, selbst der konservativen Neuerung gegenüber in Ehren hielt. Und das Alles schwamm so in den Tönen Händel's mit! Das Alles floß so sanft in den Strom der Harmonieen über, die auch unter der Direktion eines Pianos an ihrer rauschenden Würde und Feierlichkeit nichts verloren! »Jauchzet dem Herrn alle Lande und singet dem König der Ehre!« Es fehlten hier nur noch einige bunte Kirchenfenster, einige Kartons etwa zum Heilande in der Vorhölle, die Sammlungen und diskursiven Erörterungen Voland's von der Hahnenfeder und der ganze Apparat war beisammen, mit dem aus dieser Gegend her gegen die Stürme der Zeit ein Zion voll Kraft und Herrlichkeit erbaut werden sollte.
Und die Sprache der suchenden Empfindung blieb auch nicht zu lange aus. Nach Beendigung des sehr gelungenen präcisen Vortrags erhob sich der Hof, betrat nun den Musiksaal selbst, rühmte die Kraft, die Ausdauer, den Geschmack der Führung und ließ sich von der in der Musik nun recht erstarkten und gehobenen Anna die Damen und Herren vorstellen, meist bekannte, hoffähige Namen, deren Jedem ein anerkennendes Wort, eine Frage, eine jener kleinen Nippsachen der Konversation, die eine Cour für die Großen zu einer Aufgabe macht, zu Theil wurde. Dann aber wurde doch der Greis der Hauptmittelpunkt. Ihn selbst verjüngte die Spannung und erhielt ihn frei, ohne Unterstützung des beobachtenden und vielbeobachteten Dystra... Fräulein von Flottwitz sagte auch den hohen Herrschaften, als an sie die Reihe des Lobes und der Anerkennung kam und ihre »Gesinnung« und die ihrer Anverwandten und ihrer Onkel, ihrer Brüder, ihrer Vettern, namentlich des auch in der Presse wirksamen Oberpräsidenten gepriesen wurde: Welche ausströmende Kraft in der Nähe eines geliebten Herrscherpaares liegt, beweist das Lazaruswunder an dem Greise da! Wie erstanden ist er vom Tode! Alle Krücken sind gleichsam weggeworfen! Sein König sagt: Stehe auf und wandle!... Man belächelte diese etwas pathetischen Worte der Flottwitz, aber sie sagten Das, was man so gern hörte in diesem Kreise. Ja, wie manche Bittschrift wurde nicht erhört, die man statt an den Landesfürsten an seine Gemahlin richtete! Man fand damit ein Prinzip der persönlichen Huldigung ausgedrückt, das leider zu sehr abhanden kam. Ein junger Sänger, der ein Gedicht schrieb: »Die Farben meiner Königin«, erhielt für diese Huldigung im alten troubadourischen Style eine ganz moderne Wechselanweisung zu einer Reise nach Italien. Kurz man steuerte jener Egon'schen Prophezeiung von der poetisch-romantischen Isolirung des Monarchenthums mit vollen, rauschenden Segeln zu und hätte, wenn die heute so unendlich verkürzte Trompetta dagewesen wäre, zwar nicht von ihrem Album, nicht von ihrem zweideutigen Kanonenboot, wol aber schon von dem Chefpräsidenten gesprochen, der zu der Richtung der Persönlichkeit im Staate sich hielt und kürzlich sogar gegen Egon eine Opposition in Steuerfreiheitssachen des Grundbesitzes mit angeführt hatte.
Konnte es da fehlen, daß nun durch die Altenwyl auch die Thierseele, auch die Mauerschwalbe, auch die Äolsharfe im Tannenparke zur Sprache gebracht wurde? Ach, dieser vorschnelle neologische Dystra!... Der platzte mit seinen Beobachtungen über die Spinnen und die kleine Maus hervor. Er wurde belächelt, aber dies Lächeln war nur gnädig, nicht ganz zustimmend. Die Thierseele! Die Thierseele! Man sollte darüber viel zarter, viel milder, viel duftender sprechen. Der alte Herr begann schon selbst davon, Anna unterstützte ihn, man horchte, man lauschte, man gestand zu, es wäre wol das Rührendste, was die Thierwelt darböte, wenn eine Katze die Jungen einer von ihr gebissenen Ratte aufsäugte. Aber da errötheten doch immer noch Einige der Damen. Man wollte die Wissenschaft, die Wahrheit, aber nur nicht zu wissenschaftlich, nicht zu wahr. Man suchte etwas mehr Dämmerndes, Umflortes und da hatte die Gräfin Mäuseburg, die an der Spitze einer großen Anzahl von Vereinen stand, den Muth, auf die Hunde des St.-Bernhard zu kommen, jene edlen Neufundländer, die die in den Lawinen verschütteten Unglücklichen im Schnee aufsuchten, aus dem Körbchen, das sie um den Hals trügen, sogleich mit Speise und Trank erquickten, bis die Mönche kämen und das Werk der Liebe und Rettung vollendeten. Das war denn ein Wort! Das öffnete gleich das ganze Gebiet, auf dem man der Menschheit hier Wunder glaubte zu nützen, das große herrliche Gebiet der innern Mission. Die St.-Bernhard's Hunde auch in ihrer Art innere Missionäre! Nun strömten alle losgelassenen Schleusen der Übereinstimmung über das Seelische und so rauschend quollen sie, daß die Gräfin Altenwyl fast Mühe hatte, mit dem Anliegen durchzudringen, den edlen Greis möchte man doch über die Mauerschwalbe fragen, die Shakespeare so schön beschrieben in Versen, die General Voland damals sogleich, wie Alles, auswendig gewußt hätte. Aber o Jammer! Der alte rationalistische Herr aus Friedrich's des Großen Zeit zerstörte den schönen Traum von der an Mauern schmiegsamen Mauerschwalbe und nannte sie frischweg nur die Maurerschwalbe, weil sie maure wie mit Kelle und Mörtel, nicht Mauerschwalbe, weil sie sich liebend an Mauern schmiege. Und was er auch nun Rührendes erzählte von der Schwalbe und ihrer Anhänglichkeit an ihre Jungen, von jenem Schiff, an dessen Masten sich einst im Hafen eine Schwalbe genistet hätte, die ihre Jungen durch vom Lande geholten Proviant ernährte, von jenem Schiff, das dann in See gegangen wäre und von der Schwalbe, die bald zum Lande, bald zum Schiffe flog, um Nahrung zu holen, bis sie todt niedersank im Meere, weil die Entfernungen zu weit wurden, ja was er auch von der kunstvollsten Methode des Nestbauens durch Schwalben erzählte, die Maurerschwalbe war Das nicht, was man wollte. Die Maurerschwalbe, ach, die stand ja gleichsam im Schurzfell, mit Kalk bespritzt und der Kelle in der Hand vor diesen Damen, deren Phantasie nur das absolut Schöne und das englische Lovely wollte, die Natur gleichsam in Goldschnitt gebunden wie eine Gedichtsammlung über die Sonntagsfeier oder über die Märchenwelt oder was sich der Wald erzählt!... Nur der Monarch gehörte nicht zu den »Desillusionirten.« Er wußte, daß die greise Excellenz Chef aller Landeslogen war und in der Maçonnerie hoch verehrt. Ihn brachte grade doch die Maurerschwalbe auf ein stilles Nachsinnen... die Maçonnerie... und schon schwebte ihm, schon im Voraus gestachelt vom wundersüchtigen Voland, die Bemerkung auf den Lippen, daß die Welt auf die Entscheidung des großen Johanniterprozesses sehr gespannt wäre... als die junge Gemahlin den Wunsch... wieder nach Musik, jetzt nach Pergolese, äußerte, man sich wieder setzte und Pergolese sang. Man sang Pergolese.
Die weichen Töne des Stabat mater nach des alten Hiller Instrumentirung zum Klavier wurden in sanftester Modulation, schwellend und absteigend, in den Tuttis und den Solis vollkommen sicher vorgetragen. Es war eine der fertigen Kompositionen, die Anna von ihrer Akademie zu jeder Zeit und auch Jedem darbieten konnte. Diese Töne waren gewiß schmelzend. Gewiß, Baron Dystra, hätte ihm eine Stimme sagen sollen, wen der Schmerz Mariens, die am Kreuz des Sohnes stand, in diesen Tönen nicht rührte, verdient den Antheil nicht am gesitteten Menschenbund. Der Baron glossirte auch wirklich nicht die Thränen der Frauen. Ergriff ihn doch selbst das Verhallen des auch dichterisch so wohlgefügten Liedes, dies sanfte, stille Ausathmen der Komposition, nach dem man nur abbrechen, gehen, knieen, predigen, beten, nichts Gemeines mehr beginnen kann. Die Damen wären auch zerknirscht so am liebsten nun gegangen, so mit feuchten Augen am liebsten von der bewegten und ruhig gewordenen Anna geschieden, aber den Monarchen fesselte es an den greisen Obertribunalspräsidenten. Es that ihm so wohl, sich durch ihn im Zusammenhange mit der Geschichte seines Hauses zu wissen. Er begann, um nur noch zu bleiben, jetzt von den Windharfen und bedauerte den für den Greis zu entlegenen Weg. Doch dieser machte dem Worte der Flottwitz Ehre. Er stand und ging wie der Rüstigsten Einer und als der Fürst sogar selbst seinen Arm ergriff, ihn selber führte, gab er seine bereitwilligste Absicht zu erkennen, seinem Herrn und Könige auch mit Freuden jene Zähmung der Luftgeister zu zeigen. Nun war Alles wieder erfrischt, wieder erquickt nach dem schmerzlichen Drucke Pergolese's. Der König will noch bleiben! Alles athmete beseligt. Draußen vollpulsirende Bewegung. Hunderte von Menschen, die an den Spalieren standen und leidlich ehrerbietig gafften. Die ganze Akademie folgte, weil es gewünscht wurde. Die Diener machten Spalier. Es ging in den Tannenpark. Auch Dystra folgte mit den Kammerherren, die er obenhin kannte. Anna blickte zu Olga hinauf, die hinter ihren Blumen stand, sich getrost das Alles entgehen ließ und sich vor einem Schauspiel, das ihr wenig Interesse einflößte, still verbarg. Als im Gehen der Großpapa eine Erzählung begann, die sie ohne Erschütterung nie hören konnte, die Geschichte der beiden Schwestern Philomele und Prokne, erschrak sie recht...
Der Greis kam sehr einfach auf diese Geschichte. Der König hatte ihn nach den allgemeinen religiösen Resultaten seiner Lieblingsneigung gefragt. Dagobert von Harder antwortete darauf:
Manchmal, Majestät, wünscht' ich, die Christuslehre hätte die Menschen nicht zu sehr auf das Reich der unsichtbaren Geistigkeit verwiesen. Es ist nicht gut, wenn wir uns zu sehr aus den Banden der gegebenen Sinnengrenze entfernen. In den heidnischen Vorstellungen über Religion hat mir immer gefallen, daß ihnen eine allbelebende Phantasie in der Natur bestimmte Ruhepunkte anwies, die unmittelbar anzubeten freilich eine blinde Abgötterei war, während leider auch wir in unserm Glauben vom Hylozoismus nicht ganz frei sind. Die Alten haben sich selbst gehoben, als sie die Thierwelt zu Mittelstufen der Götterlehre machten. Jedem Gotte war irgend ein gefiederter Bewohner der Lüfte oder das schnaubende edle Roß oder die wilden, von des Gottes Bedeutung gebändigten Einsiedler der Wüste beigegeben. Der Lehre von den Verwandlungen liegt ein Prinzip zum Grunde, das im Thiere eine Offenbarung anerkannte. Und wie artig sind die Sagen der persönlichen Auffassung des Welt- und Erdenlebens! Schiller singt: Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen, seelenlos ein Feuerball sich dreht, lenkte damals seinen goldnen Wagen Helios in stiller Majestät. Gibt es eine schönere Sage als die von Philomele und Prokne?
Der Monarch, der mit dem General Voland die Belesenheit gemein hatte, kannte sie, doch nicht vollständig genug, um sie den Damen mitzutheilen.
Philomele und Prokne, erzählte der Greis, waren Schwestern, Beide Töchter eines Königs von Athen. Prokne an einen benachbarten kleinen Fürsten vermählt, Namens Tereus. Tereus wurde seiner Gattin überdrüssig. Es verlangte ihn auch nach Philomelen. Er beredete bei einem Besuch in Athen den Schwiegervater, ihm die Schwägerin auf die Reise mitzugeben, da Prokne, seine Gattin, sich zu sehr nach ihrer Schwester sehne. Man gab ihm Philomelen mit und setzte sie seinen bösen Gelüsten aus. Da Philomele tugendhaft widerstand, ließ der rachsüchtige Mann ihr die Zunge ausschneiden und warf sie in einen einsamen Thurm. Durch eine Stickerei verrieth sich aber Philomele ihrer Schwester Prokne, die sie zu retten wußte. Prokne voll Wuth über ihren Gemahl tödtete ihm den eignen Sohn, ließ ihm diesen als Speise für seine Tafel zurück und entfloh mit ihrer Schwester. Beide wären von der Rache des Tereus unfehlbar ereilt worden, wäre Philomele von den Göttern nicht in eine Nachtigall verwandelt worden. Prokne aber wurde die Schwalbe. Ihr ängstliches Flattern rundum im Kreise deutet auf die Reue über ihren begangnen Frevel; sie sucht das Kind wieder, das sie so grausam gemordet hatte.
War bei dieser mit Interesse vernommenen Erzählung das Auge Aller, die die Verhältnisse kannten, auf Anna von Harder gerichtet, deren Beziehung zu einer Schwester und zu einem verlornen Kinde zur Chronik der Welt gehörte, so machte es nach dieser trüben Anwendung fast einen komischen Eindruck, als in dieser Fabel gewissermaßen auch eine Anspielung auf den Intendanten der Bühne, den entarteten Sohn des Redners selbst, zum Vorschein kam; denn der König selbst war es, der da sagte:
Und jener Tereus, Schwager der Prokne, wurde ja wol in einen Wiedehopf verwandelt?
Man forschte, ob man lächeln durfte. Diese Menschen hatten Alles in Bereitschaft, Lächeln, Weinen, Ernst, je nachdem es auf dem Zifferblatt der Uhr, nach der sich hier Jeder richtete, aussah... Aber Kurt Henning Detlev von Harder als Wiedehopf? Alle lächelten diesmal von selbst.
Otto von Dystra erlaubte sich nun die Bemerkung, daß doch ein letzter Rest der Ehrfurcht vor den Thieren die Heraldik wäre, und hatte mit dieser Anmerkung seinem Freunde, dem General Voland, eben so viel Ehre gemacht, wie dem Fürsten Vergnügen, der dies Thema als Kenner verfolgte. Alle Ritter- und Wappenbücher wurden gleichsam in dem Gange über die Kiefernadeln nun auch aufgeschlagen, während Pfauengeschrei den Damen nach Pergolese wehe that. Man schritt des Greises wegen so langsam, daß bis zur künstlichen Ruine und zu den Windharfen dieser noch mit einer gewissen Feierlichkeit sagen konnte:
Vergebung, Majestät! In die Wappen hat man die Thiere in ihrer ganzen Wildheit aufgenommen.
Aber ist es nicht schön, wagte eine Damenstimme – es war wieder die der Flottwitz, die allgemein heute bewundert wurde – ist es nicht schön, die Thiere so zu nehmen, wie sie die Natur geschaffen hat, das Pferd so stolz wie in Arabien, den Adler so königlich, wie er auf den Felsen horstet?
Die ganze Gesellschaft murmelte Beifall. Alles war entzückt. Die Wappenthiere aller Anwesenden rührten sich. Jeder verrieth, daß er seinen Habichten, seinen Falken, seinen Auerhähnen auf den Wagenschlägen draußen Ehre zu machen hätte.
Der Präsident blieb stehen und sah sich im Kreise um. Die Königin erschrak vor dem Blicke, der aus den zusammengefallenen Runzeln schoß; sie fürchtete eine Polemik, die ihr in neuester Zeit reizbarer gewordene Gemahl liebte, ja herausforderte. Sie hatte eigentlich schon an dem Ausdruck des Präsidenten »Christuslehre« genug gehabt und fürchtete Konflikte.
Nun, Excellenz, reden Sie! sagte der König. Sie lasen die Sibyllinischen Bücher! Wir sollten öfter auf die Sprache der Erfahrung hören.
Majestät, erwiderte der Greis sich ehrerbietig verneigend, ich wünschte nur das Eine nicht, daß unser Jahrhundert in seinem frischen und kräftigen Selbstgefühl zu wild, zu zornig sich zuweilen gebehrdete. Ich kümmere mich wenig um die Händel des Tages, aber was davon in meine Klause dringt, flößt mir zuweilen den Schrecken ein, daß wir wol glauben möchten, auch alle unsre Zähne wären für die Verzehrung der Thiere bestimmt. Etwas mehr Pflanzenkost, etwas mehr indische Brahminenlehre würde dieser Zeit nicht schaden.
Man lachte...
Aber der Greis, den, da der König bewegt schien, Otto von Dystra führte, ließ sich nicht irre machen. Halbscherzend und des Fußes auf diesem neuen Zeitboden nicht ganz gewiß sagte er:
Ja! Ja! Lachen Sie nur! Ich gehöre noch zu den alten Heiden, Majestät, zu den Heiden, die bei Ew. Majestät Vorfahren das Recht hatten, sich für Weise zu halten. Jetzt freilich wird uns bewiesen, daß wir damals ganz dumme, oberflächliche Narren waren. N'importe! Es ist möglich. Aber ungläubig waren wir eigentlich doch nicht! Wir glaubten mehr, als jetzt die Leute glauben, nur Anderes. Ich hatte eine Jugend, wo ich nur an die Götter glaubte, die im Bardenhaine Thuiskon's verehrt wurden. Klopstock war mein edler großer Sänger. Dann schlug ich, besonnen geworden, um. Ich fand, daß mein Odin und die holde Freya meine Beförderung auf dem Kammergerichte nicht recht in Gang bringen wollten. Da ging ich zu den Griechen über und habe mit meinem Homer in der Hand zum Vater Zeus gebetet, wenn blauer ionischer Himmel auf der Erde lag, und zu Poseidon, wenn es regnete, und zu Ceres und Bachus, wenn die Arbeit gethan war und der grüne Römer winkte... Dann wurde die Welt wieder was Anderes, nämlich indisch. Ein wenig macht' ich diese Religion auch noch mit, aber die Indier in Asien und München führten mich zu tief in die Katakomben des Mysticismus. Da blieb ich draußen und kam glücklicherweise weder in Herrenhut noch in der Siebenhügelstadt wieder ans Tageslicht.
Man lachte wieder, zum Schrecken der Gräfin Altenwyl. Die Akademie schien nicht zu wissen, daß nur der erste Theil dieser humoristischen Rede bei Hofe komisch sein durfte, die Schlußbemerkung aber bedenklich. Es fehlte wirklich jetzt eine Trompetta, um hier die Grenze zu ziehen, bis wieweit das bekannte, vielbesprochene, nun sich deutlich herausstellende Heidenthum des alten Obertribunalspräsidenten unterhaltend gefunden werden durfte. Die Gräfin wechselte nicht unbedeutende Blicke mit Anna von Harder und flüsterte ihr zu:
Ich wette doch! Er glaubt an die Seelenwanderung.
Die hohen Herrschaften waren in einer eignen Lage. An einem Manne, den sie seines Alters und seiner Stellung zur Monarchie wegen hochverehrten, entdeckten sie eine Geistesrichtung, die ihnen nicht nur völlig rococo, sondern sogar gefährlich erschien. Dies war wirklich noch der alte Neolog der »Zopfzeit,« der unverbesserliche Rationalist, der an dem Revolutionszeitalter wahrlich auch sein Schuldtheil trug. Wo war nun die Thierseele, die Mauerschwalbe, der Nachschauer des Stabat mater hin?
Glücklicherweise hatte man die Ruine erreicht. Gott sei Dank, diese war im Geschmack des ritterlichen Mittelalters! Da gab es doch Mauerzacken und Rundformen, eine Altane, und das Prächtigste war, ein leiser Wind bestrich die im schönsten Lichte sich noch immer sonnenden Tannenwipfel und wie zum Gruße des hohen Besuches kamen die Luftgeister geflogen und breiteten ihre klingenden Schwingen aus. Wie hallte Das in dem stillen Walde wider! Wie sanftes Moll bebte und schrillte in der Luft! Man söhnte sich mit Tempelheide aus, man hatte die Anknüpfung wieder an die letzten gesungenen Worte gefunden: Quando corpus morietur, fac, ut animae donetur paradisi gloria!
Befriedigt wollte die Königin nach einigen noch mit Dystra aus Veranlassung des gothischen Geschmacks über seine Tempelsteinbauten gewechselten Worten sich empfehlen. Sie hatte viel Sachgemäß-Architektonisches über Buchaus Umgebung und die Tempelsteinruine gesprochen... Aber ihr hoher Gemahl besaß zwei treffliche Eigenschaften, denen nur nicht immer die Gelegenheit zur vollkommnen oder richtigen Anwendung gegeben wurde. Er liebte erstens die Gerechtigkeit und besaß zweitens einen unergründlichen Schatz von Pietät. Die zwischen ihm und dem alten, von seinen Vorfahren so gefeierten und noch so geistesfrischen Herrn obwaltende Meinungsverschiedenheit reizte ihn. Er brachte auf dem Rückwege von den Windharfen das Gespräch wieder auf jene Idealität des Greises, die gewissermaßen am Eingange der Katakomben stehen geblieben war und grübelte darüber, wie er, da ihm Scherzformen nicht gegeben waren, es anzustellen hätte, auf General Voland's Äußerung einzulenken, derzufolge der Johanniterprozeß mit den Lieblingsneigungen des Greises, der Freimaurerei und der Thierseelenkunde, zusammenhinge. Gradezu, wußte der König wohl, konnte er weder von der Freimaurerei noch von jenem Prozeß und der Meinung des obersten Gerichtshofes, ohnehin vor so vielen Zeugen, beginnen; doch wagte er den kleinen Scherz:
Die aufgeklärte Zeit war gezwungen, weil sie Gott den Herrn nicht erkannte, sich andre Götter zu schaffen. Voltaire soll vor seiner Katze mehr Respekt gehabt haben als vor den Heiligen. Ja wenn ich Voland glauben darf, so beteten die Tempelherren die Katzen wirklich an und hatten ein Idol, das sie den Bafomet nannten, eine Art von Götzen, toller als die Kalmücken, dieselben Tempelherren, die die Keime der Freimaurerei nach England verpflanzten!
O Majestät, erhob sich jetzt der Greis in seiner ganzen gebückten Gestalt und warf seine hellblauen Augen in die Höhe des Lichts, daß sie wie verklärt schimmerten, o Majestät, wer sagte Ihnen Das? Wenn der Herr General Voland die Akten der Ketzerrichter, die den edlen Jakob von Molay durch Feuer hinrichteten, für vollgültige Beweise nehmen will, so hat er Recht, Mährchen für Wahrheit auszugeben. Aber die Geschichte hat jenen elenden Papst verurtheilt, der aus der schmählichsten Erniedrigung des apostolischen Stuhles zu Avignon auf Geheiß jenes tyrannischen Philipp von Frankreich einen Orden zerstörte, der nur einer Reform bedurfte, um der Geschichte eine andre Bahn vorzuzeichnen, als sie die der Staaten und der Religion später gegangen ist. Man fand in den Tempelhöfen Thiersymbole, man spricht von einem im Pariser Tempel gefundenen metallenen Kopf, den man Bafomet nannte. Aus Scherz hab' auch ich einen alten treuen Kater Bafomet genannt. Die Templer zogen in den Orient als fanatische Christen, sie kamen tolerant zurück. Sie hatten in den Moslem Brüder, Menschen, Helden kennen gelernt. Sie hatten so viele Beispiele von Großmuth der Emirn erfahren, daß sie mit Achtung vor jeder Religion, die den Menschen veredelt, von der Küste Asiens schieden. O Mahomet liebte die Thiere! Er war der Apostel einer nicht übergeistigten Religion, der Prophet einer Lehre, die den Menschen an die Sinnenschranke bindet, damit er im geistigen Fluge nicht taste, luftige Wolken für feste Eilande halte, nach Sternen hasche und sich die Blüthen der Erde in der Hand verwelken lasse. O Majestät, Mahomet war ein sehr weiser Gesetzgeber, ein sehr großer Staatsmann und er liebte die Thiere. Was ist der Araber ohne sein Pferd? Warum hielt Mahomet die Katze hoch? Weil er den Hund nicht kannte und weil er in der Gewöhnung der Katze ein mildes Prinzip des Hauses sah. Die Tempelherrenbauten – dort drüben jene Kirche vom uralten Tempelheide – haben überall Spuren von Anwendung der Thiere zu Ausschmückungen der Architektur. Die Übergeistigung hielt sich an die Blumen, die Menschenreligion an die Thiere. Und wohl uns, wenn wir Duldung lernen und die gezogene Grenze unsrer Sinne! Ach, das Gebiet der Nacht ist so groß, so unheimlich, so gefahrvoll. Die Tempelherren mußten dem Islam weichen; sie mußten das Grab des Erlösers im eignen Herzen finden und der Menschheit die Lehre von den in ihr selbst ruhenden Heiligthümern predigen. Richard Löwenherz kam mit einem gezähmten Löwen heim. Der Blick erweitert sich, wenn man die Natur belauscht und die stumme Sprache selbst des Thieres zu verstehen sich müht. Kein großer Naturforscher hat einem Tyrannen schmeicheln können. Das Recht, das ewige Recht leitet seine Quelle von Dem her, was allem Lebenden gemeinsam ist, von der Luft, dem Feuer, dem Wasser und der Erde. O wehe, wehe einem Zeitalter, das sich von der Duldung entfernt, wehe Denen, die um der falschverstandenen oder innerlich nie gefühlten Liebe willen Haß predigen! Wehe Denen, die eine Wahrheit, die nicht Alle erkennen, auf irgend einen Thron der Welt setzen! Daß wir Menschen sind, schwache, endliche Werkzeuge eines großen uns nur ahnungsweise faßbaren Weltenplanes, das ist die einzige Wahrheit und diese macht uns demüthig, tolerant, nachgiebig gegen Andersdenkende, zugänglich dem Bessern und den Keimen neuer geschichtlicher Regungen! Ich weiß es nicht, ob die Maurerei durch flüchtige Tempelherren nach England verpflanzt wurde, aber ich wünschte, es wäre so. Ob Jude, ob Christ, ob Muselmann, es ist ein Gott, der uns Alle erschaffen hat, erhält, zerstört, zu neuem Leben verwendet, verklärt, erlöst, wie man es nennen will. O, o dieser General mit seinen Katzen! Mein Bafomet sagt mir keine Mysterien, nichts über den Stein der Weisen, nichts über die Quadratur des Cirkels, er sagt mir: Liebet Euch untereinander, duldet Euch und bessert Euch durch die Erkenntniß Eurer irdischen Schwächen und einer selbst in Thieren durch Menschenliebe möglichen Vollkommenheit!
Die Wirkung dieser mit Begeisterung gesprochenen Worte des Greises, die ihn trotz seiner kleinen Figur zum Seher erhoben, war verschieden. Die Frauen empfanden etwas, das halb aus Spott, halb aus Mitleid zusammengesetzt war; nur als sie die Liebe erwähnt hörten, blickten sie auf die Herrscherin, um gleichsam die Verhaltungsregel ihrem Antlitz abzumerken. Die junge, hohe, schlanke Frau blieb aber streng. Sie war von der neuen Zeit und ihren Wirren, von den Gefahren des Königthums zu sehr gereizt, sie erkannte nur gefährliche Irrthümer in dieser kühnen Rede eines Achtzigjährigen... Ihr Gemahl jedoch war erschüttert. Seine Bildung sagte ihm, daß er die Theorie Lessing's, Mendelssohn's, jenes Reimarus, der in der That über Vernunftreligion und Thierseele zugleich geschrieben hat, vor sich hatte, er sah Nathan, Saladin, den Tempelherrn aus Lessing's schönem Gedichte, er gedachte der Thränen, die ihm die Erzählung von den drei Ringen als Knaben gekostet hatte, wenn er sie von einem großen Künstler gesprochen hörte und dargestellt sah. Trotzdem, daß seine Gemahlin ein andres Gespräch, ein leichteres und wieder über den Tempelstein und die Nachbarschaft des Herrn von Dystra bei Buchau anknüpfte, umarmte er beim Abschiede den Greis voll Rührung, Zerknirschung; denn es waren zwei Seelen in ihm... Die eine wollte sich manchmal zum Entsetzen der Ultrapartei von der andern trennen... Dann überschlichen ihn Entsagungsgedanken. Wie sollte er auch jetzt die Achtung vor der philosophischen Größe des achtzehnten Jahrhunderts vermitteln mit der leidenschaftlichen, sich allein weise dünkenden Staatstheorie der Absolutisten, die in der Kammer, der Presse, auf dem Richterstuhle Egon's von Hohenberg Schleppe trugen oder gar noch weiter als dieser gingen? War nicht schon soviel Blut geflossen für diese Gegensätze alter und neuer Zeit? Was konnte nicht noch kommen?... Der Monarch brach ab. Kein von der Altenwyl in Anregung gebrachtes Sanctus, kein Dies irae mehr konnte ihn halten... er war erschüttert, er umarmte den Präsidenten, sagte Anna von Harder das Verbindlichste, grüßte dankend die Übrigen, entschuldigte den Überfall und fuhr ernst und ergriffen rasch von dannen.
An eine Wiederaufnahme der Akademie war heute nun nicht mehr zu denken. Das war ein Ereigniß gewesen, das gleich in alle Welt mußte! Man küßte, man herzte Anna. Man schüttelte, unbekümmert über Das, worauf sie gedeutet hatte, die Hand der greisen Excellenz. Man hatte eine unendliche Ehre genossen. Ja, die Flottwitz, die die Gegenwart, die Praxis im Auge hatte, rief sogar, ob aus Liebe zu Dankmar oder einen Augenblick die Demokratie vergessend aus:
Excellenz, gewinnen denn die Wildungen den Prozeß? Ist es denn wahr, daß es sich nur noch um einige wenige Buchstaben in einer alten Urkunde handelt?
Der Greis lächelte nur mild, schwieg und entfernte sich an Dystra's Hand...
Dystra hatte ihn verstanden. Der sonst so spöttische Dilettant, der Alles von der Seite der bloßen Kuriosität, nur als Sammler für das Herbarium seines Gedächtnisses auffaßte, war ergriffen von der Lebenswahrheit, die ihm hier, auch aus einer Liebhaberei, entgegensprang. Das waren auch Allotrien, auch Nebenstunden, auch Sammlungen und wie hoben sie die geistige Thatkraft, die sittliche Überzeugung! Er kannte hinlänglich diese neuere vornehme Geistesrichtung der Politiker, die bei Hofe so maßgebend waren. Er kannte Voland's thatlose Reminiscenzendoktrin und sein objektives Meinungskaleidoskop, kannte Rochus vom Westen in seiner gesinnungslosen Skepsis, kannte die Loyalitätsdoktrin junger Publizisten, die Carriere machen wollten und den Staat auf die Säbelspitze oder das Bayonnet steckten, er kannte den Geist des neunzehnten Jahrhunderts als einen tieferen, bedeutenderen als den dieses Greises, und doch wie wenig Liebe und Gerechtigkeit in diesem Geist! Auch Dystra's Fragen über jenen Prozeß wich der hochgestellte Richter als einem Amtsgeheimniß aus, aber Dystra schied doch mit dem gesteigerten Gefühle der Anhänglichkeit an die Brüder Wildungen und den mit so vielen Gefahren bedrohten Bund der Ritter vom Geiste. Noch heute wollte er in den Ullagrund an Dankmar und nach Antwerpen an Siegbert schreiben... Als er von Anna Abschied nahm, fand er sie allein. Er sagte zwar nur: Excellenz waren charmant, waren süperbe! aber er meinte etwas unendlich Größeres damit. Er plauderte Späße mit Spartakus und Cicero, er nickte zu den Fenstern Olga's hinauf, er moquirte sich über die Hofdamen, über die Spinnen, über Pergolese's langweiligen Styl, über die Blicke, die die Fürstin von Sein-Haben-Werden auf ihn geschossen hätte, als von Verwandlung des Tereus in einen Wiedehopf die Rede gewesen wäre, als wenn sie nicht viel eher Ursache hätte, den Vortrag einer Geschichte der Verwandlungen in eine Schnepfe oder eine Gans zu fürchten, kurz er versteckte sein Gefühl in ein Hanswurstkleid, das ihm, wie er dachte, besser stand als der Ernst. Anna seufzte über die »Gesellschaft« Olga's wegen... Erschüttert in allen Nerven ging sie erst zur alten Excellenz, die schon in ihren Arbeiten vertieft war und sich mit Behagen die merkwürdigen Scenen noch einmal vergegenwärtigte, dann aber rief sie Olga, um ihr zu erzählen, was sie versäumt hatte und zu staunen, als sie vernehmen mußte, daß ihr die Fortschritte, die sie inzwischen an ihrem Bilde gemacht hätte, lieber wären als alle Schauspiele der Verstellungskunst bei Hofe.
Du hast Recht! sagte Anna, betrachtete das Bild, ergriff Olga's Arm, nahm einen großen runden italienischen Hut, den sie ihr sanft auf das schwarze Haar legte und zog sie mit sich die Stiege hinunter in die freie Luft... Sie hätte es in den schwülen niedrigen Zimmern nun nicht aushalten können. Ihr Blut wallte. So heiß war es ihr seit Jahren nicht durch die Adern gerollt. Jetzt hätte sie einer liebevollen Kindesseele bedurft, die sie zärtlich umfangen, ihr die Stirn geküßt, das Haar, die Wangen, die Hände gestreichelt hätte. Sie sagte es auch der nicht so wie sie angeregten und sie nicht verstehenden Olga. Sie sagte ihr:
Ach, hätt' ich meine Selma jetzt!
Auf dem kleinen Hügel sammelte sich Anna. Die Sonne war im Sinken begriffen. Die fernen Thürme der Stadt wie erleuchtet von ihren letzten rothen Strahlen. Erst Alles ringsumher so geräuschvoll, nun wieder die alte, ihr so wohlthuende Stille... Es ging dem Winter zu. Wie doppelt genießt man den freundlichen Abschied des Herbstes! Man möchte ihn festhalten, mit ihm ringen, daß er bleibe, aber in dem Kampfe fallen vom Haupte des gebräunten Knaben aus seinem Erntekorbe erst die Früchte, die Birnen, die Äpfel, die rothbraunen und grünen Trauben, zuletzt aber auch die Blätter selbst... Olga aß von einem Teller Trauben. Sie hatte Tage, wo sie nichts genoß als Früchte. Sie hielt Anna's Hand, fühlte ihre Pulse klopfen, aber sich ihr hinzugeben, sie wie das Kind zu umarmen, das Anna'n heute vor mehr als dreißig Jahren geboren war, das vermochte sie nicht, in der Voraussetzung der sie umgebenden prosaischen Dinge. Doch einmal sagte sie:
Warum soll denn Selma todt sein?
Ein Akkord wehte grade herüber vom Tannenpark...
Sie ist todt! sagte Anna. Ich mußte sie hingeben schon damals, als ich dem Manne ihrer Liebe sie versagen wollte! Es war ein mächtiger Geist, um den sie flatterte, wie der Schmetterling um die Lichtflamme. Ich sagte ihr, daß er sie verzehren würde. Sie glaubte es nicht. Ich schilderte ihr sein regelloses, kometenartiges Leben. Sie liebte ihn doch. Ich tadelte sie in ihrer blinden Wahl, ich enthüllte ihr Alles, was ihr diesen Geliebten verdächtigen konnte. Sie haßte mich dafür; denn so lieben Liebende! Sie folgte seiner Werbung, in weite Fernen. Wohin? Wer weiß es? Nie schrieb sie mir. Ich war todt für sie, sie todt für mich. Und ich weiß es, in Worten, geschriebenen Worten, ließ sich nicht sagen, was mein verlornes Kind mir zu sagen hatte. Ihr Gatte war ihr ein Gott. Ihn betete sie an. Konnte sie so treulos sein, nachdem ich ihn als den Verabscheuungswürdigsten ihr hingestellt hatte, vor seinen Augen sich mit den Frevlern an ihrem Heiligthume auszusöhnen? Erst war ich trotzig, dann wurd' ich zaghaft, zuletzt weint' ich, und als ich nicht mehr weinte, weiß ich, war sie gestorben. Eine Stimme sagt mir's. Das hört sich. Das sieht sich auch. In stillen Nächten kommen die Bilder. Ich weiß, Selma ist nicht mehr.
Olga brach sich Blumen und wand einen Kranz; dieser Ton hatte ihr gefallen. Ihren geistigen, poetischen Stolz überwand sie etwas, sie gedachte, der alten Dame, die so überfliegend und ätherisch sprechen konnte, mit einem Kranz zu huldigen...
Es schlug schon sieben vom Thurme... im Hofe war Alles ruhig... auf der Straße unten dann und wann ein Wagen noch, ein Reiter... der Greis zündete Licht an. An seinem Fenster wurd' es hell. Er studirte...
Der Abend war nicht kühl. Es war eine verspätete Sommernacht; aber das Dunkel kam früh... Olga's Kranz war fertig... Von den Tannen würziger und melodischer Hauch...
Eben will Anna Olga's Arm ergreifen und sich dem Hause zuwenden, um Abends, wie sie gewohnt, dem Greise beim Thee noch etwas vorzulesen, als ein kleiner Wagen, ein Einspänner, von der Chaussee aus dem Walde herkommend, zum Landhause einlenkt...
Welcher späte Besuch? frägt Anna und wendet sich der Eingangspforte zu.
Der Wagen fährt näher. Er ist halb offen. Ein älterer Herr, eine verschleierte Dame sitzen im Hintergrunde. Sie beugen sich vor. Die Dame ist jung... sehr jung... sie schlägt den Schleier zurück... es ist noch ein Mädchen. Anna kann nicht genauer forschen, der Wagen wendet rasch und hält vor'm Thore... Der Herr steigt aus. Groß und stattlich seine Gestalt; das Antlitz bleich. Seine Hände zittern, als er den Schlag hält und dem jungen Mädchen den Arm zum Aussteigen bietet... Diese hüpft von dem Fußtritt zur Erde nieder... ein bewegtes Auge schaut unter dem Strohhute empor... Der Besuch nähert sich dem Thore... An der Pforte zu klingeln ist nicht nöthig... Anna öffnet schon selbst... Die hohe Dame von vornehmer Haltung, in schwarzem Seidenkleide, die reiche Spitzenhaube auf dem Haupte, blickt fragend... Der Herr hatte den Hut schon in der Hand, als er ausstieg; das junge Mädchen zieht den ihrigen, da die Schleife losgegangen, mit einer einzigen Handbewegung herab... die prächtigsten braunen Ringellocken fallen von einem Engelskopf herab, der freudestrahlend und mit feuchtem Auge die edle Dame zu erkennen, aus ihr ein unendlich Liebes herauszufinden scheint... Anna, zum Tode erschrocken, hält sich an dem Gitter der geöffneten Thür... Die alten Diener nähern sich... ein leises Ach! das Anna's Brust entfährt, ein fragender Blick auf einen der Diener, der ihre Tochter kannte... eine Ahnung, ein Zucken des Auges nach jenem Manne hin, der stumm und ruhig auf dies Mädchen, wie auf ein ihr opfernd Dargebrachtes zeigt... Anna versteht, besinnt sich auf zwanzig entschwundene Jahre, die ihr entfallen schienen bei dem ersten Gedanken, Das ist ja dein Kind, deine Selma!
Selma's Tochter? ruft sie. Rodewald?
Ackermann beugt bejahend das Haupt und spricht:
Selma's Erbschaft an ihre Mutter...
Thränen füllten sein Auge...
Olga hebt den Hut des Mädchens von der Erde und muß nach Anna greifen, der Großmutter, die vor Schmerz und Freude im Anblick ihrer Enkelin weinend zusammenbricht.