Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Funfzehntes Capitel.

Des Sohnes Locke.

Diese strebsamen jungen Männer! Wie geistesfrisch! Wie beneidenswerth in ihrer Jugend und Sorglosigkeit! sagte Ackermann, als er mit Selma allein von Plessen nach dem Ullagrunde zurückfuhr.

Selma schwieg und blickte durch die trüben Fenster des kleinen Wagens in die öde von Nebeln verschleierte Gegend. Noch vor einigen Stunden waren sie zu Fünf diese Straße rasch dahin gerasselt. Nun waren sie allein.

Der Eine, fuhr Ackermann fort, ist fast zu scharf und läuft Gefahr mit Hinneigung zu den Arbeitenden auch deren Art und Sitte anzunehmen. Dem Siegbert Wildungen wünscht' ich, die vornehmen Stände rückten etwas aus seiner Nähe und überließen ihn jener Ursprünglichkeit und Kernnatur, die mir in dem viel zu wenig von ihnen erwähnten und doch sie alle zu beherrschen scheinenden jüngern Bruder Dankmar zu liegen scheint. Wie dem auch sei, es ist wahr; Oleander ist Denen gegenüber nur ein halber Mann.

Selma war in der Stimmung, Oleander zu vertheidigen.

Er wirkt doch wohlthuend, sagte sie. Es ist doch Liebe und Herz in ihm! Jener Leidenfrost, magst du seine Kenntnisse noch so rühmen, stößt ab und Siegbert ist flatterhaft, eitel, verwöhnt, versteckt, ganz und gar nicht anziehend.

Welche Beschuldigung!

Wie bald hatte er den Kummer um seine Mutter vergessen!

Mein gutes Kind! Das, was dem Leben des Mannes abgeblüht ist, mag es noch am Aste hängen oder schon abfallen – ein kurzer Schmerz und die Wunde ist geheilt. Wir sterben nicht Alle so, wie uns deine Mutter starb, in dem vollen Bedürfniß, daß sie noch lebe. Was ist diesen jungen Männern die in Angerode einsam lebende Mutter gewesen!

Du sprichst wärmer von ihr, als dieser Sohn, der mir kaum das schöne Erinnerungsblatt zu verdienen schien, das ihm Oleander noch aufgeschrieben...

Wie ungerecht! Wie streng! Nein, nein, Selma! Lies mir jene Worte vor, die du dir entlehnt hast! Du hast Oleander glücklich gemacht durch diese Theilnahme, diesen Vorzug, den du ihm schenktest.

Selma zog ein Papier aus ihrem Kleide, entfaltete es und las, soweit die Bewegungen des Gefährtes es erlaubten, mit sichrer Stimme:

O Mensch! Das Wiederseh'n! Ein hehres Wort!
Was lauschest du nicht seinem Wunderklange
Und horchst der heil'gen Stille um dich her?
Und redest du und klingt dein Mund voll Wohllaut,
Warum nur frägst du nicht: Was spricht aus dir?
Was hauchte dir Musik in deine Kehle
Und lehrt dich reden, jauchzen, singen? – Thränen
Und Klänge sind es, die in's Jenseits führen;
Denn was sind Thränen und was ist Musik!

Ach! Hemme deinen Fuß und horche nur
Dem stillen Gottesfrieden der Natur!
Wie feierlich beredtsam dieser Plan,
Der zu den blauen Bergen grün sich zieht,
Erst Wiesengrün, dann dunkler Tannengrün,
Dem Aug' ein wie erquickendes Gemisch!

Doch führt des Ohres Pforte mehr zur Seele;
Das Echo spricht mit ihr, des Waldhorns Klang,
Der in den tiefen Tannengrund getragen,
Zurück uns zwiefach, dreifach grüßt, vom Wald,
Vom Fels, von Wem wol weiß ich noch!... Natur,
Ach, du dir selber plaudernde! Geschwätz'ge,
Im Zwiegespräch belauschte Einsamkeit!
Die Ruh' hört Ruhe! Nur das Herz darf schlagen,
Ein Vögelchen aus fernem Walde rufen,
Die kleine Quelle murmelnd dich umplaudern...
Dann hörst du sie, die stillen Geisterzungen,
Die zu dir flüstern: Mensch! du bist unsterblich,
Siehst Die ja wieder, die du scheiden sah'st!
Willst immer zweifeln? Immer nur gedenken
Der Schauer, da ein liebend Auge brach,
Der Schrecken, als ein theurer Athem stockte,
Fühlst ewig nur des Todes kalte Hand?

Von Gräbern bann' hinweg den Zweifelblick!
Such' dir dein künftig' Wiedersehn, die Hoffnung,
Bei Athmenden und Lebenden! Und spricht
Die Quelle dir, der Vogel nicht vernehmbar,
Kannst du den Tag, die Sonne nicht versteh'n,
So laß die Sterne reden, schlage dir
Die Blätter des gestirnten Himmels auf,
Das große Buch mit gold'nen Riesenlettern!
Da strahlt ein Licht, das selbst die dunkle Nacht
Dem Zweifel und dem Schmerze angefacht!

Ein weihevolles Herz, sagte Ackermann gerührt, eine gewisse Mystik der Naturanschauung, die über das Räthselhafte sich doch nie zum Dunkeln und Unklaren verliert! Ich nehme meinen Tadel zurück...

Siegbert verdient nicht, sagte Selma, daß ihm Oleander seine Poesie widmete.

Wohl, fuhr Ackermann mit geschärftem Blicke auf Selma fort, ich höre dich gern so reden. Warum bezeugst du aber dem sinnigen Dichter nicht größere Theilnahme? Er ist mit ganzer Seele dein Lehrer: Seit Siegbert's Freundschaft hat er an Äußerlichkeit gewonnen: Das Übrige kann eine treue weibliche Hand noch vollenden. Warum zeigst du ihm so oft, Selma, daß dich seine Liebe verletzt?

Selma erglühte.

Es war das erste mal, daß der Vater zu ihr ein solches Wort sprach: Liebe!

Sie zitterte fast, erstarrte und legte das Blatt mit eiskalt ersterbender Hand auf die Brust.

Da sie keine Antwort auch nur zu denken, geschweige zu sprechen wußte, so sah sie den Vater mit einem bittenden Blicke an, der wohl so viel heißen konnte, als:

Vater, warum thust du mir Das und wirfst mich mit dem Wort in solche Schrecken?

Selma, sprach der Vater, ich muß diese Saite, die Gott auch auf deine Seele zur Harmonie gezogen hat, berühren; denn seit einiger Zeit fühl' ich, daß zwischen uns ein Geheimniß waltet...

Selma blickte nieder und drückte sich in die Wagenecke, um ihre innere Glut zu verbergen...

Ich will dich nicht tadeln, fuhr der Vater ihre Hand ergreifend fort, daß du bei einer Natur, wie der des Vikars, unterscheidest, was an ihm allgemein menschlich liebenswerth und was es persönlich ist. Es ist nun einmal auch Dies ein Zug des Geistes, daß wir in den Stufenfolgen unsrer Verehrung gewissenhaft unterscheiden. Oleander kann dir heilig und theuer wie ein Bruder sein und doch vermöchtest du ihn nicht so zu lieben, wie ein Mädchen liebt. Aber, Selma, wenn es auch in der Natur des Weibes begründet sein mag, Das, was am Manne liebenswerth erscheint, aus Allem eher als nur und einzig aus seiner sittlichen Gediegenheit herzuleiten, so hüte dich doch, einem gefährlichen Irrthume, von dem ich weiß oder schmerzlich ahne, daß er dich beschlichen hat, zu sehr nachzugeben –

Vater, sagte Selma vor Schmerz auffahrend.

Was verwundet dich? Daß ich von deinem Irrthum spreche?

Nein, daß du von Etwas nur redest, was ich aus deinem Munde eher hören soll, ehe ich mir selbst davon gesprochen!

Es ist meine Pflicht, Kind, deine Gefühle zu regeln. Ich verehre und liebe diese heilige Scheu des Mädchens, zum ersten male das geweihte Zauberwort der Liebe zu vernehmen oder wohl gar es auszusprechen. Allein, da du ohne Mutter, ohne dir bekannte Verwandte bist und nur deinen Vater als einzigen erprobten Freund deines Herzens kennst –

Ach, rief Selma und warf sich an die Brust des bewegten Mannes, der sie mit seinen Armen sanft an sich zog –

Mein Kind, sagte Ackermann strenger. Ich sehe, daß sich dir eine Gestalt, ein Jüngling mit unwiderstehlicher Gewalt eingeprägt hat. Der, den du zuerst hier im Grase an dem Thurme dort liegen sahst, der, der aus den Blumen aufsprang uns freundlich zu grüßen, der, der uns theilnehmend nachblickte, als wir zum Schlosse hinaufwanderten; der, den du am Morgen bei der Schmiede wiedersahst, der, der mit dir scherzte, dich vor dem bellenden Hunde schützte, mit dir über Amerika plauderte, dann uns begleitete in den kühlen Wald, wo du nicht ertragen mochtest, daß er sich an dem Eichbaum von uns trennte... Du liebst ja Egon, einen Fürsten.

Selma zuckte vor Schmerz auf. Es war ihr, als durchbohrte sie ein Messer und es thäte ihr wohl, zu sterben. Doch hauchte sie das Wort, wie zur Entschuldigung:

Nenn' es nicht Liebe!

Es ist Liebe! Du unglückliches, unsrer Verhältnisse unkundiges Kind! Er war unbekannt, in guter Absicht auf seinem väterlichen Erbe, als wir ihn damals sahen. Du fandest ein kindliches Wohlgefallen an ihm, er an dir. Später sah ich, wie der Gruß, den er vom Pferde herab dir auf dem Gelben Hirsch zuwarf, als die große Gesellschaft eben abfuhr, wie sein Gruß und Blick dich durchbohrten. Deine Hast, ihn auf dem Heidekrug wiederzusehen! Seine Krankheit in der Residenz, sein Wohlwollen, als er uns sogleich die Pachtübernahme gestattete, alles Das fesselte dich... was läßt sich gegen einen magnetischen Einfluß thun, den du selbst auf die Locke, die ich ihm im Scherze raubte, übertrugst...

Hast du ihn nicht selbst verehrt wie keinen andern fremden Menschen der Erde? sagte Selma.

Hätt' ich Das?

Wer betrachtete die Locke, dies Kleinod, dies Angedenken an den damals so Lieben, so Theuren, so Guten, zärtlicher? Wir hatten einen Wettkampf unsrer Liebe und du bist ermattet, du bist enttäuscht, du bist hoffnungsloser als ich...

Selma! Ich rede ernstlich mit dem Kinde der Fremde. Vertheidige ihn nicht gegen mich und nicht gegen dich! Es ist ein Fürst! Uns weit, weit entfremdet! Und willst du das Leben eines frivolen jungen Weltmannes entschuldigen, der mit liebenswürdigen Formen und großen Fähigkeiten des Geistes eine unläugbare Verderbtheit des Herzens verbindet? Schaudert dich nicht vor den Untiefen der Laster, in die du leider schon hast einblicken dürfen?

Selma wandte sich ab und weinte.

Wenn es wahr ist, sagte Ackermann, daß Egon eine einfache Bürgerliche, wie Melanie Schlurck, heirathen könnte, so entstand in dir vielleicht der Gedanke: Er ist nicht stolz, ohne Vorurtheile, er ist edel, er könnte auch dich lieben! Aber ich beschwöre dich, Kind, gib diese Träumereien auf! Vertheidige ihn nicht! Laß ihn hinfahren in seiner regellosen Kometenbahn! Reine Naturen würden sich nur in seiner Nähe versengen. Und wär' es ein Engel und die Tugend selbst, Selma, höre ein Wort deines Vaters, ein ernstes, du darfst ihn nicht lieben!

Selma richtete das traurige Auge fragend und erstaunt zum Vater.

Ich darf ihn nicht lieben?

Nie! Nie! wiederholte dieser. Du darfst ihn nicht lieben! Und nun genug!

Selma war von Ackermann erzogen, wie man Kinder erziehen soll. Er verlangte Gehorsam. Keine Furcht, aber Gehorsam. Und doch folgte sie nur da, wo sie überzeugt war. Ihr kluges, fragendes Aufblicken bei diesem unbedingten: Nie! Nie! des Vaters durfte diesen nicht befremden; doch wider seine Gewohnheit blieb er ihr die Gründe seines unbedingten Wortes schuldig, wiederholte es noch einmal und warf Selma in einen Zustand der Zerrissenheit, der sie um so unglücklicher machte, als sie sah, daß auch der Vater litt und in jene melancholische Stimmung verfiel, die sie sonst sogleich bemüht war, an ihm zu verscheuchen. Heute zum ersten Male stand ihr kein Scherz zu Gebote. Sie lehnte sich in die Ecke und weinte – der Vater sah auf die durchnäßten, öden, traurigen Felder – der Wagen fuhr so hin – mit diesem Winter starb Selma Alles; denn warum sollte sie nicht lieben, auch ohne Hoffnung, jemals zu besitzen?

Die Weihnachtszeit kam heran und brachte kleine Weihnachtsfreuden. Ein Tannenbaum flimmerte den Pfarrerskindern; aber die Hoffnung, der Vater käme selbst, erfüllte sich nicht. Neujahr brachte wieder Frost. Es war Winter und blieb Winter, auch in den Gemüthern. Ackermann las und schrieb viel. Selma nahm ihren Unterricht fort. Oleander dichtete, duldete, hoffte. Fränzchen erfuhr selten etwas von Louis. Heinrich Sandrart hatte zu Weihnachten nicht kommen können, da der politischen drohenden Stürme wegen keine Beurlaubungen gegeben wurden. Er schrieb öfters an Heunisch, der im Frühjahr sicher die Auflösung der immer kranken Ursula erwartete und von dem weitern Verlauf der sonderbaren Vorfälle, die in seinem Hause stattgefunden hatten, nichts mehr erfuhr. Der junge Zeck quälte sich, das Geschäft seines Vaters fortzuführen. Es gelang ihm nur mit Mühe.

In's Amthaus, nach dem Ullagrunde und Randhartingen brachte Oleander zuweilen Briefe von Siegbert und Louis mit, Briefe, die immer inhaltreich, immer anregend waren, doch auch viel Trübes und Besorgliches für die allgemeinen Zustände enthielten. Frau von Sänger tröstete sich, daß die »fliegenden Kolonnen« eher nun verstärkt wurden, als aufhören sollten. Graf Bensheim, Herr von Sengebusch erwarteten bevorstehende große Ereignisse. Herr von Zeisel beobachtete im Stillen Ackermann's großartige Zurüstungen zum erwachenden Frühjahr. Sie sahen sich selten, da seine Frau ihre Abneigung gegen Menschen, die ihren Einfluß und den Justizrath Schlurck verdrängt hatten, nicht bemeistern konnte. Und in der That lebt man im Winter nirgends abgeschlossener als auf dem Lande. Die Bewohner zweier Dörfer, die sich ganz in der Nähe liegen, berühren sich monatelang nicht. Erst der Frühling führt Alles wieder zusammen und wie nach einer langen Entfernung begrüßen sich dann die naheliegenden Nachbarn und wünschen sich gegenseitig Glück zum überstandenen Winter und freuen sich, einander wieder wohlbehalten und leidlich unverändert anzutreffen.

Die öffentlichen Verhältnisse hatten sich bis zum Unglaublichen umgeworfen. Die große Flut einer ziellosen Bewegung, die alle Dämme, alle Ufer gebrochen hatte, war zwar in ihrer verheerenden Wirkung gehemmt, aber nicht zurückgelenkt in ein felsenstarkes Bett oder einen mit Klugheit gebauten Kanal. Diese großen, trübe aufgewühlten Gewässer stauten. Ein kleiner Abzugsweg und auf's Neue mußten sie mit verheerender Gewalt fortstürzen. Fürst Egon von Hohenberg hatte, ein neuer Perseus, die Chimära der Revolution bändigen wollen. Anfangs glaubte er es durch ein vernichtendes Zauberwort zu können, durch eine ideelle Lösung des geheimnißvollen Sphinxräthsels; allein bald hatte er, wie alle übrigen Gegner der Zeit, zu Feuer und Schwert greifen müssen. Aus der Doktrin, die seine Unternehmungen anfangs höchst ehrenwerth erscheinen ließ, mußte er bald hinausrücken auf das Feld der gewöhnlichen Praxis; denn nur die Ideen, die eine Zeit lang im Volke schon herrschten, können sich unangegriffen auch von obenher behaupten. Egon brachte etwas Neues und wurde sogleich misverstanden. Die Handlanger, die ihn unterstützten, wurden für den Meister verantwortlich. Ihnen zu Liebe, um nicht isolirt zu stehen, mußte Egon den Riß seines Gebäudes ändern, nachgiebig sich zeigen nach allen Richtungen hin, in der üblichen, überlieferten Sprache reden und, von den gemeinsamen Gegnern gezwungen, Strebungen zu befreundeten machen, die ihm sonst nicht wären genehm gewesen. Die Erschöpfung der öffentlichen Meinung, die allgemeine Sehnsucht nach Ruhe und Verständigung kam seiner Stellung zu Hülfe. Leider war er verblendet genug, den ausbleibenden Widerstand für einen Sieg zu halten. Er entließ auch diese vor Weihnachten gewählte neue Kammer und gab aus der königlichen Machtvollkommenheit im Februar ein neues Wahlgesetz. Im Allgemeinen lagen diesem seine Ideen von der Anerkennung der positiven Interessen zum Grunde. Im Besondern aber hatte die Gewöhnung der Macht, die Bundesgenossenschaft mit dem Royalismus, dem Adel, der Bureaukratie ihn gezwungen, eine Menge anderweitiger Modalitäten in seine Wahlberechtigungen aufzunehmen. Hätte er die Gewalt nicht schon lieb gewonnen, er hätte vor dieser, unter der Hand ihm eskamotirten Veränderung seiner liebsten Vorsätze erschrecken und diese Region fliehen müssen, wo man mit dem Scheine des Herrschens der größte Sklave ist. Allein, es ging ihm wie Allen auf einem solchen oder ähnlichen Platze. Er nahm allmälig den Glauben an, daß er unentbehrlich, nie zu ersetzen wäre. Er fragte oft: Wer nach ihm kommen könnte? Er glaubte dem Staate eine Verlegenheit zu ersparen, indem er an einer Stelle blieb, deren Rücksichten ihn selbst gänzlich ummodelten. Erfüllte ihn zuweilen der Unmuth über das Mislingende auch zu bitter, so durft' er dem Gedanken an ein Zurückziehen schon um Derentwillen nicht nachgeben, die sich darin gefielen, mit ihm die Macht zu theilen, ihm schmeichelten und sich dafür wieder von den Andern schmeicheln ließen. Denn kleine Erhöhungen werden meist immer durch tiefe Erniedrigungen erkauft.

Fürst Egon war wie alle Staatsmänner von einer mit der Zeit immer mehr sich einwurzelnden überreizten Empfindlichkeit. Er sah viel altes Schlimmes, von dem er mit reinstem Bewußtsein sagen konnte: Du hast ihm jetzt abgeholfen! Die Erfolge, die er täglich im Kleinen erlebte, übertrug er auf das Ganze und Große und war ein Fanatiker in dem Glauben an seine Unfehlbarkeit. Die neuen Kammern waren, gegen seine ursprüngliche Absicht, nichts als Vertreter der Geld- und Vermögensinteressen geworden. Sie gehorchten ihm in allen Hauptfragen, während ihr Widerspruch in kleinen ihnen nur den Schein gab, als besäßen sie das freieste Urtheil auch für die großen und als wäre ihr Gehorsam Überzeugung. Schon redete Egon nicht mehr in seiner alten Sprache. Schon hatte er den gewöhnlichen Styl des von ihm vertretenen Staates angenommen und setzte als das erste Anfangsgesetz desselben: Es muß Alles geschehen um der Monarchie als solcher Willen! Das Volksinteresse war ein Annex des fürstlichen. Was in diese Anschauung nicht paßte, wurde entfernt, unterdrückt, verfolgt, bestraft. Selbst diejenigen gemäßigten Liberalen, die der Monarchie die aufrichtigste Nothwendigkeit einräumten, aber ihr nicht mehr überlassen wollten, als zur Stärkung eines Begriffes nothwendig war, selbst diese wurden von ihm als »Doktrinäre« abgelehnt, von jenem Tiersparti zu geschweigen, dem bürgerlich-materiellen, an dessen Spitze Justus stand. Diesem gab er die ganze Schärfe seiner Satyre zu fühlen und nannte sein innerstes Princip die Eitelkeit. »Geht in Eure Comtoirstuben und rechnet, sagte er einst in einem Artikel des »Jahrhunderts«, der von ihm inspirirt sein sollte, geht an Euren Pflug und ackert, nehmt die Elle in die Hand und messet Leinwand, was drängt Ihr Euch in die Hallen der Rathhäuser und an die Stufen des Capitols? Wahrlich, Ihr müßt den Staatszweck platt treten bis zum Gemeinen, nur damit Ihr auf ihm lustwandeln, gerade Ihr in ihm behaglich wohnen könnt!«

Am entschiedensten aber trat Fürst Egon der Demokratie, den republikanischen und sozialen »Irrlehren« entgegen. Er hatte sie an der Quelle kennen gelernt und besaß nun die vollkommenste Fertigkeit, sie auf ihre oft komischen Ursprünge zurück zu verfolgen. Er erklärte sie für die Folge zweier Veranlassungen, einmal der Trägheit und sodann des überwuchernden merkantilen Princips. Ackermann las einst mit großem, wenn auch getheiltem Interesse die Worte, die er in der Kammer sprach:

»Ein Fluch der modernen Gesellschaft ist die gewaltige Verehrung, die der Gott Merkur gefunden hat. Merkur beschützt die Handelnden und die Diebe. Ich habe alle Ehrfurcht vor der großen und respektablen Zunft der Kaufleute, ich finde aber, daß sie viel zu tolerant ist und viel zu viel Gaunerei neben sich duldet. Die Krämerei ist eine Gaunerei. Meine Herren, ich fordre Sie auf, mit mir durch die Straßen der Städte zu gehen. Sehen Sie, Haus für Haus ein Laden! Laden für Laden, träge, auf Kundschaft wartende Verkäufer, die die Sonne angaffen und träumen! Meine Herren, der kleine Zwischenhandel steht zur Consumtion in keinem Verhältnisse. Wo Alles handeln will, wird Niemand mehr arbeiten wollen, und ich fordre Sie auf, geben Sie Gesetze gegen den Kleinhandel! Er vertheuert die Lebensmittel, die der Arbeiter braucht, er schlägt das Procent der Trägheit auf das kleine Kapital der Arbeit, dem es entzogen wird; er erschafft die Phantasieen des Kommunismus, der aus Zorn über den Kleinhandel von einem Großhandel träumt, den die Gesellschaft, der Staat selbst übernehmen müsse; er erzeugt endlich eine Menge lungernder, träger Schwätzer, die man die Lazzaronis der Boutiken nennen muß«.

Solche scharfe Lichter, die Egon aus seiner Kenntniß des Volkslebens auf die Debatte fallen lassen konnte, hoben oft wochenlang seine Erscheinung auch in den Augen Derer, die sich nicht verschweigen konnten, daß Egon vom Hofe verzogen wurde und wol längst ein Ultra-Aristokrat war. Egon bestritt, daß wir im Zeitalter der nothwendigen Revolution leben und nach einer unbekannten, neuen, Alle beglückenden Weltidee steuern müßten. Er bestritt die politischen Märtyrerschaften. Er nannte sie Plagiate, unerlaubten Nachdruck der großen ruhmvollen Zeitalter. Er sagte: »Die Märtyrer in vergangenen Jahrhunderten waren bewunderungswürdig, weil sie die vergangne Geschichte nicht kannten und nur für ihre eigne Rechnung, ihre eigne Erleuchtung starben. Die neuen Märtyrer aber haben alle vom Glanz der alten gehört und bilden sich ein, eine Zeit würde kommen, die auch ihnen Anerkennung brächte. Sie ahmen die Huß und Galiläi nach, ohne mit ihnen irgend etwas gemein zu haben als die Leiden, die Jene fanden und die Diese nur tollkühn und eitel suchen«. Unter solchen Umständen konnte es nicht befremden, daß man von Verschwörungen und neuen drohenden Unruhen sprach. Egon erfreute sich einer guten Polizei und fügsamer Richter. Er verfolgte, kerkerte ein, verbannte, ganz wie jeder andre Politiker auch, der den Widerspruch unbequem findet und für jede Eingebung seines unduldsamen Zornes sogleich das Motiv des gefährdeten Gemeinwohls zur Hand hat.

Ackermann nahm, trotzdem, daß er Selma's wegen nicht mehr laut über Egon sprach, doch im Stillen an allen diesen Verwickelungen großen Antheil und verrieth selbst in der tiefen Abneigung, die er gegen Egon zu fassen schien, das fast persönliche Interesse, das er für ihn hegte. Mit dem beginnenden Frühjahr setzte er nun vollends alle inzwischen gesammelten Kräfte für Egon's äußere Wohlfahrt in Thätigkeit. Seine Pflug- und Säemaschinen erregten den Neid und das Staunen der Umgebung. Er hatte trotz der Maschinen eine große Anzahl auch von Feldarbeitern gedungen und sein Pachthof war so lebendig geworden, daß er schon wie eine kleine Kolonie auszusehen anfing.

Der Winter war streng gewesen und die Wonne des Frühlings von den Menschen endlich wohlverdient. Er kam mit dem März auf den feuchten Schwingen milder Südwestwinde. Der Schnee schmolz, die Ränder der kleinen Bäche verloren die Spuren des Eises, das sie noch vor Kurzem ganz gefesselt hielt. Die kaltdurchnäßte Erde erwärmte die Sonne und die gewaltigen Furchen, die der Pflug schnitt, öffneten die Poren der Eisrinde, daß es war, als wenn das Centralfeuer von unten herauf nachhalf und den Sonnenstrahlen die unterirdische Flammenhand bot. Dieser frische Frühlingserdgeruch! Diese Kraft des Bodens, die den Menschen selber stärkt und die Fabel vom Antäus verstehen lehrt! Im Walde brach das Eis der kleinen Seen, in deren Röhricht bald die Störche nach dem zum Leben erwachenden kleinen Gethier suchen sollten. Das ganz braun und schwarz gewordene Laub vom vorigen Herbst vermengte sich schon mit der Erde und düngte zu neuem kräftigeren Wuchse. Das Gras wucherte, Schlüsselblumen, Schaafgarbe, Distelkraut erfreuten das Auge des nach jedem Fortschritt der Vegetation sehnsüchtig lugenden Wanderers. Von Tag zu Tag nahm ein gewisses Lüstre der Buchen- und Eichenwaldung zu und wurde grüner und immer grüner. Die Weiden, die längs der Ulla standen, schlugen mit jugendlicher Triebkraft aus. Zwar köpfte man sie, der frischen Gerten wegen, die man gewinnen wollte, aber auch von diesen kam eine dankenswerthe Belebung in den erwachten Frühling. Die Bauernknaben schnitten aus der Schaale der jungen Weidenruthen Pfeifen und ein Ton weckte mehrere, die Pfeife die Stimme und die Menschenstimme die Stimmen des Feldes und Waldes. Schon jodelte ein ungeduldiger Hirtenknabe um die Wette mit der Lerche, die aus ihrem räthselhaften Winterverstecke plötzlich wie ein Wunder da war und sich mit ihrem Gesang in die reine Bläue des Himmels so stolz und froh emporwirbelte. Lange Züge von Kranichen und Schneegänsen flogen vom Süden weiter hinauf nach Norden. Glückliche Reise, ihr flüchtigen Gäste! Grüßet das Meer, grüßet die Klippen Islands, wenn ihr sie erreicht und die dänischen Jäger auf den Inseln jenseits der Eider euch passiren lassen! Zieht ihr denn Alle vorüber? Nein, die Störche bleiben bei uns und suchen sich die alten Giebel, suchen sich die alten Nester auf und klappern den Kindern von neuen Brüderchen und Schwesterchen die heimlichen Märchen zu.

Selma hatte einen gedrückten, ernsten Winter durchlebt und nur in Fränzchen's heitrer Laune einen Trost gefunden. Dies junge Kind widmete sich ihr mit zärtlichster Verehrung und fühlte sich durch den veredelnden Umgang selbst so gehoben, daß sie sich von keiner Entbehrung beengt, durch keinen langen einsamen Winterabend in ihrem Lebensgenuß verkürzt fühlte. Wie theilte sie aber auch Selma's Freude, als der Frühling kam! Selma hatte nur die Erinnerungen, wie das Alles wird und wächst in dem fernen Welttheile. Sie erstaunte nun, Alles hier so wiederzufinden, wie es auch dort ist und dennoch schien Alles anders, eigenthümlicher und ihr, wie sie sich im Stillen gestand, werthvoller. Fränzchen erklärte ihr, was sie, die Städterin, die arme Stubensitzerin, nur irgend von der Natur wußte. Selma fand aber bald, daß sie keiner Führerin durch den deutschen Frühling bedurfte. Sie verstand ihn wie einen alten Bekannten und was sie nicht benennen konnte, dafür gab die Worte der Vater, der mit dem Erwachen der Natur selbst wie neubelebt erschien und sich in seiner großartigen Ökonomie still und ruhig wie ein Gärtner bewegte. Selma sah das Entstehen einer großen Gemüse- und Blumenanlage hinter dem Wohnhause. Da sproßten Veilchen, Krokus, Schneeglöckchen. Da wuchs Schnittlauch, Kerbel, Salat. Da gackerten die Hühner, denen recht der Kamm gewachsen war und legten Eier hier und dorthin. Es war eine lustige Jagd für Selma und Franziska, immer zu suchen, wo die Hennen ein stilles Plätzchen gefunden hatten. Und dabei schmückte sich der Fliederbaum um das Wohnhaus, die Laube bezog sich mit grünen Knospenaugen, die Sträucher im Garten schienen hörbar zu wachsen... der Ullagrund so lauschig abwärts geneigt, die Ulla so munter und geschwätzig, der Wald, die Höhe, der Blick nach Plessen, das Schloß von Hohenberg, Alles so verzaubert, so belebt, so neu, – wo war der Winter geblieben? War Das nicht Alles fast wieder so, wie Selma und der Vater es im Sommer fanden und er ihr gesagt hatte, als sie am Kirchhofe die Inschrift auf dem Grabe der Fürstin Amanda gelesen hatten: Kind, wir wollen hier bleiben, wollen hier unsre Hütten bauen!

Auch der April mit seinen kleinen Launen und winterlichen Rückfällen war fast vorüber, als Ackermann eines Tages durch den Justizdirektor von Zeisel mit der Nachricht überrascht wurde, Fürst Egon wollte, um sich von den Anstrengungen des Winters zu erholen, einige Tage auf seinem väterlichen Schlosse zubringen. Mit dieser Mittheilung gerieth der sonst so ruhige, sich selbst beherrschende Mann in namenlose Aufregung. Sie wuchs, als er sah, wie die Nachricht auf Selma wirkte. Ohne auf das Thema, das im December bei der Heimkehr von Plessen zum ersten und letzten Male berührt worden war, zurückzukommen, konnte er doch nicht umhin, bei Tisch darüber zu sagen:

Ich habe die Ahnung, daß diese Begegnung mit dem Fürsten keine gute Wendung nimmt. Das freundliche Bild des Mannes, der einst mit uns nach dem Forsthause wanderte, ist verwischt. Welche Entwickelung einer gewaltsamen, eingebildeten Natur! Diese Verfolgungen, von denen die Zeitungen das Unglaublichste melden! Dieser Terrorismus! Ich kann Adlige gelten lassen, die innerhalb ihrer Vorurtheile willkürlich und anmaßend regieren, Beamte, Militairs, Hofmänner sind mir erklärlich; aber mit Geist, mit Bewußtsein, mit Theorie so die gewonnenen Resultate der Zeit mit Füßen treten und den alten feudalen Staat wieder anzubahnen – doch Ihr versteht das nicht, Kinder! Deutlicher wird es Euch sein, wenn ich Euch sage: Alle Vereine hat der Fürst aufgehoben, alle geschlossenen Gesellschaften hat er aufgelöst, die beiden braven Arbeiter, die die Maschinen hierher begleiteten, ich las es eben in der Zeitung, sind festgesetzt, Leidenfrost ist in eine Untersuchung verwickelt und neue Verhaftungen, neue Ausweisungen stehen bevor...

Franziska erschrak, da sie sich der Sphäre, in der diese Verfolgungen stattfanden, näher fühlte als Selma, die für Leidenfrost wenig Theilnahme empfinden konnte und nur die beiden guten, bescheidenen Arbeiter bedauerte. Gläubigen weiblichen Naturen sind satyrische Erscheinungen wie Leidenfrost antipathisch. Alle beklagen die beiden jungen Arbeiter...

Ich finde, fuhr Ackermann fort, daß viel von fremden Agenten gesprochen wird. Wenn wir erlebten, daß selbst Louis Armand...

Selma winkte dem Vater. Sie wußte, daß Fränzchen den freundlichen und gefälligen Freund trotz seiner spärlichen Briefe liebte. Ackermann ahnte es und schwieg nun lieber.

Zwei Tage darauf aber fand er Fränzchen weinend. Als er sie um die Ursache ihrer Thränen fragte, suchte sie auszuweichen und überließ Selma die Antwort.

Louis Armand hatte, durch Einschluß an Oleander, an Franziska deutsch geschrieben oder so schreiben lassen:

»Liebe Freundin! Ein düstres Ungewitter zieht über mich und meine Freunde zusammen. Was vorauszusehen war, Trennung unsrer Wege von denen des Fürsten, traf schon gleich nach meiner Rückkehr von Hohenberg ein. Wir sahen uns selten, zuletzt vermieden wir uns. Was aber nicht vorauszusehen war, ein offener Bruch, offene Feindschaft zwischen Menschen, die sich liebten, zu lieben vorgaben, auch Das ist eingetroffen und irgend ein gewaltsamer Zusammenstoß scheint so unvermeidlich, daß ich Ihnen schreibe und Sie bitte: Liebe Franziska, Sie kennen die innige herzliche Verehrung, die ich für Sie hege und die nur mit meinem Leben erlöschen wird. Was mir auch geschehen möge, was Sie auch von mir hören dürften, rechnen Sie auf meine treue Anhänglichkeit! Ach, ich fühle nun wohl, was mich gehindert hat, Ihnen Alles zu sagen, was in meinem Herzen für Sie schlummerte und was erst jetzt, wo ich so großen Gefahren ausgesetzt bin, ganz erwacht ist! Jetzt, an der Grenze meiner Freiheit, sag' ich Ihnen, geliebte Franziska, daß ich in Ihnen so viel Güte und Reinheit der Seele gefunden habe, wie nur in meiner vergessenen, von Egon gemordeten Schwester. Ist Das nicht grausam, jetzt so zu sprechen! Jetzt, geliebte Franziska, wo ich Denen, die mich lieben, nur Kummer bereiten kann? Vergeben Sie mir! Werden Sie wirklich die Gattin des guten, Ihrer Liebe würdigen, reichen Heinrich Sandrart, dann vergessen Sie meiner. Ich gedenke Ihrer ewig und werde nie zürnen, wenn Ihr Herz seinen höhern Pflichten folgt. Ich schreibe das Alles aus meiner innersten Seele, die Feder führt Siegbert Wildungen, der Treueste, der mich nicht verlassen hat, wie Egon. Egon handelt entsetzlich an uns. Er behauptet, der Freundschaft genügt zu haben. Er behauptet, daß er in Warnungen sich erschöpft hätte. Egon droht uns! Egon droht seinen Freunden! Der Fürst ist Fürst und ich bin ein Bettler. Aber ich glaube jetzt Rechte gefunden zu haben auf den deutschen Boden. Ich fühle die Verwandtschaft mit Oleander, ja sogar mit einer Heldenseele, Jagellona von Werdeck, ich bin kein Fremdling mehr in diesen Landen. Doch, was unterhalt' ich, quäl' ich Sie mit Dingen, theure Franziska, die diesen Winter mich außer Athem und Besinnung brachten! Ich kann nur einen kurzen Gruß – vielleicht einen ewigen Abschied – senden. Die Zeit, die Stimmung, die Ruhe fehlen, um meiner minder gewandten Feder Raum zu lassen, in meiner unsichern Muttersprache dasselbe zu sagen. Die deutsche Sprache ist jetzt fast meine Muttersprache. Vergessen Sie mich, wenn es sein muß! In großer Bedrängniß Ihr Louis Armand«.

Ackermann sah mit tiefstem Antheil Franziska's Verzweiflung.

Was ist ihm geschehen? Was kann ihm drohen? rief sie.

Selma, die selbst weinte, suchte zu trösten.

Aber Heunisch, der Jäger, der eben dazu kam, störte allen Trost.

Er rief Franziska bei Seite und sagte:

Ursula Marzahn stirbt diese Nacht. Sie geht hin... aber hab' ich mich vor ihr im Leben nicht gefürchtet, im Tod ist sie mir wie ein Gespenst. Sie sagt Dinge am letzten Sonntag als die Glocken läuteten... Franziska, habe deinen alten Onkel lieb! Komm' mit auf drei Tage, bis sie zur Ruhe ist!

Ackermann bedauerte das bevorstehende Leid, mußte aber gestehen, daß der Onkel etwas Billiges verlangte. Er redete Franziska zu, zu gehen. Heunisch nahm sie sogleich und führte sie, indem er ein Bündelchen trug und ihre Thränen für Antheil an seinem Verluste hielt, jenen Fußpfad an der Sägemühle und dem schwarzen Kreuz vorüber, von dem er sagte:

Seit die Ursula fast wie vernünftig gesprochen, fürcht' ich mich vor dem Kreuz da!

Selma mußte wenig Stunden nach Franziska's Entfernung sagen:

Es ist gut, daß sie einige Tage entfernt ist!

Sie zeigte dem Vater das neueste Zeitungsblatt...

Es enthielt die Nachricht, daß ein Apostel der kommunistischen Irrlehren, der diesen Winter über, aller Warnungen ungeachtet, besonders im Kreise der Willing'schen Maschinenarbeiter für seine staatsgefährlichen Theorieen gewirkt hätte, ein Franzose, Namens Louis Armand, vermittelst Zwangspaß aus den diesseitigen Staaten entfernt worden wäre.

O bitt're Welt! rief Ackermann. O gold'ne Jugend, an die sich der Rost des Lebens setzt! Traum des Glückes, warum löst dich der Tod nicht ab, warum das Erwachen zu dem jammervollen Geständnisse: Wir Alle sind Menschen!

Und dann erläuterte er Selma den Begriff eines Zwangspasses. Entfernt? sagte er. Louis Armand! Der Freund Egon's! Verbunden mit ihm durch einen Grabeshügel! Trennt so die Welt? Wirft sie immer wieder die Hölle zwischen die Seelen? Ist Wahrheit des Geistes da, wo Lüge der Herzen? Armer, kindlicher Fremdling! Wie ehrtest du dein Volk durch ihm sonst fremde Bescheidenheit, Treue und deinen sittlichen Werth! Selma! Erkennst du jetzt, warum ich die Natur so liebe und in ihrem Leben mich ausruhe von meinem Leben?

Selma aber sah, hörte nicht. Ihr Auge stierte auf eine andre Stelle derselben Zeitung.

Vater, lies! rief sie mit fieberhafter Erregung...

Ackermann nahm und las das Blatt. Die Stelle lautete:

» Bekanntmachung.

Der wegen politischer Umtriebe verfolgte Referendar Dankmar Wildungen hat sich der ihm bevorstehenden Untersuchung durch die Flucht entzogen. Alle Sicherheitsbehörden des In- und Auslandes werden aufgefordert, zu seiner Verhaftnahme behülflich zu sein. Es folgt das Signalement.«

Es ist Siegbert's Bruder! sagte Ackermann. Die guten Geister sind von Egon gewichen.

Ackermann verfiel in tiefste Traurigkeit. Er schien unfähig, heute noch in seinem sonst so freudig ergriffenen Berufe zu wirken.

Selma ehrte seinen Schmerz. Siegbert's Gestalt trat ihr durch den ihr unbekannten, wenig besprochenen Bruder verklärter entgegen. Oleander, der zum Unterrichte kam, war selbst so erschüttert, daß er sich nicht sammeln konnte. Er ging bewegt und ließ die vor Kummer Schweigenden ohne Abschied zurück. Er hätte so gern dem reinsten Genusse des Frühlings gelebt! Liebe und Freundschaft waren seine ewigen Sterne und nun schienen sie düster umschleiert. So traurig hatten ihm die Lerchen nie gesungen.

Der Abend kommt. Die große rothe Feuerglut des Himmels erlischt. Dunkelblaue Wolken ziehen nächtlich herauf. Der Tag so linde. Am Abend weht ein kühlerer Lufthauch. Die Arbeiter feiern, ziehen heim, hier und dorthin, auf Dörfer, Gehöfte. Im Hofe wird's still. Nur fern beim alten Sandrart hört man noch ein Rollen von Tausenden von Erdäpfeln, die man aus den Wintergruben ausgräbt und aufschüttet. Man hat sich verspätet, man schüttet sie auf Breter, die sie abschüssig in den Bauernhof rollen lassen, noch spät Abends. Es wird ganz dunkel. Auch diese Arbeit ist gethan. Alles nun still. Ackermann ruht auf dem Sopha. Selma spricht zuweilen ein Wort der Theilnahme für Franziska, die bei einer Sterbenden, die sie nicht liebte, im Hause wachen müsse. Eine Uhr pickt. Alles leise, Alles still und traurig...

Da bellt ein Hund lauter als sonst, bald bellen noch mehr; zuletzt alle. Es wird lebendig draußen...

Wer kommt noch so spät?

Herr Ackermann zu Hause? sagte eine Stimme draußen.

Als die Magd antwortet, heißt es:

Braucht man auf dem Hofe hier nicht noch Arbeiter? Ich höre, man hat viel Arbeiter gesucht. Braucht Herr Ackermann noch ein paar gesunde Hände?

Welche Stimme! rief Selma...

Ackermann war schon aufgestanden. Schon die ersten Worte klangen ihm so bekannt und durch den Sinn doch so fremd...

Wer ist Das? sagte er.

Wir haben Arbeiter genug, spricht die Magd, und schicken täglich fort.

Ei, so fragt an! Bin ich darum so weit gewandert?

Selma hatte ein Gefühl, als sollte sie aufschreien. Sie faßte den Drücker der Nebenthür, als müßte sie fliehen.

Das ist der Fürst! ruft Ackermann außer sich und reißt die Thür auf, die zur Hausflur führte.

Im Dunkeln, beleuchtet von einer kleinen Küchenlampe der früheren Magd vom Heidekrug, stand in einer Blouse mit grauweißem Hute ein junger Mann. Wie er den Hut zog, die braunen Locken ihm über die Stirn fielen, er näher trat, er grüßte, bebte das Wort auf Ackermann's Lippen:

Kommen Sie!

Die Magd, die den Fremden nicht wieder erkannte, sagte:

Das ist Herr Ackermann!

Wohl! Wohl! spricht der Ankömmling. Ich kenne Herrn Ackermann. Darf ich eintreten?

Ackermann sprachlos (denn er glaubte den Fürsten zu sehen) tritt zurück und stellt das Licht, das er ergriffen hatte, zitternd auf den Tisch.

Ein unterdrücktes Ach! wie von einer Entfliehenden im Nebenzimmer...

Wie die Thür des Corridors sich schließt, sagt der Eintretende:

Sie kennen mich nicht. Erinnern Sie sich jenes Wanderers, der im Walde bei Hohenberg letzten Sommer mit Ihnen und Ihrem Sohne Selmar sprach?

Wohl! Wohl! sagt Ackermann bebend.

Ich bin in der Lage, Sie um eine Freundlichkeit, eine Aufopferung zu ersuchen. Ich verehrte Sie immer. Seit Louis Armand von Ihnen sprach, seit mein Bruder Siegbert Wildungen Sie den bedeutendsten, den edelsten aller Menschen nennt –

Siegbert – Ihr Bruder?

Mein Bruder! Ich bin der Flüchtling Dankmar Wildungen, den eine zum jämmerlichsten Egoismus entpuppte Politik zwingt, sich zu verbergen. Ich kann nicht aus dem Lande fliehen, weil mich an dies Land Vaterlandsgefühl und eine große Aufgabe bindet. Darf ich bei Ihnen bleiben? Wollen Sie mich in Ihrem neuen großartigen Verkehr im Geheimen als Arbeiter dulden, bis bessere Zeiten kommen?

Ackermann, sprachlos, ergriff sein Portefeuille, riß es auf, holte ein Papier hervor, entknitterte es, nahm die Locke und hielt sie gegen Dankmar's Haar.

Diese Locke schnitten Sie mir in einer räthselhaften Nacht vom Haupte, sagte Dankmar. Ich träumte, ich wachte. Ich sah Sie geheimnißvoll mir nahen und so lieb hatt' ich Sie, so verehrt' ich in Ihnen den höheren Genius, daß ich still die Augen geschlossen hielt und mit mir geschehen ließ, was geschah.

Allmächt'ger Gott, Sie galten damals –

Für den Prinzen Egon! Ich erwies ihm die Liebe, ihm durch Täuschung andrer leichtsinniger Menschen einen großen Dienst zu leisten. O beim Himmel! Seine Täuschung hat er länger durchgeführt, als ich!

Ackermann's Gefühle waren in diesem Augenblicke zu gewaltsam, von Jammer und von Freude zugleich zu heftig bestürmt. Dennoch überwog, aus Liebe für Selma, die Freude. Eben wollte er jubelnd rufen: Selma! Selma! Wo bist du? Da stand sein Kind schon an der Thür, weinend, lachend, an dem Rahmen der Thür sich haltend, zitternd, bewußtlos...

Selma! rief Dankmar, stürzte auf das bebende, vom Entzücken über ihren Irrthum, ihre Täuschung bewältigte Mädchen und schloß sie, kaum wissend, was er that, ungehindert durch des Vaters Nähe, nur folgend dem stürmischen Ausbruch seiner Gefühle, voll Seligkeit in seine liebenden Arme.

Ende des siebenten Buches.


 << zurück