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Die weiße Decke des Winters blieb und wuchs. Der Winter erstarrte Alles, was in der Natur noch zu leben, irgend noch zu wachen versuchte. Die wenigen zurückgebliebenen Vögel flüchteten den Wohnungen der Menschen näher, doch auch diese hatten sich strenger verschlossen und schienen ärmer an Liebe, sparsamer mindestens mit ihren freundlichen Gaben, selbstbekümmerter in sich zurückgezogen. Der Schnee lag so hoch, daß man die Dörfer aus ihren Decken kaum heraus erkennen konnte. Nur wo irgend ein warmer Hauch, aus der Küche, aus den Schornsteinen, ja, da wir auf dem Lande sind, aus dem dampfenden Dünger entstieg, öffneten sich einzelne Falten des großen weißen Gewandes und verriethen, daß unter ihm etwas Lebendiges ruhte. Bald gesellte sich zum Schnee der Frost, der ihn ballte und so kittete, daß er unter dem Fußtritt und dem Wagendrucke knisterte. Die Geleise, die in der vom Wind verwehten Schneedecke auf der Landstraße und im Walde nicht bleiben wollten, froren nun fest. So kalt es war, so kam man nun doch eher zum Vorschein, weil man feste Wege fand. Da standen denn die Bäume mit großen weißen Harnischen gepanzert, die ihnen im Schneegestöber angeweht und dann gefroren waren. Die kleinsten Zweige hätten unter der Lupe betrachtet millionenfach wunderbare Krystallisationen geboten. Wie glänzten diese zarten Kandirungen an der blutroth aufsteigenden Sonne, deren Strahlen nur Morgens, Mittags und Abends die Kraft hatten, durch den Nebel hindurchzudringen! Da wo sonst tiefe Abgründe und Klüfte waren, hatte sie das Schneegestöber ausgefüllt und trügerische Bahnen geschaffen, die nur unter dem pfeilschnellen Fluge des Wildes nicht nachließen. Man sah die Spuren des flüchtigen Wildes. Viele Jagdliebhaber, die für Wochen und Monate eine Licenz zum Schießen lösten, verfolgten sie auf Umwegen. Auch die Klingeln der Schlitten belebten die erstorbene Gegend, wie der Knall der Büchsen. Wer sich jetzt gegenseitig besuchte, durfte voraussetzen, freundlicher als sonst aufgenommen zu werden.
Noch ehe die Erde zu harten Schollen gefroren war, hatte sie zu ewiger Ruhe zwei Entseelte aufgenommen. Die Müllerin und acht Tage später den blinden Jakob Zeck. Der Schuß war dem Schmied unter dem Schlüsselbein eingedrungen. Die Sorgfalt Reinick's vermochte nichts gegen den Brand.
Zwei so rasch unter solchen Umständen sich folgende Begräbnisse regten die Umwohner genugsam auf und laut genug wurden jene Todtengerichte gehalten, die jedem Sterbenden folgen, wenn auch nicht so feierlich wie einst in Ägypten, und bei den Meisten auch nur in Gedanken. Der Vikar Oleander aber hielt sie in Worten an den offenen Gruben und achtete des Schnees und der Kälte nicht. Hatten doch auch die Menschen noch gewußt, Blumen aufzutreiben, warum sollte er mit Worten geizen! Sein schönes Talent, den Augenblick und die Situation selbst reden zu lassen, bewährte sich auch hier und Viele sagten, daß er am Grabe des blinden Zeck fast noch rührender gesprochen als an dem der Müllerin. Hier klapperte ja die Mühle fort, es fehlte dem Gatten Niemand! Da aber stand ein Sohn, der sich, für so beschränkt er sonst galt, im Verlust seines (ihn führenden) Vaters wie ein Verzweifelnder gebehrdete und sich mit wildem Schmerze auf den Sarg warf, um ihn nicht schließen zu lassen! Da stand Heunisch, dem der plötzlich weißer gewordene Schnurrbart rings vom Athem und der Kälte vollends gereift war! Er hatte Louis nicht mehr gesprochen und von Ursula, die zum Tode geknickt schien, nur verworrene Aufklärungen erhalten. Da stand Franziska Heunisch, die mit Selma eben ein trauliches Stillleben beginnen wollte, als sie dieser Fall beinahe wieder auseinanderriß! Doch hoffte Heunisch, die Marzahn würde es noch bis zum März bringen. Auch zwang ihn die Jagd, viel Menschen zum Treiben und Transport des Wildes ohnehin immer um sich zu haben und oft kam er nun drei, vier Tage lang nicht mehr nach Hause. Da stand Herr von Zeisel, der nur bedauerte, wie unklar sich dieser ganze Vorfall anlasse und wieviel es Correspondenzen kosten würde, die Gerichte der Residenz mit den Ergebnissen der hiesigen Untersuchung in Einklang zu bringen! Da stand auch noch Siegbert Wildungen, den Louis' plötzliches Verschwinden schmerzlich genug, weil mit solchen Umständen verbunden, überraschte. Alle hörten sie Oleander's Betrachtungen mit Rührung zu. Er verschwieg nicht, daß dieser Todte wenig Freunde gehabt und Allen eher kalt, als warm erschienen sei. Er hätte die Liebe, die er nicht gesucht, auch nur bei Wenigen gefunden. So kam der junge Redner auf die Verstockung des Herzens, die hier eine Folge des leiblichen Gebrechens mochte gewesen sein und sprach mit großer Offenheit darüber, daß Die, die auch geistig taub sind, die geistig nicht sehen wollen, auch an ihrem noch besseren Theile einbüßen. Auch an Louis' Mittheilung, daß dieser Blinde seinen Tod sich selbst zuzuschreiben hätte wegen eines bösen Anfalls von Jähzorn und schlimmer Tücke, fest und unerschütterlich sich haltend, verschwieg Oleander zur Warnung kein Fehl des Dahingegangenen und goß erst zuletzt das milde Licht der himmlischen Gnade, deren wir Alle bedürften, über seinen weihevollen Vortrag. Dem Sohne, sagte er dann, zu ihm sich wendend – die Umstehenden berührten den Tauben, um ihm zu sagen, der Pfarrer spräche mit ihm – kann ich nichts sagen, da ihm das Ohr für menschliche Rede verschlossen ist! Blicke hin und höre die Sprache, die du siehst! Diese Erde – er zeigte auf die Grube – und jener Himmel – er zeigte empor – sind Eines, so wir reinen Herzens sind – er legte dabei die Hand an die Brust. Der Taube verstand ihn und weinte. Er war in den Dreißigen und jetzt hülfloser wie ein Kind.
Als man vom Kirchhof heimging, hörte Siegbert noch ausführlicher, was sich Alles im Walde zugetragen hatte. Heunisch und Zeisel erzählten, auch Pfannenstiel trat näher. Allen fiel auf, daß aus dem kleinen Schranke der ganze Inhalt fehlte, den Heunisch freilich selbst nie gesehen hatte. Das gewaltsame Aufschlagen mit dem Hammer schien Allen erwiesen und Niemand bezweifelte, daß der Blinde sein Schicksal verdient hatte. Einen genaueren Zusammenhang ahnte nur Ackermann wegen der von ihm aus Amerika gebrachten Summen. Was man aber von dem Engländer Murray, von Louis' Urtheil und von der Schwester denken sollte, war auch ihm räthselhaft.
Wie dem auch sei, sagte Herr von Zeisel zu Ackermann, es ehrt Herrn Oleander, daß er die gleiche Theilnahme der reichen Müllerin und dem, wenn nicht armen, doch wenig geachteten Schmied bewies. Ich denke an Stromer – setzte er mit einem Seitenblick auf die einsam wandelnde Pfarrerin, die nicht zuhörte, leise hinzu – ich denke an Stromer, dem alle diese Vorkommnisse gering und seiner nicht würdig erschienen und bei allem Geiste, den ihm Niemand absprechen wird, keine fesselnden Worte abgewannen.
Es fehlte ihm wol das Herz! sagte Ackermann.
Ich möchte auch Das nicht sagen, bemerkte Herr von Zeisel. Er schreibt doch in den Blättern mit großer Empfindung. Die Briefe an die Seinigen sind oft kurz und zerfahren, oft aber auch voll Rührung...
Vielleicht über sich selbst, bemerkte Ackermann. Nenne man Das doch nicht Herz, wenn ein Mensch leicht in Thränen zerfließen kann! Ich habe Frauen gekannt, die viel weinten und die doch nur ihre Nervenschwäche hätten für ihr Gemüth ausgeben sollen. Stromer ist voll Rührung über sich selbst. Er weint darüber, daß er weinen kann. Er bewundert sich, wenn er voll Wehmuth einen Kirchhof oder den erwachenden Frühling betrachtet. O diese eitle Selbstbespiegelung! Ich erkenne das Herz nur bei den Menschen an, die im Stande sind, aus andern Menschen herauszuempfinden und in ihnen wie in sich selbst zu leben.
Oleander, der einestheils zu zartfühlend war, um sich auf Kosten seines Vorgängers rühmen zu hören, andrerseits die Gewohnheit hatte, nach dem Ernste gern in einem scherzenden Tone sich wieder mit der naiven, ihm eigenthümlichen Auffassung zu vermitteln, bemerkte:
Ich will gleich sehen, wer unter uns Herz hat! Da seh' ich Damen in Pelzwerk und Mänteln kommen...
Meine Frau, sagte Herr von Zeisel, Frau von Sänger und Fräulein Selma Ackermann.
Ich sehe schlecht, fuhr Oleander fort, wo geht Fräulein Selma?
Rechts, sagte Herr von Zeisel.
Links, fuhr Ackermann fort, geht Siegbert Wildungen.
Ihr irrt! Rechts Frau von Sänger – bemerkte Oleander...
Nein, nein, links geht Frau von Sänger! bestätigten Alle.
Da meinte denn Oleander:
Seht! Ihr Alle habt kein Herz! Wie könnt Ihr sagen: es gehe einer rechts für Euch, da er doch links für sich geht? Nach Herrn Ackermann's richtiger Theorie vom Herzen muß man Den, der uns begegnet, auch von der Seite aus kommend darstellen, die ihm selbst die linke, ihm selbst die rechte ist!
Der Widerspruch und der Scherz, den diese Bemerkung hervorrief, wurde von den Damen abgeschnitten, die über die Kälte, über das lange Ausbleiben der Herren klagten. Frau von Zeisel warf auf Siegbert so schmollende Blicke, daß er sich wiederholt für seinen erst heute, acht Tage nach dem Diner wiederholten Besuch entschuldigte. Er erklärte, daß er sich noch nicht von dieser überraschenden Veränderung hätte erholen können: so widerspräche Alles, was er zu finden hoffte, Dem, was er wirklich fände.
Frau von Sänger führte das Wort und schilderte den Fleiß und die in Anspruch genommene Muße des jungen Malers mit einer Lebendigkeit, die Niemanden verdrießlicher war als der Justizdirektorin. Sah sie sich doch auch von Oleander, der mit Selma und Franziska allein ging, verlassen!
Oben im Amtshause widmete man Allen, die das Begräbniß des unter so eigenthümlichen Umständen dahingegangenen blinden Zeck herbeigezogen hatte, noch einen solennen Nachmittagskaffee, dann trennte sich Heunisch, der als Leidtragender vom Justizdirektor mit freundlicher Herablassung eingeladen war, von Franziska und tröstete sich mit den Zerstreuungen, die jetzt die Jagd, der Verkauf, die Ablieferung des geringen Wildprets mit sich führen würde. Selma hatte Franziska schon so liebgewonnen und an sich herangezogen, daß sie sich gern mit ihr isolirte und sonderbarerweise von allen Anwesenden Niemanden lieber den Rücken kehrte als Siegbert. Dieser fühlte diese Zurücksetzung und bemerkte auch, daß Ackermann gegen ihn befangen war. Auf einem Schlitten fuhren die Ullagrunder früher von dannen; doch wiederholte Ackermann die Einladung an Siegbert. Wenn er noch in der Gegend bliebe, würde er ihnen doch einen Besuch schenken? Der innige Händedruck, mit dem er schied, stand in Widerspruch zu seinem Benehmen. Selma aber, die in ihrem Pelzkragen, ihrem Muff und dem blauen Schleier auf dem Sammthute recht »vollkommen«, wie Frau von Zeisel sagte, oder »unternehmend«, wie es Frau von Sänger nannte, aussah, verharrte in ihrem Gleichmuthe und verwundete fast den von den Frauen etwas verwöhnten jungen Mann. Als der Schlitten fortgefahren, beklagte sich Siegbert bei Oleander.
Dieser stand an einem entlegenen Fenster und erwiderte:
Ich möchte behaupten, daß Selma selbst nicht weiß, warum sie Ihnen so sein muß, wie sie ist.
Bemerkten Sie denn auch die fast absichtliche Kälte?
Absichtliches bemerkte ich nichts, aber daß sie vor Ihnen Scheu hat, eine unbewußte, ihr selbst nicht klare, erkenn' ich wohl.
Wie ist Das möglich? Was weiß sie Schlimmes von mir? Daß sich diese beiden verheiratheten Frauen mir theilnehmend zuwenden und dabei wenig Vorsicht zeigen, ist Das meine Schuld?
Ich glaube kaum, daß Selma so urtheilt, so nur beobachtet. Sie beobachtet gar nicht und urtheilt noch weniger.
Sie sprechen ihr da die Bildung ab, die Sie doch selbst an ihr vollenden wollen?
Die Bildung? Ist Beobachtung und Urtheil allein Bildung? Bildung ist nur gesteigerte Empfänglichkeit. Selma verbindet Bildung mit Dem, was die Bildung nur zu oft verdrängt, mit dem Instinkt der Natur. Es ist ein Wesen, das ich naturwüchsig nennen möchte. Sie verstellt sich nie, wenigstens nicht mit Bewußtsein. Was sie ist, ist sie. Sie erschrickt, wo sich Andre bekämpfen. Sie liebt und haßt nicht einmal. Sie fühlt sich nur angezogen oder fühlt sich nur abgestoßen.
Wenn ich auf eine so reine Natur abstoßend wirke, muß ich mich bekümmern.
O, Das ist nicht gesagt, Wildungen! Der Vater, den Sie immer mehr schätzen würden, wenn Sie ihn recht erkennen wollten, hält auf magnetische Beziehungen im Menschen. Es ist möglich, daß grade das Gleichartige abstoßend wirkt. Wer weiß, welche Verwandtschaft grade Schuld ist, daß Sie auf Selma's Nerven einen Druck ausüben! Bin ich nicht in der gleichen Lage?
Siegbert stockte. Er gedachte des Bruders und der herzlichen Theilnahme, mit der Dankmar ihm einst von Selma Ackermann gesprochen. Wie gern hätte er sich Selma durch die Erinnerung an seinen Bruder empfohlen! Aber dafür, daß ihr Vater ihn einst auf seinen Knieen wollte geschaukelt haben, dafür, behauptete er, wäre man zu spröde gegen ihn, zöge sich zu sehr zurück und so hatte er keinen Muth, seine persönlichen Beziehungen zu erwähnen und durch die Erinnerung an den Bruder diesen Menschen näher zu treten, die ihm ohnehin viel zu streng zu urtheilen schienen, als daß er gewagt hätte, auf Dankmar's in Hohenberg gespielte Rolle zurückzukommen.
Oleander's Liebe für Selma war ersichtlich. Siegbert sagte fast scherzend:
Und Sie, Oleander? Nach Allem, was ich zu beobachten glaube, liebt Selma ihren Lehrer.
Oleander fast erschreckend, konnte nicht antworten, denn Frau von Sänger trat zwischen sie und forderte Siegbert auf, seine gelehrten Gespräche für ein ander Mal auszusetzen.
Mein guter Mann, sagte sie, treibt zur Rückfahrt. Er hat es nicht über sich gewinnen können, Ihre Rede zu hören, Herr Vikar. Er liebt die Kirchhöfe nicht, auf die er bisher nur immer seine Frauen schickte. Ich bin die dritte. Er wird auch mir Erlaubniß geben, noch vor ihm dort hinzugehen.
Welche Melancholie, gnädige Frau! bemerkte der Vikar.
Ach, dieser Winter! Diese kalte Luft! Diese öde Einsamkeit! Diese treulosen Freunde, die, wie Herr Wildungen, so einmal in dies elende Landleben hereinschneien und dann gleich täglich vom Abreisen sprechen!
Ja, lieber Oleander! sagte Siegbert. Mein Bild in Randhartingen ist fast vollendet. Am dreizehnten will ich in Schönau sein, wo die Kirche eingeweiht wird. Ich denke dann zurückzureisen...
In Schönau sehen wir uns noch, bemerkte Oleander. Ich wohne dem Feste bei...
Ist es nicht fürchterlich, mit so viel kaltem Blute vom Abreisen zu sprechen, bemerkte die junge, frische, liebenswürdige Frau, die in der That eine große Neigung für Siegbert gefaßt zu haben schien und sie unter Scherzen zu verbergen suchte. Warum nur sich, dem Vergnügen, der Residenz leben? Wir verderben Ihnen freilich die künstlerischen Anschauungen! Ihre Phantasie leidet hier, Ihr Schönheitssinn verdirbt beim Anblick...
Der schönsten Blondine, die ich kenne, bemerkte Siegbert, nur um frei zu kommen. Nein, gnädige Frau, ich leide, weil ein geliebter Bruder nicht schreibt, weil mich Verhältnisse verwickeltester Art, allgemeine und persönliche Interessen, mit Gewalt in die mir verhaßte Residenz zurücktreiben... wie gerne würd' ich...
Herr von Sänger hatte sich erhoben und stützte sich auf seinen alten Krückstock. War es einmal so weit mit ihm gekommen, so durfte nicht zu lange gezaudert und geplaudert werden.
Vorwärts! kommandirte er mit militairischem Brummbaßtone, hinter dem aber die gutmüthigste Bequemlichkeit versteckt war. Vorwärts! Madame! Monsieur! Das gibt einen Winter 1812! Ich fühl' es! Mein Rheumatismus bekommt historische Erinnerungen...
Und als man ihm seinen großen Pelz umwarf, sagte er:
In einer solchen Schur jagte Napoleon an uns vorbei, als es rückwärts ging... Adieu, Frau von Zeisel! Schöne Hebe, was muß Ihnen so wohl sein in Ihrem heißen Blute!
Mit ähnlichen derben Späßen ging er voran. Siegbert und Frau von Sänger folgten. Der Bediente trug Mäntel und Pelze.
Siegbert war nicht in dem Grade abstract, daß er für die kleinen Koketterieen einer hübschen Frau unempfindlich geblieben wäre. Aber sein Innerstes wurde nicht davon berührt. Es gibt sogar eine Art von Courtoisie im Umgang mit gefallsüchtigen Frauen, wo man in die Lage kommen kann, um nicht zu verletzen, rücksichtsvoll zu sein. Dankmar wenigstens hatte einmal zu Siegbert gesagt: »Der Henker hole unsre Gutmüthigkeit! Hätt' ich nur all' die Zärtlichkeiten wieder heraus, die sich Einer Anstands halber mit Gewalt auferlegt, um dem holdesten Geschlechte nicht wehe zu thun! Schon die verdammte Gewissenhaftigkeit bei übereilt bewilligten Stelldicheins! Diese zarte Schonung, Besuche zu wiederholen, wo uns schon der erste Mühe machte, der erste Überwindung kostete! Wir sind zu gut, zu vornehm, Bruder! Wir zahlen immer gleich mit blanker Silbermünze, wo ein paar Kupferheller vollkommen genug wären.«
Wenn man Briefe mit ungeduldiger Sehnsucht erwartet, genießt man Das, was inzwischen das Leben noch so Angenehmes bietet, nur halb. Beziehungen zu dem Arzte Reinick, die reiche Bequemlichkeit bei Herrn Anverwandter, der Humor des alten Hauptmanns und Rentmeisters, die nur zu sehr entgegenkommende Liebenswürdigkeit seiner nicht völlig oberflächlichen jungen Gattin, alles Das unterhielt wol Siegbert, während er malte; aber daß ihm Briefe fehlten, machte nichts gut. Endlich schrieb ihm der nach Schönau zurückgekehrte Ortsvorstand Marx, daß er sich beeilen möchte, zu dem Kirchenfeste zu kommen, auch wäre Manches für ihn inzwischen angelangt...
Da nahm er denn eiligst Abschied und vorläufig für den ganzen Winter. Er ließ aus Gutmüthigkeit Frühlingsverheißungen für Frau von Sänger zurück. Sie glaubte ihnen nicht. Er erlebte wirklich, am Abend vor seiner Abreise (Oleandern hoffte er in Schönau zu finden), daß die hübsche Frau erst scherzend von ihm Abschied nehmen wollte, dann aber im Lachen weinte und zuletzt in wirklichen Thränen so zerfloß, daß er sie ängstlich an seine Brust ziehen und durch jene Zärtlichkeiten trösten mußte, über die Siegbert nicht so leichtsinnig dachte wie Dankmar, der sie Anstandszärtlichkeiten nannte. Er machte sich die Herzlichkeiten, die wirklich nur allein im Stande waren, den Schmerz der schönen Frau zu mildern, noch lange zum bittersten Vorwurfe und fand es fast gerechtfertigt, daß ein reines unentweihtes Wesen, wie Selma Ackermann, vor ihm einen tiefgewurzelten Widerwillen verrieth. Dieser Widerwille quälte ihn. Nicht, daß er seine Eitelkeit verletzte. Seit Oleander's tiefer Bemerkung spornte ihn diese Thatsache, in sein Inneres zu blicken und er zitterte fast bei dem Gedanken, in Schönau ohne Zweifel Briefe von der Fürstin Wäsämskoi zu treffen!
Er fand deren genug und die bittersten Klagen, daß er nicht schriebe. Es verstand sich von selbst, daß diese Briefe die wahre Empfindung Adelens nur zwischen den Zeilen errathen ließen und nur plauderten, nur mittheilten. Von Olga sprach sie mit Entrüstung und gab sie und ihr Schicksal für immer auf. Erfreulicher lautete, daß Rudhard mit den Kindern zurückgekehrt war und wieder in ihrem Hause die Penaten hütete, wie Otto von Dystra es genannt haben sollte. Von diesem Letzteren erzählte Adele meist Barockes und erschreckte Siegbert durch die Bemerkung, daß sie vermuthe, er würde Olga nachreisen und Helenen für den unverantwortlichen Eingriff in mütterliche Autorität ernstlich zur Rede stellen. Sie wohne noch vor'm Thore, erzählte sie, gegenüber der jetzt allgefeierten Pauline von Harder, die sich darin gefalle, den Staat, den Prinzen Egon und wer weiß wen Alles zu regieren. Genauere Angaben über die für Siegbert so hochwichtigen politischen Fragen fehlten, doch fand er im Grunde in allen Zeitungen mehr, als er zu wissen wünschen konnte. Ja in unmittelbarster Nähe sah er die Agitation der neuen Wahlen, die wiederum so auszufallen schienen wie die früheren; denn noch war der Premierminister mit seinem neuen Wahlgesetz nicht hervorgetreten...
In einem Briefe, den er dann auch glücklicherweise von seinem Bruder vorfand, war darüber ausführlicher geschrieben. So sehr ihn dieser Fund erfreute, so lag doch in dem Tone dieser kurzen Zeilen Dankmar's etwas, was er nicht verstand. Dankmar war von Angerode wieder in der Residenz, sprach von den günstigeren Aussichten des Prozesses, gab Mittheilungen über die fortschreitende Entwickelung seiner Bundesideen, hatte aber auch Wendungen wie diese gebraucht: »Mit betrübtem Herzen kam ich gestern hier an und suchte für das schmerzlich Erlebte mich dadurch zu trösten, daß ich mich mit erneuter Hoffnung in den Strudel der Thatsachen warf«. Und an einer andern Stelle: »Beeile deine Rückreise nicht! Sähen wir uns mit den noch blutenden Wunden wieder, unser Schmerz würde endlos sein! Ach, Siegbert, ich kann mir denken, was du empfandest, als du auch diesen Besitz aus unserm Lebensbuche streichen mußtest«. Endlich hieß es: »Die Trauerbotschaft schrieb ich dir deshalb durch Einschluß an Leidenfrost, weil ich dachte: Entweder du bist schon zurück, dann gibt er dir den Brief selbst, oder du bist noch in Randhartingen, dann legt er ihn an Herrn Ackermann bei, mit dem er in geschäftlicher Verbindung steht.«
Welche Trauerbotschaft! rief Siegbert außer sich und durchflog den Brief noch einmal. Ein Brief ist verloren gegangen oder liegt bei Ackermann!
Sein erstes Gefühl war an die Mutter.
Sie ist todt! sagte er. Ich Unglücklicher! Was kann dieser Brief so Jammervolles enthalten? Starb sie, während du tändeltest? Was sollst du thun?
Er durchlas wohl zehnmal den kurzen flüchtigen Brief des Bruders, dessen Ton vollkommen auf die Möglichkeit paßte, daß er ihm in dem verlornen das Erschütterndste, das Herbste mitgetheilt hatte...
Zu seinem Trost kam wenigstens Oleander mit der Botschaft nach Schönau, daß Ackermann einen Brief für ihn wirklich empfangen hatte, den Jener in der Voraussetzung, Siegbert kehre nach Randhartingen wieder zurück, deshalb nicht mitschickte, weil Siegbert, wie man wohlwollend und gütig gesagt hatte, ihn selbst im Ullagrunde abholen sollte.
Sie sehen, wie warm Ackermann für Sie empfindet, schloß Oleander. Freilich, hätt' er ahnen können, was diese Zeilen vielleicht enthalten...
Siegbert war in einer Stimmung, die ihm unmöglich machte, irgend eine der vielen freundlichen Einladungen anzunehmen. Am liebsten wär' er gleich nach der Residenz zurückgereist und doch war diese Entfernung dreimal weiter als die nach dem Ullagrunde. Er wußte nicht, was er vorziehen sollte! Der Gedanke, daß seine Mutter gestorben, stand ihm so fest, daß seine Augen nicht mehr trocken wurden. Er aß nicht, er lag zusammengekrümmt und weinte.
In der neuausgebauten Kirche, die am folgenden Morgen trotz der Kälte dicht mit Menschen überfüllt war, hingen die von ihm wiederhergestellten Bilder. Der Geistliche des Ortes predigte. Nach der Predigt sollte ein großes Festmahl sein. Von diesem schloß sich Siegbert und ihm zu Liebe auch Oleander aus. In die Kirche aber ging er mit zerknirschtem Herzen. Glücklicherweise war die Predigt trocken und löste ihn nicht so auf in Wehmuth, wie der Ton der Orgel und der Gesang der Gemeine. Seit des Vaters Tode hatte er keine Kirche mehr besucht und nun er zum ersten male wieder unter Andächtigen mit einem räthselhaften dunklen Schicksal saß, fühlte er, nur ihr Tod, sonst konnte nichts eingetroffen, nichts Anderes geschehen sein...
Da sein Zustand Niemanden entgehen konnte, so billigte man mit dem größten Bedauern, daß er gleich nach der Feierlichkeit und einem kleinen ihm von der Ortsbehörde gewidmeten Frühstück sich in den Schlitten setzte, mit dem Oleander gestern gekommen war. Auch die schnelle Entfernung des jungen Vikars, der ihn durchaus begleiten wollte, that Allen leid. Gegen Mittag, während es wieder zu schneien anfing, fuhren sie ab.
Während der durch den frischgefallenen Schnee beschwerlichen Fahrt erzählte Oleander, um Siegbert zu zerstreuen, von seiner Jugend, seinen bisherigen Lebensschicksalen. Wie er der Sohn armer Eltern im Würtembergischen wäre, die Beide nicht mehr lebten, wie er sich mühsam hätte emporarbeiten müssen und das Meiste schwerer und steiler gefunden hätte, als er anfangs dachte. Er wäre durch eine Hauslehrerstelle nach dem Norden gekommen. Auf der Universität hätte ihn anfangs auch jene Theologie am meisten angezogen, die die modische, von der Regierung beschützte war. Doch hätt' er sich ihr abwenden müssen, da ihm sein poetischer Sinn dabei verkümmerte. Diesen hätten schon früh Lehrer und Freunde gepflegt und befördert, aber er wäre dabei so glücklich gewesen, niemals Überschätzer und ebensowenig Unterschätzer zu finden. Am nachhaltigsten hätte auf ihn ein Freund gewirkt, der musikkundig war und seinen Versen Klänge unterlegte. Da hätt' er bald erkannt, was die Seele ergreife und befriedige. Ach, schloß er, wir sind in Todeserinnerungen! Auch Der ist hin! Sein ganzes Leben war Harmonie. Er verklang so in das große All', das doch wohl das irdische Nichts ist! Oft hör' ich ihn in den Lüften um mich her säuseln! Je einsamer, desto näher. Wenn ich allein bin, hör' ich den Ton seiner Geige oder er summt am Klavier eine Melodie. Und was ich dichte, das muß gleich so sein, als säng' es mir mein Wilhelm! So verkling' ich in ihm und er klingt in mir.
Siegbert konnte sich zu dem Leide, das er erwartete, nicht feierlicher vorbereiten. Seine Augen weinten; aber den Trost, der sie trocknen konnte, fühlte er schon sich nahen bei des Gefährten sanften Worten.
Der Vikar erzählte dann, wie er in der Residenz und auf dem Lande lange als Hauslehrer hätte wirken müssen, wie er zur Heimat hätte zurück wollen, dann sich aber einer Begünstigung seines verlassenen Schicksals zu erfreuen gehabt hätte, als er mit Propst Gelbsattel bekannt wurde. Er gab ihm das Zeugniß eines geistreichen, umsichtigen, anregungsfähigen, nur zu ehrgeizigen Mannes, mußte aber zu seinem Kummer gestehen, daß den Ausschlag für ihn nicht die Anerkennung seines etwaigen Verdienstes, sondern der Glaube gegeben hätte, er interessire sich für eine der Töchter des Propstes. Bekannt mit dem Sohne desselben, sagte er, kam ich in sein Haus und war auf seine Schwestern prüfend aufmerksam. Ich habe in mir den stillen Vorwurf, daß man vielleicht glaubt, wenn dies Vikariat für Guido Stromer vorüber ist, würd' ich zurückkehren und mich um die älteste Tochter des Propstes bewerben. Und wie weit bin ich davon entfernt!
Siegbert kannte diese jungen Damen von der Weinlese bei Adele Wäsämskoi und verglich sie mit Selma. Der Schmerz macht aufrichtig und lehrt uns, jede formelle Rücksicht leichter fahren zu lassen. Er konnte nicht umhin, mit kurzen Worten geringschätzig von den Gelbsattels zu sprechen und sie gegen Selma gehalten mit den Krähen zu vergleichen, die man eben auf den Feldern krächzen hörte.
Oleander winkte Siegbert, auf den Knecht Rücksicht zu nehmen, der sie fuhr. Dieser hatte sich aber seinen Mantel so dicht über die Ohren gezogen, daß Siegbert voraussetzen konnte, von ihm nicht verstanden zu werden, wenn er mit leiserer Stimme fortfuhr:
Wie würde Ihr Gemüth leiden, wenn Sie in die Lage kämen, mit solchen in Glanz und Ansprüchen auferzogenen Mädchen in Verbindung zu kommen oder wol gar ihnen verdanken zu müssen, daß Sie Beförderung erhielten! Ich kenne diese Mädchen. Sie sind wie jetzt die meisten. Entfernt von jeder Idealität und nur der raffinirtesten Geselligkeit hingegeben. Theater, Putz, Bälle sind die Gegenstände ihres Gesprächs. Welch' ein Engel dagegen Selma! Wie lieblich die jungfräuliche Erscheinung! Wie klug dies Auge und wie träumerisch zuweilen jene Blicke, die sie nicht beobachtet glaubt. Wer so zu scherzen weiß wie Selma, kann auch tief ernst sein. Sie hat eine Abneigung gegen mich und ich weiß nicht, gerade darin find' ich einen Reiz, einen Werth mehr. Ich fühle, daß ich den Glauben eines reinen, unschuldigen Mädchens nicht mehr verdiene und ich bin gewiß, jemehr ich vielleicht ihr zu gefallen suchte, desto mehr misfiel ich ihr. Und doch –
Oleander schüttelte traurig den Kopf; denn Siegbert verrieth wohl, daß Selma Oleandern nicht liebte.
Ich vermuthe fast, sagte Oleander mit Traurigkeit, daß sie irgend ein ihr theuer gewordenes Bild im Herzen trägt. Irgend ein Mann muß ihr einst begegnet sein, dem sie mit träumerischer Innigkeit nachhängt.
Siegbert horchte auf... Die Andeutungen seines Bruders hatte er nie für Ernst gehalten.
Was zweifle ich noch daran? Hat mir's denn der Vater nicht selbst bestätigt?
Wer könnte Das sein? fragte Siegbert gespannt.
Oleander fuhr fort:
Kürzlich nach dem Mahle im Plessener Amtshaus sprach der Vater in einer abendlichen Dämmerungsstunde mit mir darüber, daß ihm Selma Sorgen mache. Dem jungen, von Louis Armand in sein Haus empfohlenen Mädchen, hätte sie sich mit einer Leidenschaft angeschlossen, die ihm verrathe, daß ihr das Bedürfniß der Hingebung mit mächtiger Gewalt innewohne. Er gerieth in eine so weiche, wehmüthige Stimmung, daß ich den Muth hatte, von meiner Liebe zu sprechen. Er reichte mir die Hand und dankte für meine Aufrichtigkeit. Geben Sie die Stunden bis zum Frühjahr, sagte er, dann kehren Sie doch wohl in einen andern Lebensberuf von Ihrem Vikariat zurück! Bekämpfen Sie sich bis dahin! Ich glaube nicht, daß Sie Hoffnung haben.
Siegbert schwieg.
Selma, fuhr Oleander mit leiser Stimme, da ihm der Knecht aufmerksam zu werden schien, und wehmüthig fort, Selma hat sich, wenn ich die Andeutungen des Vaters recht verstehe, in eine Neigung verloren, die eine unglückliche ist. Sie liebt, sagte mir Ackermann, wo sie nicht lieben darf. Entsetzlich! setzte er mit fast heftiger Betonung hinzu und erhob sich in einer Aufregung, die mich verhindert hat, seither wieder auf diesen Gegenstand anders zurückzukommen, als in meinen einsamen Stunden, wo ich Selma Verse widme, die ich ihr nicht geben darf.
Siegbert empfand die tiefste Theilnahme und mußte Oleander's Hand drücken. Er fühlte, daß diese Hand sehr groß, sehr mager, sehr knöchern war. Er kam jetzt erst darauf, ihn nach dem Eindrucke zu betrachten, den er äußerlich wohl auf ein junges Mädchen machen durfte. Er hatte ihn ganz nur nach dem Geiste beurtheilt. Nun sah er wohl, daß dieser edle Mann in einer unscheinbaren Hülle wohnte. Wie lang und hager war Oleander! Wie starkknochig das Gesicht! Wie erinnerlich wurde ihm seine nachlässige Haltung, seine Kleidung sogar wie unordentlich war sie stets! Das lange Haar hing ihm schlicht unter der Mütze herab, die er tief über die klaren, durchsichtig glänzenden, fast zu offen am Tage liegenden Augen gezogen hatte. Den Hut hatte er vor sich auf den hohen, spitzen Knieen. Der Mantel war so abgetragen, als hätt' er ihn schon auf der Schule benutzt. Alle diese Betrachtungen, an die sich Erinnerungen an Leidenfrost knüpften, erfüllten ihn mit Rührung und dennoch wünschte er, irgend einen Einfluß auf Selma zu besitzen, um ihr zu sagen: Sieh, Mädchen, Das ist deine Aufgabe, diesen Edelstein zu schleifen, seinen Werth von der günstigsten Seite an die Sonne zu bringen! Laß ihn an dir auch für die äußeren Formen der Gesellschaft sich bilden! Führe ihn sanft und liebevoll, wenn es muß mit erlaubtem stachellosem Scherze, auf die Erkenntniß Dessen, was ihm mangelt! Bilde einen Menschen aus ihm, wie die Menschen eben sein sollen und laß dir's von ihm danken, daß du, seine Gottheit, sein zweiter Schöpfer wurdest!
Er dachte nicht daran, daß Dankmar mit Selma einst sich wirklich begegnen sollte und ernstlich von ihrem Bilde befangen war...
Das Schneegestöber hatte so zugenommen, daß der Schlitten erst gegen Abend sieben Uhr in Plessen eintraf. Es war eine große Aufopferung Oleander's, den neugewonnenen Freund, der inzwischen wieder in den stummen Schmerz der Erwartung eines bevorstehenden Unglücks verfallen war, noch bei solchem Wetter in den Ullagrund zu begleiten. Vor neun Uhr konnte man kaum dort, vor elf nicht zurück sein. Oleander gab indessen im Pfarrhause, wo man erstaunt war über seine frühe Rückkehr, eine Anweisung, in seinem Zimmer noch ein Bett aufzuschlagen.
Ich muß Sie bei mir haben, Wildungen, sagte er, Sie mögen nun erfahren, was der Himmel Ihnen auch bescheert...
Siegbert gestand, wenn er den Tod seiner Mutter erführe, könnte er nicht bei Ackermann's bleiben. Die Fröhlichen würden unter seinem Jammer leiden, während Oleander sich schon früh gewöhnt hätte, auch den Schmerz der Trostlosen zu dulden.
Ich glaube nicht, Wildungen, sagte Oleander, daß Sie auf etwas so Schlimmes gefaßt zu sein brauchen; allein wenn ich rathe, dann lieber mit mir zurück zu fahren, so ist es deshalb, weil der Tod einer Mutter bei Selma Ackermann einen Kummer zurückruft, den der Vater noch oft bei ihr zu beschwichtigen hat.
Die Pfarrerin war erstaunt über den Entschluß, so spät noch in den Ullagrund zu fahren. Sie lud die Männer ein, hereinzukommen, sich wenigstens zu erwärmen, zu stärken durch irgend einen Nachtimbis. Doch zogen Beide auf Zureden des Knechtes vor, jetzt im Zuge zu bleiben und bald ging das ermüdete dampfende Roß im Schnee mit seinem Glöcklein weiter.
Bald nach acht Uhr entdeckten sie Licht in dem gefährlichen Dunkel des bahnlosen verschneiten Weges. Es kam von Ackermann's Hause, wo der Vater, Selma und Fränzchen still beisammen saßen im Scheine einer kleinen Cylinderlampe. Selma häkelte eine Weihnachtsgabe für Oleander, Fränzchen strickte, der Vater las in den Zeitungen und klagte über deren Inhalt, den er mit Bitterkeit auf Egon, als den Verschulder all' dieser Verirrungen, schob.
Es ist der doktrinäre Dünkel, sagte er eben halb für sich, der ihn ergriffen hat! Es sind die Schulreminiscenzen aus Genf, mit denen schon Guizot die Franzosen so unglücklich machte! Wer sagte nur diesem jungen unreifen Manne, der einen Staat zu regieren sich erdreistet, daß er es machen müsse wie alle diese Staatsthoren, eine Lehre, ein System, eine Theorie aufzustellen! Dies unglückliche Europa! Wenn man es von der reinen blauen klaren Höhe Amerikas aus betrachtet, kommt es uns vor, wie ein Nebelball, dessen erstickenden Dunstkreis einige Lichter spärlich erhellen. Welch' ein Gewühl von Unsinn und Verbrechen! Ehe nicht Europa sein Staatsleben vereinfacht und den Begriff des Staates sozusagen ganz aufhebt, Alles, was ein persönliches Interesse am Staatskram hat, abschafft, kommt kein Friede über diesen im Verscheiden begriffenen Erdtheil.
Indem klingelte das Glöckchen des Schlittens. Das Gefährt gehörte wieder Ackermann. Man kannte schon das Glöckchen. Man kannte die Art des Knechtes, mit der Peitsche zu knallen. Die Hunde schon verriethen, daß es Martin war, der zurückkam.
Ist Oleander in Schönau geblieben? Ist er nach Randhartingen zu Wildungen?
So vermuthete man durcheinander, bis die Botschaft kam, Martin wäre es wirklich.
Oleander und Siegbert stiegen vor dem Hause aus, warfen ihre Hüllen ab und traten in das warme, trauliche Zimmer.
Das sonst so behagliche Gefühl, eine Familie des Abends spät im Winter zu überraschen, wo schöne Töchter im Hauskleide bei weiblichen Arbeiten sich einfach und gemüthlich dem Blicke darbieten, konnte diesmal in Siegbert nicht aufkommen.
Oleander erzählte sogleich, da Siegbert schwieg, was sie herbrächte, was sie bekümmerte...
Großer Gott, sagte Ackermann, hätt' ich Das ahnen können!
Damit öffnete er ein Schreibepult und gab Siegberten den Brief, den er durch Einlage von Leidenfrost empfangen hatte.
Ihre Mutter, Wildungen, wäre todt? Karoline?... Ich weiß, daß sie Karoline heißt!
Siegbert bemerkte nichts um sich her. Er riß den Brief auf, begann einige Zeilen zu lesen und ließ ihn sogleich fallen, weil ein Thränenstrom aus seinen Augen stürzte. Er sank auf einen Sessel und legte den Kopf auf die Arme, die er über den Tisch kreuzte.
Ackermann trat an's Fenster, schlug die Gardinen zurück und sah in die Schneenacht, die keine Sterne glänzen ließ.
Selma weinte. Fränzchen zog sie an sich, um sie zu trösten; doch war sie zu ergriffen. Sie schluchzte, wie Siegbert, sie verließ das Zimmer.
Oleander stand ruhig und faltete die Hände.
Ackermann wandte sich dann und sagte mit bewegter Stimme zu seinem Neffen, dem er sich noch nicht enthüllen mochte:
Muß Sie Das zu mir führen? Sammeln Sie sich, junger Freund! Sehen Sie diese Winternatur! Die Erde ist ein einziger Grabeshügel. Entbehren, Scheiden, Verlieren ist unser Loos. Nehmen Sie's wie etwas Erwartetes, Gewußtes! Es mußte so sein.
Siegbert gab ihm die Hand, ohne daß er zu ihm aufblicken konnte. Die einzigen Worte, die er sprach, waren:
Mein armer Bruder!
Ackermann fand diesen Gedanken an den Bruder wahr und natürlich.
Lieben Sie den Bruder so, sagte er, daß Sie seiner gedenken, wie er hat leiden müssen, dieses Todes Zeuge zu sein? Und dennoch ist es ein Trost, daß Ihre Mutter einen ihrer Söhne um sich hatte... als sie dem Gatten folgte...
Ackermann konnte nicht weiter sprechen. Er mußte sich wieder zum Fenster wenden.
Oleander erbot sich, um sogleich den ganzen Kelch zu schlürfen, Dankmar's Brief zu lesen.
Siegbert gab dazu die stumme Erlaubniß.
»Mein guter Siegbert«, schrieb Dankmar, »wenn ich so lange schwieg, that ich es aus brüderlicher Liebe! Ich sagte dir, daß die Mutter krank ist. Ich schilderte ihre Leiden geringer und mache mir jetzt Vorwürfe darüber. Fasse dein Herz zusammen, Siegbert: Unsre Mutter ist nicht mehr. Diese Nacht entschlief sie sanft nach heftigen Leiden, die mir das Herz zerrissen. Wie ich nach Angerode kam, fand ich sie schon auf ihrem letzten Lager. Sie hatte uns nicht betrüben, nicht in unserm Lebensgange stören wollen! Du kennst ihr starkes Herz, das wir oft anklagten, weil es nicht so weich zu schlagen schien wie das des Vaters. Ihr starker Sinn war nur die Kraft des hochherzigsten Charakters. Wie ich kam und sie auf dem Lager sah, wollt' ich dich rufen. Sie erhob sich und wollt' es nicht. Mein Siegbert, sagte sie, steht vor mir... so lehnte sie sich zurück und ich wagte nicht, ihrem befehlenden Worte zu widersprechen. O Bruder, nun brachen zehn jammervolle Tage an. Jeden begrüßt' ich mit der Hoffnung, ein Lichtstrahl würde in diese Nacht des Elends und der Leiden fallen. Vergebens, kein Wort des Arztes lautete tröstend. Ich wachte an ihrem Lager. Sie verbot es, wenn sie mich erkannte und Tag von Nacht noch unterscheiden konnte. An den Ort wollte sie getragen sein, wo der Vater starb. Da lag sie, ein Bild des Jammers! Keine Nahrung, keinen Schlaf mehr, der sie erquickte. Die Brust hob sich von ihren schweren Athemzügen, oft erhob sie sich wie eine Hülferufende, da ihr der Athem stockte. In meinen Armen erholte sie sich und sprach mit der langsamen, feierlichen Rede einer Fieberkranken: Ich sehe meines Siegbert's Augen! Du standest vor ihr, als wenn sie dich mit Händen fassen konnte. Das Fieber verwirrte ihre Begriffe – die innere Glut, von der sie unaufhörlich sprach, theilte sich ihrem Hirne mit. Ein Licht! Ein Licht! rief sie in einer Nacht und sah, als man ihr eine Kerze entgegenhielt – Nachbarinnen, Freundinnen, Ärzte unterstützten mich – so unverwandt sah sie in die Flamme, daß ich den Gedanken faßte, wenn sie genesen sollte – ich hoffte noch immer – müßte sie erblinden. Aber mit der Heftigkeit, deren sie in jüngern Jahren fähig war, rief sie: Nein! und immer blickte sie in das Licht, ganz dicht mit den Augen fast in die Flamme hinein, als kühlten sich die heißen Wimpern sogar an der Flamme, als wäre Licht für ihr Auge Thau. Oft auch rief sie: Heinrich! worunter sie ihren Bruder, den Oheim Rodewald, den Verschollenen verstand. Dann sank sie zurück und zog die Decken so über sich, daß die Füße entblößt waren. Wollte man sie bedecken, so geriethen die abwehrenden Hände in ein grauenhaftes Nervenzucken... ach, Bruder, ich habe an der Schwelle der Mysterien unsres Daseins gestanden. In deinen Armen starb der Vater, in meinen die Mutter... So hingehen! So in Schmerzen aus der zusammenbrechenden Hülle des Körpers scheiden!... Und der innere Vorwurf, der mich nagte, daß ich der Mutter den Witwensitz in dem Tempelhause mit Gewalt erhalten wollte! Sind wir denn nicht alle wie Mörder aneinander? Einer dem Andern die Schuld seiner Leiden, ja seines Todes? O diese nagenden Gedanken, als ich an dem Krankenlager saß und sie mir, die treue, aufopferungsfreudige Mutter, zuweilen sagte, als wollte sie sich entschuldigen: Dankmar, es währt so lange! Mein Körper ist so fest! Er bricht so schwer zusammen! Ach, Siegbert... nun mußt' ich niederknieen und die Hand der Guten küssen! Wie bat ich um Verzeihung für so vielen Kummer, ja für unsre Unkindlichkeit, die am weichen Vater mehr hing als an der starken, gesinnungsvollen Mutter! Auch von dem Archiv sprach sie, von dem Kreuze und unsern Hoffnungen! Mit dem Auge einer Seherin sagte sie von diesen: Ihr werdet den Segen ernten, aber hütet ihn! Dann sprach sie oft stundenlang nicht und versank in ein dumpfes Brüten. Ihr Geist schien dabei nicht zu schlummern. Sie blickte in's Jenseits voraus. So kam es mir vor, wenn sie regungslos nur stöhnte und nachher, als sie ausgerungen hatte, als sie mit dem letzten Reste ihrer Kraft sich zum Sterben fast zurechtlegte, da dacht' ich doch, sie schlummre nur. Sie schlummerte halb von dem Opium des Arztes, halb starb sie. Immer drei Athemzüge des Schlafes und dann ein fehlender des Todes, ein stockender, der ausblieb. Ich glaubte nicht, daß Das der Hingang von dieser Erde war. Ich hatte keinen Abschied genommen, ich hatte nichts mehr gehört von ihrem letzten Willen und nun sagte der Arzt, sie entschlummre! Sollt' ich sie wecken? Sollt' ich sie aus diesem sanften Entschweben wachrufen? Ich konnte nicht. Ich faltete nur die Hände und sah auf das verklärte Antlitz mit dem Glauben an eine geheimnißvolle Verbindung zwischen Hier und Dort. In der Nacht brach das Auge noch einmal auf. Es war nur die galvanische Zuckung des Stoßes zum Herzen. Es war kein Blick des Lebens und Bewußtseins mehr. Sie war hinüber.... Und nun, Bruder, wenn du diese Zeilen empfängst, ruht sie in der winterlichen Erde. Laß dich von nichts aufschrecken, was dich jetzt gebunden hält! Dieser Tod war unvermeidlich. Diese Liebe konnte uns nicht bleiben. Laß uns gefaßt auf unserm Pfade weiter schreiten und denken: Ein unsichtbarer Genius mehr, der uns beschützt! Schreibe mir, komme nicht selbst! Sei gefaßt! Ich reise nach drei Tagen zurück und will denken: Das Leben ist Pflicht! Inniger und treuer verbunden denn je dein Dankmar.«
Oleander hatte diesen Brief mit deutlicher und starker Stimme vorgetragen und hatte sich nicht von dem Weinen Siegbert's, nicht von Ackermann's abgewandtem Schmerze, von Selma nicht unterbrechen lassen, die während des Vorlesens zurückkam und den männlichen und gefühlvollen Worten des Briefschreibers noch lauschen konnte.
Man staunte, als Siegbert erklärte, er bäte, ein andres Pferd anspannen zu lassen. Er wollte noch mit Oleander nach Plessen zurück. Man erwartete, daß Beide blieben. Oleander entschuldigte sich, daß er morgen ganz in der Frühe eine Schulrevision hätte. Siegbert's Wunsch, mit ihm allein zu sein, schien natürlich...
Ackermann bestellte einen Andern seiner Leute, ein andres Pferd und entließ den innerlich aufgelösten, wie zerschmetterten Siegbert mit wiederholtem freundlichen Zuspruch und einer Umarmung, die Siegberten aufrichtete.
Selma gab ihm zitternd eine Hand, deren Kälte verrieth, wie gewaltsam ihr Blut zum Herzen strömte. Auch Fränzchen gab Siegbert die Hand und leuchtete Beiden zum Schlitten.
Als Siegbert mit Oleander allein war, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Im Ackermann'schen Hause, bei aller Liebe und Theilnahme, würde er sich gehemmt gefühlt haben...
Es war elf Uhr, als sie in Plessen ankamen und Siegbert in das einstweilen zugerichtete Bett stieg. Oleander las ihm noch einige Gedichte vor, die er über den Verlust seines Freundes, des Komponisten, den er Wilhelm genannt, vor einigen Jahren gedichtet hatte.
Ackermann aber entließ seine bewegten Mädchen mit dem Geständniß, daß ihn dieser Vorfall auf das Heftigste erschüttert hätte. Als er allein war, entschlüpften ihm diese Worte:
So viel edle, gute Menschen – so viel, so viel – und Egon! Egon!
Seine Stirn verfinsterte sich. Er nahm sein Portefeuille, schlug es auf, sah ein Papier an, in welchem eine braune Locke eingeschlagen war...
Es war die Locke, die er einst von Dankmar's Stirne schnitt...
In dem Glauben, es wäre eine Locke von Egon, betrachtete er sie, schüttelte sein Haupt, verbarg sie wieder und löschte das Licht, um sich mit den schmerzlich wiederholten Worten: Egon! Egon! trauernd und tiefgebeugt zur Ruhe zu begeben...