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Louis Armand fand den blinden Schmied schon in Bereitschaft und erfuhr, daß Heunisch mit dem jungen Zeck unterwegs wäre nach dem Ullagrunde.
Der Gedanke, Geld, wohl viel Geld erben zu dürfen, hatte dem Alten alle Sorgen aus dem Sinne geschlagen. Er sagte sogar lachend:
Die Ursula wird Augen machen, wenn sie heute Kaffeebesuch bekommt. Vielleicht denkt sie, sie sollte Euch wahrsagen.
Thut sie Das?
Nachmittags, wenn sie Kaffee trinkt, hat schon Mancher bei ihr vorgesprochen. Karten legt sie gern in der Dämmerung, nie Vormittags. Vormittags bespricht sie blos die Rose und die Drüsen.
Es ist eine Zauberin! Ich erfuhr es schon! sagte Louis.
Eine Hexe nennen sie sie; meinte der Blinde. Sie weiß viel, Das ist wahr. Alles aber auch nicht. Nicht wahr, Anneliese?
Die kleine garstige Person, bei der Louis gestern die Bestellung gemacht, begleitete sie vor die Thür.
Laßt Ihr die Schmiede so allein? Wo sind Eure Gesellen? fragte Louis.
Die Taugenichtse sind abgelohnt. Sie verstanden nichts, aßen Faullenzerbrot.
Damit lehnte Zeck die Thür der Schmiede an, schärfte Anneliesen Aufmerksamkeit ein und verbot, daß die beiden entlassenen Gesellen noch einmal in die Werkstatt kämen.
So schritt er vorwärts.
Louis mußte staunen, wie sicher Zeck ging. Die Erbschaft hatte ihn völlig in Schwung gebracht. Alle Sorge hatte ihn verlassen. Er lachte vor sich hin und schlug sich auf das Schurzfell, das er, so hinderlich es war, vorbehalten hatte. Auch in eine Ritze des Obertheils vor der Brust griff er und versicherte sich eines starken Hammers, den er zu sich gesteckt hatte. Er that wie ein Mann, der sich vor keiner Gefahr scheut, wenn er seine Waffen bei sich hat.
Es ging ein scharfer Wind, der vom Walde her das abgefallne Laub ihnen entgegentrieb. Links die kleine Buchenschonung ließen sie liegen, sie gingen gerade auf das Tannengehölz zu, wo Louis Murray schon wartend fand.
Murray stand in einem alten grauen Mantel, gebückt, fast gespenstisch.
Er winkte Louis, so zu thun, als wenn er nicht zugegen wäre.
Still gingen sie an Murray vorüber, still folgte dieser.
Den Kupferstecher, sagte Zeck, habt Ihr daheimgelassen, Herr? Nicht wahr?
Er ist nicht nöthig, sagte Louis und winkte Murray, der die Worte hörte – er ist nicht nöthig, hab' ich mir überlegt. Doch kommt er vielleicht später nach oder ging schon voraus.
Zeck mußte jetzt von der Taubheit seines Sohnes Manches erzählen und suchte überhaupt seiner innern Freude durch Gesprächigkeit einen Ausdruck zu geben. Er blieb dabei, daß der junge Baron Grimm, wie er Murray's Sohn lachend nannte, todt wäre, schien es auch nicht anders zu wissen und verließ sich gänzlich auf die Aussagen seiner Schwester, von denen er freilich seinem Begleiter gleich sagen zu müssen glaubte, daß er eben nicht auf viel Vernunft bei ihr rechnen dürfe. Sie hätte die Jahre, um schwach zu sein. Und was bei ihrer Narrheit nicht von den Jahren käme, das hätte der einsame Wald gethan.
Und wol der Doktor Lehmann; setzte Louis hinzu.
Ja, mußte Zeck bestätigen, da hat sie Bücher gelesen, die Manchem schon den Rest gaben, Wunder-, Kräuter- und Heilbücher.
Und die rechten Heilinstrumente, die Richtmesser, die Schwerter, die Räder...
St!... Zeck winkte mit der Hand und meinte, Louis möchte davon nicht reden.
Murray folgte in einiger Entfernung und hörte Alles, was Zeck, der aus Gewöhnung seines Sohnes wegen immer sehr grell sprach, durcheinanderschwatzte. Der Gedanke, wie gierig die Habsucht sich in diesem thierischen Menschen zeichne, erfüllte ihn mit Schmerz. Er mußte dabei vorsichtig folgen und immer berechnen, wann Zeck still stand. Hätte er dann nicht auch im Gehen eingehalten, so würde ihn das raschelnde Laub verrathen haben. Jedesmal, wenn er das Stillstehen nicht gut berechnet hatte und einen Schritt weiter ging, fuhr Zeck auf und sah sich um. Da Murray aber gleich still stand, war dem Verdachte, er möchte mit Louis nicht allein sein, keine Nahrung gegeben. An Louis bewunderte Murray die treue Hingebung, dies eifrige, herzliche Bemühen, ihn für die Vernachlässigung dieser Tage, von der nicht er, sondern Louis sprach, schadlos zu halten. Wenn er ihm nahe genug war, drückte er ihm die Hand zum innigsten Danke dafür.
Die sehr naheliegende Erörterung, wer die Mutter des gestorbenen Knaben gewesen, kam nicht zur Sprache. Louis schonte das Geheimniß Murray's und Zeck selbst schien den Namen der Mutter nicht zu kennen. Die Schwester wuchs Louis an Bedeutung durch die Hartnäckigkeit, mit der sie den Schmied von der Kenntniß ihn nur mittelbar berührender Dinge ausgeschlossen hatte. Auch sagte Zeck: Das ist wahr, wer's der Urschel einmal im Guten angethan hat, für den geht sie durch's Feuer! Der Satans-Marzahn war hoch hinaus und hätte sie bald um den Jungen meines Bruders sitzen lassen...
Wieso sitzen lassen? fragte Louis, blieb stehen und winkte Murray näher zu kommen.
Zeck stand still und wandte sich erstaunt, da er im Laube noch Fußtritte rascheln hörte.
Der Wind geht! sagte Louis, als er das Staunen des Schmieds bemerkte. Warum sitzen lassen? Wie alt wurde das Kind?
Es wurde, wenn ich's sagen soll, bemerkte Zeck sich umsehend und erst allmälig beruhigend, es wurde –
In dem Augenblicke mußte Murray, der sich durch den Aufenthalt am geheizten Ofen der frischen Luft entwöhnt hatte, unglücklicherweise husten.
Wer ist da? rief Zeck mit einer heftig erschrockenen Gebehrde und griff sogleich nach dem Hammer in seinem obern Schurzfell –
Ah! Sieh da! Mein Freund ist nachgekommen! rief Louis, sich sogleich fassend...
So – so – sagte der Blinde, riß die Augen auf und drehte sich wie Einer, der seinen Rücken nicht sicher glaubt.
Stoßt Euch nicht an den Bäumen! Kommt vorwärts, Meister! bedeutete Louis. Also wie alt wurde das Kind Eures Bruders, von dem ihr mir sagen müßt, warum er sich Baron Grimm nannte?
Herr Ackermann wird's wissen – meinte Zeck und ging nur zögernd vorwärts.
Herr Ackermann? sagte Louis. Ich habe von ganz andrer Seite her den Auftrag, mich nach dem Sohne Eures Bruders zu erkundigen, der sich eine Zeitlang Baron Grimm nannte; aber ich weiß nicht, wie er diesen Namen führen konnte –
Ihr wißt nicht – sagte der Blinde zweifelnd.
Ich weiß nur, daß er todt ist und seinem Sohn eine Erbschaft hinterließ... wie alt wurde das Kind?
Zeck war durch den Dritten eingeschüchtert. Er antwortete nur vor sich herbrummend und meinte zuletzt:
Wir müssen am Forsthause sein – Laßt's Euch von der Ursula selbst sagen, aber die Erbschaft kommt doch wohl – ist sie groß?
Sie standen an der Wiese, die durch den Nachtfrost ihre Frische verloren hatte und in das welke, fahle Wintergrau überging.
Wir kommen zum Kaffee, sagte Louis scherzend, um Zeck wieder mehr Muth zu machen, der Schornstein raucht. Wenn sie nur den Satz nicht verschüttet, daß wir noch unser Schicksal hören können.
Der Blinde antwortete nicht. Er war so mistrauisch geworden, daß er sich immer nach Murray umwandte und wol gar zu glauben schien, er befände sich auf einem falschen Wege, man hätte ihn irre geführt.
Warum wollte Marzahn Eure Schwester nicht heirathen? fragte Louis dringend.
Murray'n brannte es auf der Zunge zu sagen:
Hielt der Soldat vielleicht das Kind für das Kind Ursula's?
Er mußte sich gewaltsam zurückhalten, diese Vermuthung auszusprechen. Louis verstand seine Aufregung und wiederholte seine Frage. Allein Zeck antwortete nicht mehr, sondern verwies auf seine Schwester, indem er Louis nochmals darauf aufmerksam machte, daß er auf eine gesetzte, vernünftige Unterhaltung bei ihr nicht rechnen dürfe, sondern sehen müsse, wie er Alles, was er zu wissen wünsche, von ihr herausbekäme.
Vielleicht hat sie ihre gute Laune, sagte er, und wenn sie Kaffee kocht, ist sie nicht schlimm, nur manchmal grob.
Mit diesem Troste näherte man sich dem Hause, dessen Inneres durch das Gebell der Hunde lebendig wurde. An die Möglichkeit, daß Ursula Murray erkennen könnte, dachte man für den Fall nicht, daß sich dieser bescheiden zurückhielt. Murray zog die Binde fast über das ganze Gesicht und hielt sich gebückter und älter als je.
Als Louis öffnen wollte, ging die Thür nur am Schlosse auf, nicht ganz in der Angel. Sie war durch eine Kette gehemmt. Aber sie klingelte.
Alles Dies war Louis neu. Für Fränzchen hatte die Alte die Kette und die Klingel abgenommen. Entweder gönnte sie dem Mädchen geringere Sicherheit oder sie wollte in ihrer Zurückgezogenheit oben nicht an den Verkehr des Hauses erinnert werden.
Wer da? rief eine heisere Stimme von oben herab.
Zeck rüttelte am Drücker der Pforte und schlug dann mit dem Hammer dreimal an die hölzerne Füllung.
Nun, nun! hieß es oben, wo der Schmied erkannt wurde. Was soll's denn? Willst du sehen, Jakob, ob wir noch nicht im Kehrichtfaß liegen?
Sie ist vernünftig! flüsterte der Blinde.
Gott sei Dank! sagte Louis und wartete mit Spannung auf das Erscheinen der Frau, von der ihm Franziska so viel Schlimmes erzählt hatte und von der er durch Murray und Zeck zu viel wußte, um nicht dem Verdachte Raum zu geben, daß sie im Stande gewesen wäre, Franziska aus diesem Hause auch durch irgend eine Frevelthat zu entfernen.
Die Alte stand auf der Hausflur, öffnete aber die Thür nicht. Louis sah eine große hagere Gestalt zwischen der Thürspalte erscheinen mit rothumwundenen Kopfe und scharfen spitzen Gesichtszügen, dunklen habichtsartigen Augen. Der Mund hatte nur noch vorn einige Zähne, die nicht aufeinander schlossen. Der Blick war unheimlich, menschenfeindlich, schielend ohne eigentlich falsch zu sein. Ein rothgelbes ostindisches Tuch war über die Brust geschlagen, der kattunene Rock schien sauber und war heute zur Feier der Wiedereinsetzung in die alten Rechte wohl neugewaschen aus dem Schranke genommen.
Mach' auf, Urschel! sagte der Blinde. Kriegst Besuch! Hast noch Kaffee übrig?
Die Alte antwortete nicht, sondern spähte mit stechenden Augen durch die Thür.
Louis, der fast hätte annehmen sollen, daß sie ihn doch wohl schon von oben beobachtet hätte, grüßte freundlich. Murray trat auf die Seite, sodaß er noch nicht gesehen werden konnte.
Mach' auf, mach' auf! sagte der ungeduldige Blinde. Kriegst einen schönen Gruß aus Amerika, Urschel! Wieder so einen, wie im Sommer... Kling! Kling! Mach' auf!
Die Alte stierte hinaus und schien ihres Bruders tauben Sohn zu suchen. Ihr Blick war der einer Irren. Louis fühlte, wie grauenhaft es Franziska hatte sein müssen, mit einem solchen Weibe unter einem Dache allein zu sein. Er verstand den Entsetzensschrei, den Franziska vorgestern ausstoßen mußte.
Mach' auf! Alte Hexe! rief der Blinde, der jetzt vor Ungeduld und Gewinnsucht zornig wurde. Hast wol den Teufel zum Besuch bei dir? Oder was läß'st du mich und die Herren da stehen... Sollst Spaß erleben. Mach' auf!
Die Alte sah noch einen Augenblick und schüttelte den Kopf. Dann hätte sie vielleicht die Thür uneröffnet zugeschlagen, wenn nicht Zeck, diesen Fall voraussehend, sich gleich anfangs mit dem Fuße dagegengestemmt hätte.
Hol' dich der Satan! schrie er; willst du aufmachen?
Es ist möglich, flüsterte Louis, daß sie mich des Fränzchen's wegen nicht sehen mag. Oder fehlt ihr Euer Sohn?
Kennst du den Herrn? rief der Blinde. Willst du aufmachen!
Ursula kam wieder und stellte sich wieder spähend an die Thürspalte, im Vertrauen auf die Kette, die jeden Besuch, den sie nicht mochte, absperrte.
Sollst uns Karten legen, schmeichelte jetzt der Blinde, Bube und Dame... Hörst du? Urschel, mach' auf!
Louis faßte sich ein Herz und beschloß eine List zu wagen. Er setzte voraus, daß sie ihn noch nicht gesehen.
Wir kommen vom Fürsten Egon von Hohenberg, sagte er, dem dieser Wald, das Haus gehört. Dies ist ein alter Stallmeister. Wir haben zwei Pferde, die an der Huffäule leiden. Wir wissen, daß Ihr alle Krankheiten der Thiere versteht. Sagt uns ein Mittel, das gut ist gegen die Huffäule! Der Fürst wird's bezahlen.
Damit zog er die Börse und klimperte.
Die Alte lachte hämisch, kniff die Augen zusammen und sprach, den Oberleib vorstreckend, als wollte sie Louis bis in's innerste Herz sehen:
Schießt sie todt!
Dann wollte sie die Hausthür zuschlagen.
Darauf war aber der Blinde in andrer Art jetzt schon vorbereitet. Mit dem linken Fuße seines herkulischen Körpers die Thür zurückstemmend, hieb er mit dem rasch hervorgezogenen Hammer so heftig auf die strammgezogene Kette, daß diese klirrend auseinandersprang und die Thür krachend an die innere Wand flog.
Die Alte schrie wie ein getroffener Vogel und flüchtete sich. Eben sicher, keck und höhnisch wurde sie plötzlich über die Maßen furchtsam, wimmerte und drückte sich an den Ofen des Zimmers, in das sie hineinflüchtete, wie ein gutgezogener Hund, der sich vor seinem Herrn mit bösem Gewissen fürchtet.
Louis und Murray folgten entsetzt dem sie zornig verfolgenden Blinden, der nach der Gegend hin, wo er die Schwester vermuthete, drohend den Hammer schwang und ihr alle möglichen Verwünschungen und Plagen androhte für den tückischen Tag, den sie heut' einmal wieder zu haben schiene.
Wenn ich komme! lärmte er. Bin ich ein Strauchdieb? Komm' ich mit Buschkleppern? Satan du! Rühr' dich oder ich treff' dich!
Von Murray's Brust löste sich ein gepreßter Seufzer. Dicht an der Thür glitt er auf einen Sessel. Er war gewiß, daß ihn diese irrsinnige Alte nicht wieder erkennen würde. Es war seine Schwester! Dieselbe Ursula, die Abschied von ihm genommen, als er in seinen Todeskerker geführt wurde! Dieselbe Ursula, der er die Pflege eines Kindes übertrug, das ihn an seine schuldvolle Vergangenheit, wie den Verbrecher der Ring an den Pranger fesselte!
Hier komm her, herrschte der Blinde, hier mach' Mores! Hopp! Dahin! Wo bist du? Gib die Hand, Urschel!
Er langte nach ihr. Sie jammerte aber, der Schmied wolle ihr etwas zu Leide thun...
Louis warf einen traurigen Blick auf Murray, der so viel sagen sollte, als: Hier ist schwer, auf begründete Thatsachen kommen! Hier gilt es, Geduld haben.
Mach' den Herren dein Compliment! sagte der Blinde. Das ist der Herr Stallmeister, das ein Cavalier vom Fürsten. Wirst doch wissen, wie Doktor Lehmann die Huffäule kurirte? Du hast ja Doktor Lehmann's Bücher. Hol' sie! Da im Schrank liegen sie...
Die Alte faßte jetzt etwas Muth und wagte sich vor.
Wo ist der Schlüssel?
Sie schüttelte den Kopf.
Wo ist der Schlüssel?
Louis merkte, daß ihm Ursula winkte. Er trat näher. Sie flüsterte ihm in's Ohr:
Ich geb' ihm meinen Schlüssel nicht, wenn er allein kommt. Wie das Geld aus Amerika kam, kam er auch allein. Da mach' ich nicht auf. Sein Junge muß Zeuge sein.
Was sagt sie da? fragte Zeck.
Bleibt da, sagte Louis entschlossen und führte Zeck an das Fenster der schon dunkelnden kleinen Stube zurück. Bleibt ruhig! Eure Schwester wird uns Alles sagen.
Herr, fuhr Ursula fort. Er hat nichts Gutes vor, wenn er allein kommt. Er ist schon öfters allein durch den Wald geschlichen...
Kommt er denn jetzt allein, gute Frau? sagte Louis. Wir sind ja unsrer zwei mit ihm und Eure Freunde.
Aber Ihr hört's ja, er will den Schlüssel haben!
Murray merkte aus diesen Worten bald, daß Ursula noch so viel klare Gedanken hatte, um vor Jakob Zeck's Habgier sich sicher zu stellen. Er gedachte seines Geldes, das ohne Zweifel Veranlassung dieses Mistrauens war.
Louis folgte mit großer Geistesgegenwart der gleichen Betrachtung und sagte:
Das ist recht, Frau Marzahn, daß Ihr Euer Geld verschließt. Ihr müßt reich sein. Aber gabt Ihr denn die dreitausend Thaler, die Ihr einst für das Kind Eures Bruders, der in Amerika gestorben ist, empfangen habt, nicht auf Zinsen?
Ursula stierte ihn auf diese Worte mit großen Augen an.
Ach, Herr, sagte der Blinde, die dreitausend Thaler legte sie bei Marzahn's Leber an. Das Geld zehrte all der Durst weg.
Die Alte verstand diese Bemerkung, lachte und erhob sich jetzt, ihren Gästen etwas vorzusetzen.
Ihr Herren, sagte sie, wollt Ihr trinken?
Da, sagte Zeck, nun hat sie's! So ging's früher! Juchhei! Flotte Wirthschaft! Die und dreitausend Thaler! An Die hat sie's hinausgeworfen, die ihr sagten, daß sie hübsch war. Zehn haben sie heirathen wollen und Jeder zog sie nur aus, bis sie nichts hatte und ihren armen blinden Bruder hätte sie verhungern sehen können...
Wollt Ihr trinken, Jungen? fragte Ursula wieder mit schelmischer Lüsternheit.
Louis schüttelte den Kopf. Er empfand ein Grauen vor dem Gedanken, von einer solchen Frau sich etwas zum Genusse vorsetzen zu lassen.
Danke! sagte er kräftig und setzte mit Entschlossenheit den Hebel an die Erinnerung der Alten, indem er fortfuhr:
Marzahn war so durstig und doch wollt' er nicht ein Ende machen und heirathen. Warum, Frau Ursula, wollt' er denn nicht heirathen?
Aber die Antwort auf diese Frage blieb aus. Die Ideenverwirrung der Alten war so eigenthümlich, daß sie kichernd zu Louis sagte:
Bist schmuck! Hast doch auch schon ein Mädchen?
Der Blinde lachte laut auf und machte den plumpen Scherz:
Hei! So war's recht! Ja! Es ist ein Freier für Dich, Ursula! Der Dreizehnte, wenn Du willst! Herr, sie wäre im Stande, noch mit Euch Hochzeit zu machen. Faßt ihr einmal an's Kinn! Ich wette, sie hat mehr Haare am Kinn als Ihr unter der Nase!
Ich kann mir denken, fuhr Louis den Scherz nicht beachtend fort, ich kann mir denken, daß Eure Freier, Frau Ursula, gefragt haben: Wem gehört denn der kleine hübsche Junge da? Ist das Euer eigner lieber kleiner Taugenichts?
Das ist's! sagte Zeck.
Sie hörten dann, fuhr Louis fort, das ist meines Bruders Kind. Was wollt Ihr? sagtet Ihr. Es gehört dem Bruder...
Sie glaubten's aber nicht, fiel Zeck ein.
Ursula hörte nur zu, wie wenn etwas ihr Wildfremdes besprochen wurde.
Und zu sagen, von wem das Kind käme, wer die Mutter wäre, Das war durch einen Schwur verboten?
Und durch das Geld, das sie durchgebracht hat! setzte Zeck grimmig hinzu.
Da war's dann Euer Sohn –
Doktor Lehmann's Sohn! lachte Zeck.
Murray schauderte, weil ihm von Wort zu Wort das Verhältniß ganz klar wurde.
Und Marzahn war der schlimmste Eurer Freier? fuhr Louis mit einer für Murray bewunderungswürdigen Kunst der Inquisition fort. Der wollte nichts wissen von Doktor Lehmann's Sohn!
O Das wäre der Teufel, sagte Zeck. Der verspielte ihr Geld und nannte sie dann, wie man Weiber nicht nennen soll, wenn sie's auch sind –
Wegen dieses Kindes?
Nein Herr, da war's ja schon todt, als Marzahn an die Reihe kam. – Es war ein andrer – der Vierte, der Fünfte...
Wie alt wurde er denn, der kleine Wurm?
Ich denke, ein anderthalb Jahre – nicht wahr, Urschel? Du nahmst es ja in die Stadt, als ich krank lag. Mir war schlecht damals, Herr. Als ich wieder Besinnung faßte, war Paul gestorben. Urschel, Du hast ja den Todtenschein von Paul. Gib ihn mal her! Die Herren brauchen ihn. Paul soll erben. Wieviel denn, Herr?
Wol an zehntausend Thaler! sagte Louis frischweg, um aus den halben Thatsachen herauszukommen.
Zeck starrte. Seine Augen rissen sich groß auf.
Hört sie wol ein Wort von Allem, was wir sprechen? rief er zornig. Gib den Todtenschein vom Paul! Paul Zeck! Hörst Du nicht?
Ursula band sich ihr Tuch vor'm Spiegel fester und nahm dabei eine Nadel in den Mund.
Den Todtenschein vom kleinen Baron! wiederholte Zeck, ihr in's Ohr schreiend.
Ursula steckte ruhig die Nadel in das Kopftuch.
Warum lacht Ihr, Frau Marzahn? Ist der kleine Baron wirklich todt? fragte Louis.
Murray sah gespannt...
Die Schwester zeigte auf die dunkle Wiese unter dem kahlen Ebereschenbaum.
Murray mußte aufstehen, weil er in der Nähe des Fensters saß und sich gern zurückgezogen hielt.
Wo ist der kleine Baron? wiederholte Louis.
Ursula that, als suchte sie den kleinen Baron auf der Wiese und lachte dabei.
Sie ist verrückt! sagte Zeck. Im Sommer sagte sie einmal zu mir: Jakob, sagte sie, ich habe den Baron gesehen; sie meinte unsern Bruder, und zeigte auf einen Baum, der da auf der Wiese stehen muß. Da hätte sie ihn im Mondschein gesehen.
Louis und Murray fühlten, daß hier schwer, ja unmöglich eine vernünftige Auskunft zu finden war. Sie konnten daher nichts dagegen haben, daß der Blinde den Hammer nahm und an einen kleinen Schrank, der neben einer alten Uhr an der Wand hing, mit furchtbarer Gewalt einen Schlag verführte.
Ursula sprang jetzt hinzu und schrie.
Geld hat sie nicht! sagte Zeck wüthend und auf den Schrank schlagend; das gibt sie alles an die Männer. Dem Heunisch, dem Faullenzer, stopft sie's ein, seit Jahren, daß sie wie toll in seinen rothen Bart verliebt ist. Aber Papiere sind da. Den Todtenschein vom Paul muß sie haben!
Ursula schrie und rang mit dem Bruder; doch schon war der kleine Schrank aufgesprungen und Papiere, Bücher, Flaschen, Büchsen fielen wirr durch einander herunter.
Es war ein trauriger Anblick, zu sehen, wie Ursula mit dem Blinden rang, um ihn von der Zerstörung und der Durchsuchung dieser Gegenstände abzuhalten.
Murray erfaßte ein Grauen. Er erkannte einige dieser Büchsen und Gläser. Sie stammten aus seiner früheren Kupferstecherwerkstatt her und enthielten ätzende Gifte.
Rührt nichts an! schrie Zeck. Es ist Gift! Die Hexe will den Schein nicht geben! Sie will sagen, der Paul lebt noch!
Dabei wühlte die schmutzige Hand in dem Schrank und trat Alles, was ihr vorkam, mit Füßen.
Zurück! donnerte Louis jetzt und schleuderte den zum Thier entfesselten, habsüchtigen Blinden mit jugendlicher Kraft bei Seite. Zurück! Nicht einen Fetzen hier angerührt, nichts hier zerstört!
Ich faßte aber ein Buch! sagte Zeck fast zur Erde taumelnd. In dem Buche liegt der Schein. Es ist ein Doktorbuch. Ich habe den Schein ja nie selbst gesehen, aber vor zwei und zwanzig Jahren hat sie ihn mir vorgelesen...
Was ist das für ein Buch? sagte Louis, sich mit Ruhe und Fassung zu Ursula wendend und Eins nach dem Andern vornehmend.
Als die Alte das Buch sah... es war ein Gesangbuch mit goldnem Schnitt... fing sie plötzlich an zu zittern...
Was habt Ihr? fragte Louis.
Ursula stöhnte, ja schluchzte fast...
Alle starrten vor Befremden... Die Alte nahm das Halstuch ab und trocknete sich damit die Augen... Das Gesangbuch hüllte sie dann in das Tuch...
Murray hielt sich immer still und stützte den Kopf auf...
Warum weint Ihr, Ursula? fragte Louis entsetzt.
Statt der Antwort machte die Alte Töne, als ahmte sie Kirchenglocken nach.
Zeck schwieg erschrocken und wandte sich ab...
Das ist ein Gesangbuch, mit dem man Sonntags in der Frühe in die Kirche geht, sagte Louis.
Die Alte nickte und fuhr rasch fort:
Es ist gleich neun – der Pfarrer wartet schon – ha ha – da, den Strauß hatte sie in der Hand –
Louis griff nach einem verwitterten, ganz vermoderten alten Blumenstrauß, den Ursula in der Hand hielt...
Ha! schrie Ursula auf. Da! Da! Da liegt sie! Unten! Ha, ha, ha!
Wer? fragte Louis wiederholt.
Statt zu antworten, trat Ursula scheu an Louis heran und flüsterte, indem sie hinterwärts, etwa nach der Richtung der Sägemühle hinzeigte:
Da! Da!
Wovon sprecht Ihr denn, Frau? Besinnt Euch?
Sie sang wieder Glockentöne und setzte sich dabei, weil ihr schwach wurde... Zeck schwieg erstarrt.
Louis behielt das Gesangbuch und den Blumenstrauß zurück, sah aber, daß ihm Murray einen Wink gab, den Bruder zu beobachten. Dieser hatte seit dem Gesangbuch, dem Glockenton, der Erinnerung an einen Sturz vom Felsen alle Besinnung verloren. Er stand wie ein taumelnder, bewußtloser Stier, den die Axt des Fleischers vor die Stirn getroffen hat und der noch nicht völlig ohne Leben ist. Nur krampfhaft streckte er die Hand hinaus, als wollte er diese hier unvermuthet getroffenen Gegenstände, die Louis betrachtet hatte, fassen. So blieb die Hand ihm wie hängen.
Murray wagte den Gedanken, daß hier eine Schuld, eine Mitschuld an irgend einer Unthat vorläge, nicht auszusprechen. Wußte er doch nicht, worauf sich diese Andeutungen, diese Reliquien bezogen! Aber Erstaunen mußte es ihm verursachen, daß der Schmied ruhig geschehen ließ, wie Louis im Schranke weiter suchte und forschte.
Ich finde nichts, sagte Louis. Da ein Kamm von Schildpatt mit weißem Elfenbein verziert –
Bruder und Schwester erwiderten nichts.
Ein schöner Kamm! sagte Louis. Trugt Ihr den früher, liebe Frau?
Ursula schüttelte sich und meinte jetzt:
Er brennt ja.
Der Kamm brennt? Wie kann der Kamm brennen? fragte Louis.
Murray horchte hoch auf.
Fragt Den da, sagte Ursula und zeigte auf den Blinden, der in der That den Kamm so von sich weghielt, als stünde er in Flammen. Sein Athem keuchte. Er kam jetzt in Bewegung und suchte das Fenster.
Ursula kam dem zum Tod erschrocknen, über diesen Inhalt des Schrankes entsetzten Blinden zuvor, riß das Fenster auf und rief:
Ihr erstickt, Leute! Macht fort! Fort! Der Kamm brennt! Die Stube brennt! Die Gardine! Linchen brennt! Jakob! Jakob!
Weiter konnte Ursula nicht. Jakob Zeck, der wüthende Blinde, warf sich auf sie, wie man auf einen brennenden Gegenstand das erste Beste wirft, um die Flamme zu ersticken. Er warf die Alte zu Boden, trat sie. Murray hielt sich nicht länger. Er sprang auf, faßte den Blinden rückwärts und schleuderte ihn mit einer Kraft zurück, über die Louis erstaunen mußte.
Louis steckte den Kamm zu sich, dann schloß er das Fenster, ohne darauf zu achten, daß es ihm war, als hörte er in der Ferne Pferdegetrappel. Er erstaunte über Murray, der im Begriff schien, sein Incognito aufzugeben und mit dem Terzerol in der Hand dastand. Der Anblick dieser Papiere, die vielleicht über seinen Sohn Auskunft geben konnten, ergriff Murray so gewaltig, daß er den auf dem Boden wühlenden Bruder fast mit Füßen stieß und sich der Papiere, die er zusammenraffen konnte, schnell bemächtigte. Zeck, der im Ringen mit ihm bemerkte, daß es nicht Louis war, der ihn niedergeworfen, erhob sich und hielt seinen Hammer empor.
In der Linken das Gesangbuch, in der Rechten seinen Hammer, rief er, die Besinnung verlierend:
Mörder! Diebe! Ursula, laß die Hunde los!
Die Papiere heraus! donnerte Murray. Ihr seid Mörder! Ursula sprich! Wer verbrannte? Wer stürzte vom Felsen?
In dem Augenblicke nahte sich aber der wüthende Zeck mit seinem Hammer, holte aus und würde in seinem Irrthum Louis, der ihm zunächst stand, unfehlbar tödtlich getroffen haben, wenn nicht Murray ihn mit der Linken – in der Rechten hatte er das Terzerol – ergriffen hätte.
Halt' ihn! Halt ihn! schrie Ursula. Er weiß es! Nantchen's Gesangbuch! Wo ist das Gesangbuch! Linchen's Kamm! Ha, ha! Jakob, nun ist's doch all' eins! Nun holen sie uns doch! Sag's Jakob! Oder soll ich's sagen?
Murray ließ die Hand sinken. Aber nur einen Augenblick. Der Blinde hatte die Stelle gemerkt, wo die Schwester stand. Er hörte, daß sie Angaben machte, die auf geheime Verbrechen schließen ließen. Er hob den Hammer, um durch einen tückischen Seitenschlag der Schwester im Nu den Mund für ewig zu schließen. Murray blitzschnell folgte der Bewegung und schoß, ohne zu überlegen, sein Terzerol ab.
Der Schmied sank getroffen. Ursula schrie auf. Louis, der in den Papieren des Schrankes suchte, wandte sich und sah das Entsetzliche, das eben geschehen war –
Erkennst Du mich? rief Murray nun dem zurücktaumelnden und zur Erde sinkenden Blinden zu, erkennst Du mich? Die Stimme Deines Bruders spricht zu Dir! Ursula, hat die Macht des Wahnsinns Deine Sinne ganz geblendet? Der sieht nicht und erkennt mich, Du siehst und weißt nicht, wer mit Dir spricht?
Der Schmied ächzte. Ursula riß gespenstisch die Augen auf...
Erkennst Du mich, Jakob? So dröhnten die Mauern in unsrer Werkstatt, wie jetzt, als Du die Erde zum letzten Male sahst. Hörst Du mich, den Auferstandenen? Euern Bruder Friedrich?
Der Blinde antwortete nicht... er ächzte.
Ursula hielt sich am Ofen fest und erkannte den Bruder noch nicht wieder. Groß starrten ihre Augen auf ihn herab. Sie sah den Niedergesunkenen, ohne das Geschehene fassen zu können.
Rettet Euch, Murray! Ihr seid verloren! rief Louis jetzt, der gleich nach dem Schusse an's Fenster getreten war und die beiden Dragoner hatte heransprengen sehen. In der Ferne hörte er Stimmen. Die Hunde bellten und rissen wie wüthend an ihren Ketten...
Murray, was habt Ihr gethan? rief Louis.
Euch und der Schwester, der Unglücklichen, das Leben gerettet... Dieser Elende! Falschmünzer! Mörder! sagte Murray und sank entkräftet, keiner Gefahr achtend in seinen Sessel.
Was bedeuten diese Bewaffneten? Ist es auf Euch abgesehen? Ich beschwöre Euch! Flieht! Das Dunkel wird Euch schützen! rief Louis.
Statt aller Antwort erhob sich Murray noch einmal und trat dicht vor Ursula mit den Worten, die er ihr donnernd zurief:
Ursula, habt Ihr Paul ermordet?
Die Alte schüttelte den Kopf.
Ist das Kind todt? Verbrannt? Vom Felsen gestürzt?
Ein Augenblick Zeit war noch übrig; schon standen die Dragoner an der Thür draußen und lärmten. Menschen liefen quer über die Wiese herüber.
Ist Paul Zeck todt? wiederholte Murray.
Die Alte schüttelte den Kopf.
Ah! sagte Murray. So hab' ich noch Pflichten und sollte noch leben! Nein, Freund, dieser Überfall gilt mir! Man ahnt, wer ich bin. Sehen Sie, ich erkenne die beiden Häscher, die mich schon einmal verhafteten. Wohlan! Wohlan! Nach dem Tode dieses Elenden dort, zu dessen Richter mich Gott bestellte, bedarf ich einen Ort der letzten Sammlung! Leben Sie wohl, Louis, und wenn Sie aus diesen Papieren erfahren könnten –
Murray! mußte Louis mit überströmendem Gefühle rufen und sich schmerzzerrissen an des unglücklichen Mannes Brust werfen.
Murray küßte ihm die Stirn. Eine Thräne quoll aus seinem Auge.
Nur kurz war dieser Augenblick; denn schon war Murray ergriffen und die Scene verwandelte sich in eine brutale Verhaftnahme, wie sie ohne alle Rücksicht auf die obwaltenden Umstände nur stattfinden konnte. Da ein Verwundeter, dort ein Schrank erbrochen, der gesuchte zweideutige Engländer, mit einem Mordgewehr in solcher Situation gefunden... Louis hatte alle Kraft zusammenzunehmen, der Gewalt dieser ihn selbst im sonderbarsten Lichte darstellenden Scene nicht zu erliegen.
Schont diesen Mann! rief er und drängte die beiden Gesellen, die bei Zeck gearbeitet hatten, zurück. Wer seid Ihr, daß Ihr wagen dürft, hier einzudringen?
Bei Mördern und Dieben ist Jeder zur Hülfe berufen, sagte der Eine. Übrigens sind wir Diener der Gerechtigkeit...
Es waren Mullrich und Kümmerlein, die Polizeidiener. Pfannenstiel bestätigte, daß Beide mit dem Auftrage hierherkamen, diesem Manne mit der schwarzen Binde, der sich Murray nenne und für einen Engländer ausgäbe, in seinen Unternehmungen um das Schloß Hohenberg herum aufzupassen. Schlimmeres könne man wol nicht antreffen, als hier den Vorfall im Forsthause. Herr Louis Armand würde von seiner Zeugenaussage viel Umstände haben...
Sie wird sehr einfach sein, sagte Louis. Dieser edle Mann hat mir und jener Frau das Leben gerettet.
Den Hammer sah ich in des Blinden Hand, bemerkte Pfannenstiel. Das ist richtig. Die Umstände kann man nicht genau genug aufnehmen...
Indem wurde Murray zwischen die beiden Dragonerpferde genommen und gefangen fortgeführt.
Louis umarmte ihn noch einmal mit Thränen.
Die Umstehenden machten eine eigne zwischen Spott und Erstaunen gehaltene Miene, als Murray noch die Worte sprach:
Mein Freund, trauern Sie nicht! Sie kennen meine Lehre, meinen Glauben! Ich dulde gern, denn ich weiß, wofür ich dulde! Geh' es Ihnen wohl! Sie haben in ein Leben, in Verhältnisse geblickt, über die man nur zu rasch ein Kreuz schlägt und sagt: Da ist nichts zu ändern! Holen Sie sich das Bewußtsein aus ihnen, ein reiner, mit Ihrem Innersten einiger Mensch zu sein! Gottes Geist erleuchte Sie! Wirken Sie Gutes! Und wollen Sie meiner gedenken, so gedenken Sie, daß der Zweck unsrer Reise erreicht ist. Wir wissen, daß Paul lebt! Die letzten Antworten Ursula's waren erleuchtet. Dafür dank' ich Gott und Ihnen.
So schied Murray und schritt zwischen den Pferden und den Sporen der Reiter voll Demuth hin.
Mullrich und Kümmerlein, die ihre Prämie verdient hatten, folgten mit spöttischem Blicke auf Louis Armand, den nur die Beziehung zum Fürsten und Premierminister schützte.
Pfannenstiel half diesem, den bewußtlosen Blinden in eine Nebenkammer auf ein Bett bringen. Ursula saß am Ofen und schien von Allem, was sie umgab, nichts mehr zu bemerken...
Dann folgte Pfannenstiel den Übrigen und versprach, einen reitenden Boten nach Randhartingen zu schicken, um den Doktor Reinick zu holen.
Wie Louis mit dem ächzenden Blinden und Ursula allein war, befiel ihn erst eine Furcht, die er vorher nicht kannte...
Ursula ließ es ruhig geschehen, daß er die zerstreuten Papiere, das Gesangbuch, den Kamm, den Blumenstrauß zusammenraffte und zu sich steckte. Vor den Gläsern entsetzte er sich und mochte sie nicht untersuchen...
Ursula saß in der Kammer neben dem Bruder, dem nur ein kundiger Arzt helfen konnte. Sie ließ das Haupt hängen und schien selbst, hochbetagt wie sie war, ihrem Ende nahe. Sie versprach, Louis' Weisungen zu folgen, holte auch Wasser, sprach auch von Umschlägen, die sie machen wollte, that eigentlich vernünftiger als vorher und doch war es nur mechanische, fast gedankenlose Bewegung.
Da Louis Heunisch's Rückkehr nicht abwarten konnte, ging er zuletzt still, ohne daß es Ursula merkte, aus dem verhängnißvollen Hause. Mit welchen Gefühlen! Die Wahnwitzige blieb mit dem Bewußtlosen, Sterbenden allein zurück.
Es war Schnee gefallen. Ein Leichentuch deckte die Erde. Wohin Louis blickte, die weißen Schimmer des Winters...
Plessen fand er in großer Bewegung. Die Arrestation, die Verwundung des Schmieds, die Entpuppung der beiden Gesellen in der Schmiede hatte Alles in Aufregung gebracht...
Auf dem Schlosse fand Louis die Sachen des schon weiter geführten Murray mit Beschlag belegt...
Der Justizdirektor empfing Louis in dem Eckzimmer an dem noch offen stehenden Klavier und bedauerte diese Vorfälle, die zu erleben, zu beobachten, zu untersuchen, zu erörtern, ganz gegen seine Natur ging...
Herr von Zeisel mußte mit dem Aktuar Weiße ein Protokoll aufnehmen. Louis unterschrieb es und erzählte Alles, was er glaubte über Murray mittheilen zu müssen. Er verschwieg, daß Murray Zeck's und der Ursula Bruder war. Er schilderte seine Bekanntschaft mit Murray als die harmloseste, gestand zu, daß jener Alte aus Mistrauen und Lebensüberdruß ein Pistol bei sich führte und berief sich als Ursache des Streites zwischen ihm und dem blinden Schmied auf eine Familienangelegenheit, die er erst später den Gerichten glaubte mittheilen zu dürfen...
Herr von Zeisel blieb gütig und wohlwollend, fand es auch in der Ordnung, daß Louis vorzog, schon morgen in die Residenz zurückzukehren. Er selbst wußte über Murray nichts, als daß höhern Orts zwei Polizeiagenten wären aus der Residenz geschickt worden, um einen gewissen Murray, der an diesen und jenen Dingen zu erkennen wäre, zu beobachten und im Falle zweideutigen Benehmens, besonders aber im Falle einer Beziehung zu dem Schmiede Zeck und dem Försterhause, sogleich festzunehmen und in die Residenz zu senden...
Louis mußte über diesen Zusatz sehr erstaunen und ahnte, daß sich die alten gewaltigen Mächte gegen den aus Amerika zurückgekehrten verhaßten Vater des verschollenen Paul Zeck deutlich genug regten.
Er hatte eine schlaflose Nacht...
Am frühesten Morgen weckte er die alte Brigitte und Winkler, gab ihnen Trinkgelder, die nicht seiner eignen Lage, wohl aber dem Orte, den er bewohnt hatte, angemessen waren und entfernte sich, ohne Abschied von Oleander zu nehmen, mit einer schon am Abend bestellten Gelegenheit in der Stille von Hohenberg. Nur an Franziska ließ er zur Besorgung einige geschriebene liebevolle Worte zurück...
Mit banger Wehmuth über unsre Erdenschicksale, über fremdes in der Irre gehendes Hoffen und sein eignes so Viel verfehlendes Streben, zog es ihn jetzt dahin, wohin man den unglücklichen Murray geführt hatte.