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Selma's Erröthen hatte ohne Zweifel seinen Grund darin, daß sie sich des Besuchers sehr wohl von jenem Tage erinnerte, wo ihr Vater mit dem Justizrathe Schlurck so heftig aneinander gerieth und Louis mit der vom Vater so sehnlich erwarteten Botschaft eintrat, der todtkranke junge Fürst genehmige die Anträge des Amerikaners. Damals war sie Selmar, der Knabe. Heute sah sie Louis als Mädchen und so wohlbekannt ihr auch der geringe Stand dieses Besuches war, so wußte sie doch, wieviel der Fürst auf Louis hielt. Vor aller Welt war sie mit leichter Mühe in die neuen, ihr eigentlich gebührenden Kleider geschlüpft. Bei Louis ahnte sie zuerst, was sie wol fühlen würde, wenn sie einmal, wie sie doch hoffte, dem ihr so theuer gewordenen Fürsten Egon selbst begegnen sollte.
Da Louis aus Bescheidenheit, Oleander aus Gewohnheit schwieg, so mußte sich wol Selma zusammenraffen, um das Gespräch zu führen. Sie legte mit großer Geschicklichkeit vor. Louis beobachtete ihr Wesen, ihre innere und äußere Erscheinung, mit großem Gefallen. Sie war zierlich gewachsen, schlank und behend. Das kastanienbraune Haar trug sie noch kurzgeschnitten. Es war noch von der Knabentracht her nicht länger gewachsen. Die lockige Biegung, in der es auf den weißen Nacken fiel, machte einen sehr einnehmenden Eindruck. Das Kleid, das sie rasch angezogen hatte, war blau. Über den obern Theil desselben fiel ein reicher gestickter Kragen. Ein blaues geripptes Band umschloß die Taille und kreuzte sich unter einer emaillirten Schnalle. Von Fischbein und engem Geschnür war keine Spur. Man hatte in dem weiten und vollkommenen Kleide den reinen Ausdruck ihrer natürlichen Formen. Das dunkelblaue Auge, die weißen Zähne, ein schöngeschnittener Mund waren die Zierde des lieblichen Antlitzes. Besonders anmuthig machte sie ihr Lächeln. Um den Mund spielte dann eine Schalkhaftigkeit, die Jeden bestricken mußte.
O, sagte Selma, als die Suppe von einer zweiten Magd abgetragen wurde, es ist nur gut, daß ich dem Fürsten einmal durch Sie, Herr Armand, ein ernstes Wort sagen lassen darf. Ich bin ihm nicht mehr gut.
Warum, mein Fräulein?
Als er in Hohenberg war, sagte Selma, und ich mit ihm zum Forsthause durch den Wald ging, wie sprach er da so warm und theilnehmend von Amerika! Ich albernes Kind tappte recht wie die Fliege in die Milch, so süßen Zucker streute er auf Amerika! Aber was hab' ich nun erst vor kurzem lesen müssen! In der Kammer, wo sie sich im Zank und dem Allesbesserwissen üben, hat er so abscheulich über Amerika gesprochen, so abscheulich!
In der That? sagte Louis erstaunt.
Haben Sie's denn nicht in der Zeitung gelesen? sagte Selma und schob dem Vater das inzwischen hereingebrachte Rindfleisch zum Tranchiren hin und machte es ihm dazu mit Messer, Gabel und dem Wegräumen aller hindernden Gegenstände bequem; haben Sie's denn nicht in der Zeitung gelesen, wie schlimm er es nun mit uns meint?
Ich bin seit acht Tagen von der Residenz entfernt.
Ich weiß es auswendig, ob es gleich so klingt, daß ich es lieber gleich hätte vergessen sollen. »Ihr beruft Euch auf Amerika«, sagte er, »einen Staat, den ich verehre, wie ich etwa eine solide Handelsfirma verehre. Ich habe die größte Achtung vor der Geschäftskenntniß und der Zahlungsfähigkeit eines Londoner oder Hamburger Hauses, allein werd' ich das Haus Rothschild fragen, was es von dem Schienenbau der Eisenbahnen hält, zu denen es das Geld vorstreckt? Werd' ich Hope in Amsterdam fragen, ob Schelling oder Hegel der philosophischen Welt näher stehen? Lassen Sie Amerika über Alles entscheiden, was in sein Bereich gehört; aber über Europa, über dies nun einmal so und nicht anders geformte Gewächs der Geschichte, laßt Europa zu Gericht sitzen!«
Fräulein, ich bewundre Ihr Gedächtniß! sagte Oleander erstaunt. So gründlich haben Sie bis jetzt noch keine historische Thatsache behalten.
Und doch ist auch dieser Satz eine Thatsache, fiel Ackermann ein. Der Fürst hat Recht. Nur sollt' er vorsichtiger sein mit den Dingen, die er von den Kaufleuten nicht voraussetzt. Die Kaufleute sind sehr empfindlich und für einen Staatsmann scheinen mir Scherze über das Haus Rothschild gewagt.
Nein! Nein! fiel Selma ein. Den Fürsten hab' ich aus diesen kalten Worten nicht wieder erkannt. So bitter sprach er im Walde nicht! Und du, Väterchen, gesteh' es nur ein, daß du selber sagtest: Wie inconsequent! Er verspottet die Banquiers und borgt doch von ihnen!
Ackermann warf Selma einen verweisenden Blick zu.
Louis sprach offen seine Vermuthung aus, daß Ackermann wol von des Fürsten Anleihe bei dem Hause Reichmeyer gehört hätte...
Leider! sagte Ackermann. Ich hätte nicht gewünscht, daß sich der Fürst die Schwierigkeiten seiner Lage vermehrte.
Er setzte dabei offen die ganze Mislichkeit der Lage Egon's auseinander. Er erzählte, wie entmuthigend die Resultate wären, die er aus den Büchern bei dem Justizdirektor entnommen. Er hätte Verwirrung über Verwirrung angetroffen und könnte für nichts gutsagen, wenn der Fürst immer wieder auf's neue die Schuldenlast vermehrte. Sonst hätt' er geglaubt, in zehn Jahren Einnahme und Ausgabe, Soll und Haben, auszugleichen...
Ei, sagte Selma spottend, als Louis schwieg, Das seh' ich nicht ein! Der Fürst will leben wie ein Fürst. Seit er bei Hofe geliebt und verehrt wird, seit ihn die vornehmen Damen verziehen, hat er sich glänzende Livreen, neue Wagen und Pferde anschaffen müssen. Ist es denn wahr, daß er so eitel ist und auf jeden Teller sein E. mit der Krone malen läßt?
Alles Das sprach Selma mit der kindlichsten Unbefangenheit. Man sah, sie glaubte mit dem Fürsten sich etwas erlauben zu dürfen. Er hatte ihr in ihrem Glauben so nahe gestanden, sich ihr so zutraulich angeschmiegt. Warum sollte sie nicht so weit gehen, sogar zu sagen:
Hätt' ich ihn nur hier! Wie würd' ich ihn auslachen mit seinen bunten Tellern, die mir für die kleine Hedwig da zum Buchstabirenlernen am passendsten scheinen!
Oleander betrachtete die Eifernde mit Wohlgefallen, Louis nicht ohne Verlegenheit, denn er fühlte sich selbst in Egon beschämt.
Herr Oleander kam nun ein wenig mehr aus seiner Einsilbigkeit heraus.
Da wir wissen, daß dieser junge Gottesgelehrte es verschmähte, auf den Grund einer Heirath mit dem ältesten Fräulein Gelbsattel befördert zu werden und es vorzog, dies stille und wenig einträgliche Vikariat auf dem Lande zu übernehmen, so empfinden wir schon eine gewisse Hochachtung vor ihm. Louis bemerkte bald, daß der junge Gelehrte, den er seines Namens wegen noch immer nicht zu befragen wagte, die liebliche Selma in sein Herz eingeschlossen hatte. Die Art, wie der Herr Candidat Selma bei Tische kleine Aufmerksamkeiten erwies, verrieth Dies. Er konnte ihn jetzt erst recht von seinem völlig zugewandten Antlitz betrachten. Oleander war sehr groß und mager. Den Kopf trug er etwas übergebeugt. Seine Züge waren starkknochig, verriethen aber Geist. Das Haar hing schlicht und wol zu wenig gepflegt herab. Das Auge verrieth eine stille ernste Ruhe, stand aber oft wie nach innen gekehrt und schien einen abwesenden, träumenden Sinn zu verrathen. Es war geröthet wie von starkem Blutandrang oder von Nachtlektüre. Sein ganzes Wesen hatte etwas, das Louis sehr an seinen geliebten Siegbert erinnerte. Doch fehlte Oleandern dessen aufmerksamer, theilnehmender, Jedem liebevoll zugewandter Sinn. Oleander schien mehr ein Egoist des Gemüthes, eine jener unschuldigen Naturen zu sein, die wie der Vogel auf den Zweigen unbekümmert um Andre ihr Dasein hinleben. Er gestand sich, er hätte ihn wol einmal mögen predigen hören. In manchen französischen Werken erinnerte er sich, junge lebensunerfahrene Geistliche so geschildert gesehen zu haben, wie er hier wirklich einen protestantischen fand. Von den katholischen mußte er sich sagen, daß die Dichter, besonders Lamartine, diese Gattung Dorf-Vikare zu sehr verschönerten und die idyllische Natur der Schweiz oder Südfrankreichs, in denen sie leben und wirken sollten, auf ihr eigenes Wesen übertrugen. Louis Armand erinnerte sich, bei allen katholischen Geistlichen einen Trieb zur Weltlichkeit und Geselligkeit gefunden zu haben, der diesem träumerischen Oleander gänzlich zu fehlen schien.
So hatte er die Einladung, die ihm höchst dringend gestern Abend und heute früh die Gemahlin des Herrn von Zeisel an Herrn Ackermann und Fräulein Selma für morgen aufgetragen, ganz vergessen. Erst als Louis zufällig von der erneuten Nachfrage nach den Büchern der Verwaltung auf Herrn von Zeisel kam und seine Freude ausdrückte, daß doch, wie die Einladung auf morgen beweise, zwischen dem neuen Generalpächter und dem alten Verwalter keine Spannung obwalte und Ackermann und Selma gefragt hatten, welche Einladung? erst da besann sich Oleander auf den ihm gegebenen dringenden Auftrag.
Und Das konnten Sie vergessen, Freund? lachte Ackermann; eine so überraschende Einladung! Die erste, seit wir Nachbarn und freilich auch die unwillkommenen Gegner der Frau Justizdirektorin sind? Was sagst du dazu, Selma?
Ich überlege schon meine Toilette, antwortete Selma mit der größten Offenherzigkeit. Einer so strengen Richterin der Mode, wie Frau von Zeisel, wag' ich mich noch nicht auszusetzen. Es ist gewiß, wir finden dort, zu Ehren des Herrn Louis Armand, Alles zusammen, was sich nur an Honoratioren auf drei Meilen in der Runde auftreiben läßt.
Es ist gut, daß du sagst zu Ehren des Herrn Louis Armand, sonst würd' ich nicht hingehen! bemerkte der Vater.
Um's Himmelswillen, fiel Oleander ein. Thun Sie mir Das nicht an! Wie dank' ich Ihnen, Herr Armand, daß Sie mich an diesen Auftrag erinnert haben. Sie kennen Frau von Zeisel nicht. Ich versichere Sie, daß sie seit Ihrer Ankunft nicht schläft und über die Vorbereitungen zu dem morgenden Diner Alles, Alles vergißt, höchstens ihren Stammbaum nicht.
Oleander thaute, wie Louis sah, allmälig auf.
Ich habe mir in mein Taschentuch, sagte er, vor ihren Augen drei Knoten machen müssen, das Tuch in meinen Hut gelegt und nun will der Zufall, daß ich wegen des Regens die Mütze nehme und obenein ein neues Taschentuch. Wenn ich Das nun vergessen hätte! Sie hätte mich nächsten Sonntag in meiner Predigt irre gemacht durch die rollenden Augen, die sie Einem zuwerfen kann! Dank! Dank Ihnen!
Man mußte lachen. Ackermann gab sich darein, zu kommen.
Nach Tische, sagte Selma, können wir ja einmal das Schloß besuchen. Noch niemals waren wir in den Zimmern und immer versprichst Du es, Vater. Jetzt wäre die beste Gelegenheit!
Ackermann antwortete darauf nicht. Es schien ihm nicht lieb zu sein, an dies Versprechen erinnert zu werden. Um von dem Gegenstande abzukommen, gab er Louis Veranlassung, wieder von sich selbst, von seiner Heimat, seiner Jugend zu sprechen. Auch nach seiner Schwester fragte Ackermann jetzt und erzählte, was er von Egon's Beziehung zu ihr wußte, mit absichtlich hervorgehobenem Nachdruck. Louis erschrak über diese Fragen und auffallend war ihm, daß sich Ackermann mit der Erwähnung seiner Schwester nicht beruhigte, sondern auch von Helene d'Azimont und zuletzt von Melanie sprach und wie absichtlich er hervorhob, daß Egon's Charakter den Frauen gegenüber leichtsinnig wäre und von einem sittlichen Standpunkte aus keine Rechtfertigung finden könnte.
Die Wirkung dieser für Louis peinlichen Erörterungen auf Selma fiel ihm auf. Das Blut stieg dem holden Mädchen in die Wangen. Sie wurde unruhig. Sie plauderte mit dem Kinde, ohne daß sie darum aufhörte, dem Gespräche der Männer zuzuhorchen. Oleandern, den die Mittheilungen interessirten, zog sie sogleich von ihnen ab und verwickelte ihn in ein andres Gespräch. Erst als Ackermann merkte, daß seine, wie es schien, absichtliche Erörterung dieser Herzenschronik des jungen Fürsten von Selma nicht mehr beachtet wurde, brach er ab und ging auf gleichgültige Dinge über.
Seid Ihr fertig, rief jetzt Selma, fertig mit diesen Verleumdungen? Freilich der Tod Ihrer guten Louison ist keine Verleumdung. Sie wissen wohl, wo sie ruht und woran sie starb, die Gute! Aber Helene und Melanie! Das Alles mag in Wahrheit viel anders aussehen, als die Justizdirektorin es Dir neulich aufgeheftet hat! In der Zeitung steht, Helene d'Azimont ist abgereist und Melanie –
Nun, Selma? fragte Ackermann lächelnd, aber mit scharfem Blicke.
Melanie ist schön! sagte das gepeinigte Mädchen. Ich sah sie hier zu Pferde... wie eine Königin... o so schön!
Louis freute sich der Bemerkung, daß Helenen's Abreise in der Zeitung bestätigt war. Er hatte davon gehört, es nicht glauben mögen, nun schien es doch gewiß, daß Egon wenigstens von dieser Seite frei war.
Die Zeitungen brachten Ackermann jetzt auf den Wildungen'schen Prozeß, der ihn gleichfalls zu interessiren schien. Lebhafte Freude empfand er über die Mittheilung, daß Louis diese beiden Brüder Wildungen kannte. Er fragte nach der Mutter der Brüder und hörte voll Bedauern, daß sie krank sei und Dankmar nach Angerode auch deshalb gereist war, um sie aus der Pfarrwohnung, die kalt und ungesund sein sollte, in eine behaglichere überzusiedeln. Als Louis das Tempelhaus von Angerode erwähnte, sagte Ackermann fast vor sich hin mit eignem aber auffallendem Ausdruck:
Das Tempelhaus von Angerode!
Kennen Sie es? fragte Oleander.
O wohl kenn' ich es aus meiner Jugend, bestätigte Ackermann; bin ich doch selbst ein Thüringer und nicht weit von der güldenen Aue geboren! Wohl kenn' ich das stolze Gebäude von rothen aus dem Harz gebrochenen Sandsteinen! Die Fenster, immer zu zwei und zwei, dicht beisammen, verbunden durch einen Pfeiler, den ein Thier oder ein Engel oder ein Heiliger ziert. Die Fronte ist in Form eines Giebels gebaut, der immer spitzer und spitzer zugeht. Hinter dem Tempelhause die St.-Johanniskirche. Zur Seite ein altes Convikt –
Dort fand Dankmar Wildungen die Papiere, die die Ansprüche seiner Familie verbürgen, ergänzte Louis.
Ich kenne diese Ansprüche, sagte Ackermann. Die Familie Wildungen ist eine der ältesten in Thüringen. Sie stammt von einem Grafengeschlechte, deren Ahnen ihr Grab bei den Sarazenen fanden. Hugo von Wildungen war ein Mann von ernster Strenge, nicht verweichlicht durch den weltlichen Sinn, der die Auflösung der Johanniter in Thüringen, die weithin Besitzungen hatten, zu einem leichten Spiele der Reformation machte. Ich kenne die Familientradition der Wildungen. Den Jüngsten sah ich nie. Den Ältesten hab' ich oft als kleinen Buben auf meinen Knieen geschaukelt. Ist er Maler geworden, der kleine blonde Siegbert?
Louis wurde nicht müde, von den Brüdern zu berichten und bat zuletzt, ob er ihnen von Herrn Ackermann nicht eine ausführlichere Kunde bringen dürfe?
Der Name Ackermann wird im Gedächtniß dieser Kinder nicht leben, sagte Selma's Vater. Sagen Sie ihnen nichts von mir, wär' es auch nur, um zu verhindern, an die Vergangenheit zu denken. Der Rückblick auf ihre Jugend kann diesen Jünglingen nicht in die schöne violette Färbung getaucht sein, in welcher die thüringischen Berge am Horizonte sich malen. Ach, sie hatten einen Vater, den alles Misgeschick verfolgte, eine Mutter, die erst über die Brücke der Kinderliebe ganz zum Herzen des Gatten sich neigte. Um so glücklicher, wenn sie einer märchenhaften Zukunft zusteuern und sich mit entschloßner Hand ihr eignes Lebensloos zu ziehen wagen aus einer hochgestellten Urne! Sagen Sie ihnen nichts von mir!
Bewegt stand Ackermann auf. Das kleine für die ländlichen Entbehrungen sehr gewählt gewesene Mahl war vorüber. Man wandte sich in das offenstehende Zimmer Ackermann's, wo die Zurüstungen mit Tassen und Kannen schon in aller Stille von den Mägdehänden hergerichtet waren.
Ackermann bot seinen Gästen Cigarren, ohne jetzt selbst zu rauchen.
Selma, sagte er, zeige Herrn Armand, wie wir am Missouri und an der kleinen deutschen Ulla unsre Feste feiern, damals als die Mutter lebte und jetzt, wo wir von ihrem Andenken zehren...
Selma setzte sich an den Flügel und präludirte einige Takte, während der Tisch abgedeckt wurde und die kleine Hedwig, die schon lesen konnte, fragte, welche Noten sie ihr suchen sollte.
Beethoven! bat Oleander.
Fallen Ihnen da die besten Reime ein? fragte Ackermann.
Gedanken, nicht Reime, sagte Oleander. Und dann mit den Gedanken auch die Reime.
Und mit dem Beethoven, rief Selma vom andern Zimmer herein, wirkt bei Herrn Oleander auch die Digestion auf die Phantasie.
Wie? die Verdauung? sagte Ackermann. Schämen Sie sich! Sind Sie da noch ein wahrer Dichter?
O, bemerkte Oleander erröthend, leider hab' ich neulich Selma gestehen müssen, daß ich die prosaische Bemerkung gemacht habe, wie ich unmittelbar nach Tisch die größte Elastizität des Geistes habe und Bilder, Anschauungen, Gedanken plötzlich finde, die ich sogar in nächtlicher Stille vergebens suchte. Fräulein Selma hat darüber einen Spottvers gemacht. Sagen Sie ihn!
Statt aller Antwort schlug aber Selma mit gewaltiger Kraft die ersten Accorde der Sonate pathétique an und schnitt damit die weiteren Erörterungen ab. Ackermann lehnte sich ein wenig in die Sophaecke, Oleander, seinen Kaffee trinkend, folgte dem fertigen und gewandten Spiele des jungen Mädchens, das der Musik zu bedürfen schien, um sich von namenlosen Empfindungen, die sie beschlichen hatten, zu befreien.
Während noch Selma in dem Adagio begriffen war und mit großer Reinheit die ersten Läufe, perlenden Thautropfen gleich, wie aus ihren Fingern gleiten ließ, überdachte Louis Armand die Situation, in der er sich befand. Er konnte sich nicht verschweigen, daß in diesem kleinen einsamen Kreise ein Element waltete, das ihm neu und fremdartig war. Die sinnige kleine Welt des höheren Bürgerlebens, verbunden mit den freien und großartigen Anschauungen eines fremden Welttheils, verbreitete hier eine Atmosphäre, die um so wohlthuender auf ihn wirkte, als er überall im Gespräche auf die Grenze der reinsten Sittlichkeit gestoßen war. Er hatte so viel Ungewöhnliches, Abnormes seit einer Reihe von Jahren erlebt, daß ihm diese Lebenskunst, die hier nach dem Tumult einer großen Reise schon so rasch einen kleinen Tempel der Häuslichkeit aufbauen konnte, etwas Ehrwürdiges hatte und er sich nur untergeordnet und aufnehmend fühlen mußte. Es gibt auch kaum etwas Gefälligeres, als einen feingebildeten, weltklugen Vater, der sich ganz der Erziehung eines einzigen geliebten Kindes widmet, in der Tochter die hingeschiedene Mutter ehrt und für sich zuerst all' die milde Liebe und sittliche Unschuld eines solchen sich entwickelnden jungen Wesens einathmet. Wie bewegt lauschte Ackermann dem unbewußt gefühlvollen Spiele Selma's! Klar erkannte man bei Selma die Absicht, mit ihrem Spiele nur den Beweis ihres Talentes, ihrer Fortschritte, ihrer guten von der Mutter gelegten Grundlage zu geben, sie sentimentalisirte nicht mit der Musik, sie gab eine Übung, die ihrer Bildung entsprach, sie spielte Denen zu Liebe, die sie hörten und doch war ihr Spiel voll Seele und Schmelz.
Zum Gesange, zu dem sie Oleander aufforderte, konnte sie sich nicht entschließen. Dafür suchte sie noch einige andre Meisterwerke hervor und wußte sie alle mit gleicher Correktheit wiederzugeben. Zuletzt klagte sie, daß sie Kopfweh hätte und that sogar gegen die beiden Stunden, die sie heute noch bei Oleander zu nehmen hatte, Einspruch.
Laß es mit einer bewenden! sagte der Vater. Ich führe indessen unsern Gast noch einmal in das Gehöft meines Nachbars. Um drei Uhr mögen Sie dann mit unserm guten Oleander zurückfahren, der, wenn wir morgen bei Zeisel's sind, dann bis übermorgen von uns verschont ist und einige seiner lyrischen Winterschauer dichten kann.
Oleander setzte auch mit Selma, die sich mit leichter Verbeugung Louis empfahl, in ihrem Zimmer den gewohnten Unterricht fort, den er ihr nun schon seit zwei Monaten in Geschichte, Erdkunde, Geschmackslehre, Literatur ertheilte. Louis verstand die Andeutungen, die über den Vikar gefallen waren, hinlänglich, um sich zu entnehmen, daß er in ihm einen Genossen zu begrüßen hatte, einen Priester der dichtenden Muse. Nun begriff er erst, warum Oleander auf der Herfahrt tief in sich gekehrt war und an einzelnen flüchtigen Erscheinungen ein so lebhaftes Gefallen fand. Er gedachte des bitteren Gedichtes, das er heute früh selbst flüchtig entworfen und hielt es mit Recht anziehend, daß zwei ohne Zweifel im Geschmack sowie in der Bildung völlig entgegengesetzte Fähigkeiten unbewußt sich mit derselben Geistesübung beschäftigten, die Louis einen Akt des höheren Cultus im Menschen zu nennen pflegte. Wohl hätt' er gewünscht zu wissen, was wol während dem, daß er an dem Frühling der Welt verzweifelte und von den Blumen eigentlich geringschätzend sprach, in diesem deutschen Gemüthe entstanden sein mochte? Er war zu bescheiden, darnach zu fragen, hoffte aber, auf der Rückfahrt sich diesem einfachen und harmlosen Manne, der ihm nichts Drückendes hatte, doch noch zu nähern.
Es hatte zwei Uhr geschlagen. Ackermann fragte die in der Küche waltende unpolitische Liese, ob für die Leute gesorgt gewesen wäre. Diese erwiderte:
Wir hatten heute nur acht drüben zu speisen. Wenn's nicht höher kommt, Herr Ackermann, verlier' ich den Kopf nicht. Auf dem Heidekrug hatt' ich in der Erntezeit oft dreißig Näpfe zu füllen.
Ackermann, der leider wieder den Regenschirm ergreifen mußte, erklärte Louis, daß er sich dies gewandte Mädchen vom Heidekruge herübergenommen hätte, wo die Leute nicht bleiben wollten, seitdem Herr Justus überstudirt wäre.
Es ist nun einmal die Art des gemeinen Mannes, sagte er, daß ihm da nur wohl ist, wo er auf sein Wirken, und wenn es noch so klein ist, ein Auge gerichtet sieht. Als dieser Justus, von dem ich in den Zeitungen sehe, daß er keine geringe Rolle in der Politik spielt, noch Ökonom war und auf die Hände seiner Arbeiter sah, hing ihm Alles an. Jetzt, wo er seinen Leuten größere Freiheit, als bisher, lassen muß, sollte man glauben, sie gefielen sich in ihr. Nein! Sie wollen dienen, ohne Verantwortung dienen, sie wollen untergeordnet bleiben, und haben ihm von dem Tage gekündigt, daß er in die Kammer trat und auf Monate Abschied nahm. Ein gewisser Drossel wirthschaftet nun bei ihm.
Links vom Hause sich auf einen Weg abwendend, der durch ein Staket in's Freie führte, sagte Ackermann als Vorbereitung zu dem nun folgenden Besuch:
Ich will Sie zu meinem Nachbar führen, der gewohnt ist, daß ich täglich einmal bei ihm vorspreche. Ein rechter Dorfmagnat Das! Wenn Justus gescheit wäre, ging' er wie dieser nicht über seine Sphäre hinaus und genösse sein Wohlbefinden mit Behagen. Hören Sie da das wohlgefällige Brüllen seiner Kühe aus den Ställen! Seine Schafe liefern eine solide deutsche Wolle! Dies ist einer der Menschen, die sich bei Lebzeiten in ihrem Besitz nicht taxiren lassen. Ihre Zinsen fallen immer wieder zum Capital; denn sie brauchen nichts und schaffen buchstäblich nur für die kommende Generation der Ihrigen, die ihnen noch dazu alle diese Vorsicht und Liebe durch den Eigensinn verderben, der sich solcher wohlhabenden Kinder doch in aller Stille bemächtigt.
Louis ahnte sogleich, daß ihn Ackermann zu dem Vater des Sergeanten Heinrich Sandrart führte. Er wußte, daß dieser Ackermann's Nachbar war und zu den Begüterten gehörte. Schon machte er sich gefaßt, Verwünschungen über den Soldaten, über Fränzchen, vielleicht über sich selbst zu hören.
Der Regen war nur noch feuchter Nebel, der Alles einhüllte. Der Boden tief durchweicht. Um eine trockene Stelle zu finden, mußte man bald da, bald dorthin springen. Von Bequemlichkeit, Schönheitssinn, von einem gedämmten Wege, von einer gefälligen Allee oder Hecke, sagte Ackermann, ist bei unsern Bauern nicht die Rede. Nur der unmittelbare Ausdruck des Nutzens hat für sie Werth. Ist Das bei Ihnen auch so?
Nein, mußte Louis erwidern, im Süden verräth der ärmste Hüttenbewohner eine erlaubte Gefallsucht. Er schmückt sein Häuschen und wenn es mit einigen Blumenstöcken wäre.
Es ist wahr, sagte Ackermann, ich war in Italien! Schon im südlichen Deutschland und der Schweiz trachtet man nach dem Gefälligen, während hier Alles auf den reichsten Erwerb von Schinken, Speck, Würsten, Kartoffeln, Korn und baarem klingenden Gelde hinausläuft.
Indem waren sie bei dem Gehöft des Bauern Sandrart angekommen. Ein großes Holzthor mußte in ganzer Weite geöffnet werden, um in den Hof zu kommen. An Scheunen und Ställen ein Überfluß. Hunde von allen Racen schossen aus kleinen hölzernen Hütten. Ihr Gebell war aber eine frohe Begrüßung, denn mit Ackermann waren sie Alle befreundet. Die niedrige Eingangsthür des bescheidenen Hauses, dessen einziger Schmuck grell angestrichene roth-grüne Fensterläden waren, hatte eine Klingel, die beim Öffnen durch das ganze Haus dröhnte.
Sandrart schläft doch nicht? fragte Ackermann eine alte Magd.
Sie schüttelte den Kopf, neugierig auf einen Fremden lugend, den heute Herr Ackermann mitbrachte.
Ackermann öffnete eine Thür, aus der der Qualm des überheizten grünen Kachelofens ihnen entgegenströmte. Die Decke des Zimmers war niedrig. Die Wände hingen voll geringer Kupferstiche und bunter Farbenklexereien.
Hinterm Ofen sich ausdörrend saß der alte Sandrart in einem Sorgenstuhl und erhob sich. Eine kleine stämmige Gestalt in kurzer Jacke mit großen silbernen Knöpfen. Dem runden, ziemlich ebenmäßigen Antlitz konnte man seine gewöhnliche Physiognomie nicht entnehmen, da der Alte verdrießlich schien und gleich voll Zorn auf einen Brief wies, den er heute empfangen.
Zuerst, bester Nachbar, sagte Ackermann mit spielender, ironischer Leichtigkeit, zuerst stell' ich Euch einen Besuch aus der Residenz vor, Herrn Louis Armand.
Sandrart wußte nichts von diesem Namen und nickte mürrisch verlegen...
O mein Sohn, fing er sogleich an, mein Sohn, mein Sohn, Herr Nachbar!
Schon wieder Kummer über Euern Sohn? Schon wieder Schlimmes von ihm?
Louis horchte mit großer Spannung und setzte sich auf einen der gepolsterten kattunüberzogenen Stühle, die in dem Zimmer standen.
Ich wette, es ist wegen der Heirath Eures Sohnes, Nachbar. Ich hab' es immer gerathen, Nachbar, laßt ihn freien, wen sein Herz begehrt!
Die nicht! Die nicht! sagte der Alte; und wenn sie sich auch dicht hier schon an die Hausthür hergepflanzt hat!
An die Hausthür schon? sagte Ackermann sich umblickend. Da seh' ich nur Eure wilden Hunde, denen es bald zu kalt werden wird.
Drüben im Forsthause ist sie ja!
Im Forsthause?
Sie haben ja nicht geruht, bis sie nur noch einen Sprung in meinen Waizenkasten hat.
Sie müssen wissen, Herr Armand, sagte Ackermann immer launig und scherzend, Vater Sandrart's Waizenkasten ist sein Geldkasten. Ich möchte doch wohl wissen, wo er steht, Nachbar, der Waizenkasten!
Sandrart lachte pfiffig in sich hinein. Wenn man von seinem Gelde sprach, wurde er immer launig, aus einer Art von Schabernack. Heute fiel er aber bald wieder in seinen grimmigen Ton zurück.
So viel weiß ich, drüben in's Forsthaus kommt der Waizenkasten nicht. Ich hab's auch heute dem Heunisch gesagt...
Waren Sie drüben? fragte Louis angeregt.
Das fehlte noch! antwortete der Bauer hochfahrend. Ich Dem nachlaufen? Hier ist er gewesen, der Heunisch und hat wieder von der Geschichte angefangen. Ich leid's nicht. Heinrich soll sich nach seinem Stand umsehen und mir ein Mädchen bringen, die mehr versteht als Staatshauben.
Ackermann war einigermaßen über diese Verwicklungen unterrichtet.
Ist das Mädchen im Forsthause? fragte er. Franziska Heunisch, die Nichte des Försters! Aber Alter, hört doch! Fränzchen Heunisch, wie Das hübsch klingt! Fränzchen! Das müßt' Euch ja sein, wie wenn ein Kätzchen um Euch wäre und Euch streichelte! Denkt nur, wenn so eine weiche Hand da über Euren Bart fährt, wie gut Euch Das thäte. Ist sie schmuck? Sie kennen sie ja, Herr Armand! Wollen Sie nicht ein gutes Wort für diese Verbindung einlegen?
Louis war in Verlegenheit... Doch lobte er Fränzchens Schönheit.
Ah, glatt hin, glatt her! sagte der Alte. Ich habe sie ja gesehen vor drei Monaten. Eine Mamsell paßt nicht für die Diele draußen. Soll ich mit einem Jäger in Freundschaft kommen?
Das ist wahr, sagte Ackermann, ein Lohndiener des Fürsten und Ihr ein Freiherr vom Ullagrunde. Nein, Das wäre nicht nach der Ordnung. Aber, Nachbar, die Ordnung könnt' Euch am Ende eine Tochter in's Haus bringen, die wol Batzen, aber garstig rauhe Hände hat, mit Euch zankt, Euer Leibgericht nicht kochen will, und warum? Weil ihr selbst die Klöße im Magen drücken.
Sandrart lachte.
Ich ging' einmal von der Ordnung ab...
Der Bauer schüttelte den Kopf.
Jetzt erst recht nicht, sagte er; wo ich keine Ruhe vor ihr haben soll, wo sie schon angezogen kommt und sich in der Nachbarschaft will sehen lassen. Jetzt grade nicht!
Aber, Nachbar, wie ist mir denn, so viel ich weiß, ist das Mädchen Eurem Sohne nicht einmal zugethan. Jeder Brief, den ich Euch vorlesen muß, erzählt von seinem Kummer, daß es Fränzchen mit ihm nicht mehr mag wie sonst.
Heimtückerei! sagte Sandrart. Sie wird wol Gott danken, wenn sie meine Permission kriegt. Mit dem Förster! Mit denen da in dem Forsthaus verwandt? Mit dem Blinden in der Schmiede?
Die haben Geld!
Wer weiß, wie gewonnen! Landläuferisches Volk! Wenn mir der Heinrich so käme... wozu hab' ich denn das Haus aufgerichtet, das Ihr bewohnt, Nachbar? Wozu ließ ich ihn, den Jungen, denn was lernen, lesen, schreiben, rechnen; er bläst Flöte... er wird Soldat... das mußt' er... nimmt seinen Abschied, er bringt mir ein Mädchen zu aus Randhartingen oder Schönau, wo die fettesten Bauern sitzen. Will ich sie doch hier nicht in dies alte Haus führen, obgleich es vor zehn Jahren erst renovirt ist, ich lege den Bau da oben an und nun, für wen? für die da im Forsthause? Nein!
Dies Nein hatte etwas im Ton, das man nur mit fletschenden Zähnen hervorbringen konnte. Der Alte war gewiß fern von aller ursprünglichen Bosheit, aber im Punkte seines Stolzes und seines Eigennutzes kannte er nichts, was seine Empfindung milderte.
Vorläufig hoff' ich, sagte Ackermann, daß Euer Sohn General wird und seinen Abschied erst auf dem Felde der Ehre nimmt. Das von wegen des Hauses.
Nun, sagte Sandrart beschwichtigend, für drei Jahre, Nachbar, ist's ja Euer! Wenn er eine brächte der Heinz, die mir gefällt, muß sie erst noch...
Hier hinter dem grünen Kachelofen mit Euch schmoren, unterbrach ihn Ackermann. Ich sag' Euch, Nachbar, gebt Euren Eigenwillen auf! Der Heinz thut einmal nicht, was Euch gefällt. Was habt Ihr ihn Flöte blasen lassen! Wer Flöte bläst, Alter, setzt sich hier nicht im Winter unter Eure Lerchen da im Bauer, die bei jedem Sonnenblick denken: draußen ist Frühling und stoßen sich den Kopf, weil sie singen wollen! Der sucht die Lerchen draußen auf dem Feld! Rechnet doch auf Kinder nicht, die sich verlieben und im Kummer Flöte blasen können! Seid froh, wenn ihn nicht das Auswanderungsfieber befällt...
Das wäre? sagte der Alte zum Tod erschrocken.
Nun?
Ein Vagabund!
Oho!
Ja so, Nachbar! Vergebt! Das hatt' ich ganz vergessen... Ihr war't auch draußen. Aber... lest mir den Brief, wenn Ihr die Güte haben wollt!
Ackermann nahm das Papier, das der Bauer in Händen hatte, warf einen verstohlnen Blick auf den mannichfach bewegten Louis und las ein Schreiben vor, in welchem zuvörderst nur von Schinken, Würsten, Butter und Käse die Rede war. Der Feldwebel ließ danken, drei Unteroffiziere dankten, Alle versorgte der Bauer aus dem Ullagrunde mit Lebensmitteln. »Vater, hieß es aber nun weiter, Vater, ich muß Sie recht um Gottes Willen bitten, seien Sie christlich mit der Franziska, die nun jetzt doch zu ihrem Onkel nach Plessen ist! Sie hat von mir in Güte Abschied genommen und mir gesagt: Sandrart, wenn ich im Frühjahr noch lebe und Sie kommen zu Ihrem Vater, so will ich Ihnen recht gut werden, wie eine Schwester. Ich weiß nun auch, daß sie gern einen Andern möchte lieber leiden, aber ich habe doch von Märtens, die grüßen lassen, auf Ehre und Seligkeit gehört, daß es bei dem nur guter Wille ist und Freundschaft, aber keine reelle Absicht. Sagen Sie ja in das Försterhaus hinein, daß ich Franziska grüße und ihr wünsche, daß ihr die Zeit nicht sollte lang werden bis zum Frühjahr und daß ich keinen Ball in diesem Winter besuche. Lieber Vater, ich habe dieser Tage ein großes Malheur können haben. Ich muß es Ihnen doch auch schreiben, was es war. Es war wieder, wo ich Ihnen schon öfters geklagt habe, von wegen meinem Lieutenant. Ich hatte, weil die Franziska nun abgereist ist, die Flöte mitgenommen in die Kaserne und Alle hören gern, wenn ich manchmal des Abends blase. So blas' ich vorgestern Abend um fünf Uhr, wie's schummrig ist, und da kommt der Lieutenant hereingestürzt und der Portepéefähnrich auch und sie fluchen ein Donnerwetter über das andre, weil ich hätte ein demokratisches Lied geblasen. Das war aber nur die Melodie gewesen, die ich...
Ackermann meinte, hier wäre etwas verwischt.
Blus! sagte der Bauer; blus – blus – heißt es wol.
Blus?
Blus! Blus! wiederholte der Alte. Nun? setzte er drängend hinzu.
Allein, fuhr Ackermann fort zu lesen, was ist es meine Schuld gewesen, daß die Soldaten nun Alle laut ein Lied sangen, das auf diese Melodie gar nicht gesetzt ist? Der Lieutenant schimpfte uns einen Strauchbuben und Demokraten über den andern, worauf ich ärgerlich wurde und ihm etwas sagte, was er sagte, daß ich es ihm schon einmal gesagt haben sollte. Ich sagte aber nichts, als: Herr Lieutenant, wir sind jetzt nicht im Dienst! Da wurde er fast toll, zog die Plempe und schrie, daß ich ein Landesverräther und alle Tage wol capabel wäre, dem König meinen Eid zu brechen! Und eher wollt' er mich niederstechen, wobei ihm der Portepéefähnrich, Sie kennen ihn ja, es ist der kleine blonde, er heißt von Flottwitz, den Arm hielt, daß er nicht so schändlich konnte ausführen, was er drohte. Aber eine Rede hielt er nun, daß er schon längst wisse, was die dritte Compagnie zum Abschaum in der Armee mache und daß wir die Cocarde verlieren sollten und solche niederträchtige Sachen mehr, bis er dann sagte, daß er alles Dieses aufschreiben und mich wegen meiner Rebellion auf acht Tage in Mittelarrest bringen würde. Das nahm auch seinen Fortgang. Beim Appell wurde ich vorgerufen und mein guter Major, der Herr Major von Werdeck, für den das Bataillon sein Leben in die Schanze schlägt, sagte mir: Hören Sie, Sandrart, ist es wahr, Sandrart, sagte er, daß Sie ein demokratisches Lied geblasen haben? Herr Major, sagt' ich, ich habe eine Melodie geblasen, auf die die Soldaten einen Vers sungen, der darauf paßte wie die Faust aufs Auge. Was blusen Sie? fragte der Major. »Wenn ich in stiller Mitternacht«, sagte ich. Und was sungen die Soldaten? »Was ist des Deutschen Vaterland?« Darauf kehrte sich mein braver Major zu unserm Lieutenant um, sagte gar nichts, sondern nahm seinen Tschako ab. Das war prächtig! Auf unserm Tschako haben wir jetzt nämlich zwei Cocarden, die von unserm Landesvater und die vom deutschen Vaterland. Da sagte er gar nichts, sondern zeigte blos auf die kleine Cocarde, daß die noch gälte und er ging dann seiner Wege. Der Lieutenant warf mir aber einen giftigen Blick zu und wird mir's wol noch gedenken. Lieber Vater, es ist hier nicht Alles so, wie es sein sollte. Unser Fürst Egon ist Minister geworden. Ich sah ihn heute früh in die Kammer fahren. Er sah schon recht blaß aus. Den werden sie bald mürbe kriegen! Adie, lieber Vater! Sie brauchen mir vor Weihnachten nichts mehr zu schicken, seien Sie nur freundlich mit Franziska und grüßen Sie sie von mir, auch Herrn Armand, der jetzt auf dem Schlosse ist, aber bald wiederkommen wird. Er ist Franziska zugethan und sie hat ihn gern, das weiß Gott! Leben Sie wohl, lieber Vater, und bleiben Sie noch lange am Leben! Dies wünscht Ihr Sie aufrichtig liebender Sohn Heinrich Sandrart, Sergeant in der dritten Compagnie, Leibregiment.«
Der Eindruck dieses Briefes war auf jeden der drei Anwesenden ein andrer.
Ackermann schien erst an den naiven Wendungen und dem gutmüthigen Charakter des jungen Bauernsohnes den lebhaftesten Gefallen zu haben, stockte aber am Schluß bei der Stelle über die Nachricht von Egon's schwieriger Stellung und seinem bedenklichen Aussehen. Auch Louis hörte die Mittheilung voll Besorgniß, war aber von dem gläubigen, vertrauenden Tone seines Nebenbuhlers beschämt, während er sich vorwurfsvoll sagte: Wie unwahr bist Du! Wie grausam und wie thöricht! Der Bauer aber, der eben, als der Brief zu Ende ging, sich anschicken wollte, auf die verdammte demokratische Richtung seines Sohnes loszuwettern, erschrak über den Schluß, bei welchem Ackermann im Lesen auf Louis Armand deutete, so sehr, daß er in Verlegenheit gerieth, jetzt erst zu begreifen, wen er vor sich hatte! Den bekannten Freund des Prinzen! Den Abgesandten desselben Egon, den er auf der Landstraße einst zu sich genommen hatte, in seinem Wagen in die Stadt führte und für einen Landstreicher hielt und so behandelte! Er hatte Ackermann oft genug davon erzählt, mit Beklommenheit sich von Heunisch und Herrn von Zeisel berichten lassen, was Se. Durchlaucht selbst über diesen Vorfall gemunkelt hätten und nun war dies jener im ganzen kleinen Fürstenthume bekannte Freund und Gefährte der sonderbaren Jugendschicksale des Fürsten, der, wie Alle einstimmig versicherten, ein einfacher Tischlergesell sein sollte. Vor Erstaunen blieb ihm der Mund offen. In seiner Verlegenheit hätt' er gern dem Franzosen einen Beweis seiner Achtung, auch gern einen Einblick in seine gute Lage geben mögen.
Er sprach von einem Staatszimmer, das er hätte sollen aufschließen lassen und äußerte sogar etwas von Wein, den er doch im Keller hätte.
Da kommt es heraus! sagte Ackermann, der wieder zu seiner Laune zurückkehrte. Nun schämt er sich, daß er uns so bärbeißig empfangen hat! Am besten, Nachbar, könnt Ihr es dadurch gut machen, daß Ihr diesen freundlichen Herrn ersucht, bei dem Fränzel, das ich nun auch kennen lernen muß, ein gutes Wort für Euern Sohn einzulegen, damit der arme Flötenbläser, der für den König nicht zu taugen scheint, erhört wird, seinen Abschied nimmt und hier zum Vater herzieht. Eine Probe ihrer Liebe soll die sein, daß sie noch drei Jahre mit Euren heißen Kachelöfen, in deren Nähe eine luftliebende Lunge umkommen kann, vorlieb nimmt.
Ne! sagte der alte Bauer wieder mit demselben Ausdruck bestimmter, ruhiger und kalter Malice. So nicht!
Eigensinniges Volk, das Ihr seid! polterte Ackermann und brach nun auf. Kommen Sie, Freund, es ist hier zu heiß.
Der Bauer begleitete mit vieler Umständlichkeit und dem Drange, sich eigentlich jetzt erst recht lebhaft mit dem jungen Franzosen zu verständigen, seinen Besuch vor die Thür und über den Hof. Es regnete nicht mehr. Der Weg war nur zu schlecht, sonst hätt' er Louis gern ausführlicher über seinen Sohn, ob er ihn kenne, wo er ihn gesehen hätte, wie er ihn gesehen hätte, ausgefragt. Den Fürsten, den er auf seinem Leiterwagen gar schnöde behandelt haben mußte, wagte er nicht zu erwähnen.
Louis Armand war in der eignen Lage, von Heinrich Sandrart mit Interesse sprechen zu müssen. Er räumte ihm all' die vortrefflichen Eigenschaften von Herzen ein, die er an dem jungen Nebenbuhler kannte und trotz seiner getheilten Empfindung zugestehen mußte.
Als Ackermann mit Louis allein war und zu seinem Wohnhause die Schritte zurücklenkte, verwünschte er den Eigennutz dieser besitzenden Klasse auf dem Lande und fand alle Fehler des deutschen Charakters in unserm Bauernstande wieder. Man spräche, sagte er, vom Egoismus der Fürsten und des Adels, diese Bauern wären die ärgsten Verbündeten jenes auf Vorrechte und ein gieriges Mein! oder Dein! begründeten stabilen Prinzipes.
In der weiteren Ausführung dieser Thatsache und ihrer Vergleichung mit den Verhältnissen andrer Länder, besonders dem freien Blicke der amerikanischen Farmer kehrten sie zu dem Wohnhause zurück, wo schon der Knecht mit dem Einspänner harrte. Selma und Oleander waren noch nicht sichtbar. Ackermann horchte an der Thür, wo die Lection gehalten wurde und ersuchte Louis, da sie noch nicht zu Ende schien, noch so lange bei ihm einzutreten.
Louis fand dadurch Gelegenheit, die Eindrücke dieses Besuches noch einmal zusammenzufassen, für die freundliche Aufnahme zu danken und Ackermann den glücklichsten Fortgang seiner Unternehmungen zu wünschen.
Empfehlen Sie mich dem Fürsten, sagte Ackermann, indem er Louis' Hand ergriff, sagen Sie ihm, daß ich mich bemühen werde, das in mich gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Zu Neujahr treffen die Hülfsmittel meiner künftigen Thätigkeit ein. Sehen Sie, der elende und geringe Sinn, den Sie bei jenem Bauer, meinem Nachbar, gefunden haben, ist er nicht eine Folge der elenden und geringen Hülfsmittel, mit welchen man bisher der Natur ihre Geheimnisse, die sie ungern hergibt, zu entlocken suchte? Da wo der Mensch und immer nur der Mensch allein, höchstens mit einem dummen Stiere, einem geduldigen Pferd der großen allgewaltigen Natur gegenübersteht und sie sich allerdings in gewissem Sinne dienstbar macht, da wächst auch der Dünkel, der Hochmuth, wenn nun wirklich diese kleinen Handgriffe gelingen und sich ihre Erträgnisse in Geld verwandeln, das man nicht zu benutzen versteht. Sagen Sie dem Fürsten... doch ich spreche Sie ja morgen noch! Wie lange denken Sie zu bleiben?
Wenn Egon leidet, sagte Louis, wenn ich höre, daß ihn sein politisches System vielleicht zu gewaltsamen Schritten treibt, so hab' ich einen Drang, bei ihm zu sein, der mich in wenig Tagen von hier entfernen wird.
Bleiben Sie in seiner Nähe, schloß Ackermann mit einem eignen Tone der Rührung. Schützen Sie ihn vor der Welt, auch vor sich selbst. Ich fürchte, er kam zu jung auf einen Platz, der gereifte Männer erfordert. Ich fürchte, die traurige Ideenlosigkeit des Momentes, die schwierige Lage des Hofes und die Rathlosigkeit, mit der sich die privilegirten Stände nach Geistern umsehen, die für sie mit einer leidlichen Theorie in die Schranken treten, hat hier etwas zu Stande gebracht, was weder jene zu ihrem, noch ihn zu seinem Ziele führt. Entweder zerfällt jene Gesellschaft mit Egon oder Egon mit sich selbst – das Letztere –
Wäre entsetzlich! fiel Louis ein.
Wenn Sie Ihren Freund und Gönner recht in Gefahr wissen, in geistiger Gefahr, wollen Sie mir es dann schreiben? sagte Ackermann. Versprechen Sie mir Das?
Ich versprech' es Ihnen! antwortete Louis überrascht...
Ich verstehe mehr als den Feldbau, fuhr Ackermann fort. Ich kenne das Leben – und die Wissenschaft war einst mein Beruf.
Wie ist es nur möglich, mußte ihn Louis, den diese Bemerkung schon lange brannte, jetzt fragen, wie ist es nur möglich, daß ein Mann von Ihrer Weltbildung, die ihn recht eigentlich auf den Verkehr der großen Städte anzuweisen scheint, sich durch dies einfache Landleben befriedigt fühlen kann! Sie stehen geistig so hoch und müssen hier so niedrig steigen. Es umgeben Sie Menschen, die unbedingt keine andre Sprache verstehen als die der Beschränktheit und Selbstgenügsamkeit.
O mein junger Freund, antwortete Ackermann, schon seit einer Reihe von Jahren hab' ich mir dies Leben der Beschränkung und Einsamkeit anfangs als eine Läuterung, die mir schwer wurde, dann als eine Pflicht, die mir Vergnügen machte, auferlegt. Was ist diese Welt? Ich habe sie durchgekostet bis zur Hefe. Ich bin in den Irrthümern des ringenden Ehrgeizes, der ungebändigten Herzensregungen aufgewachsen. Ich habe mich auf seidene Polster gestreckt und aus goldenen Bechern die Lust des Lebens getrunken. Ich war nie vermögend, aber ich besaß angeboren das Talent des Reichthums. Ich konnte Denen, die besaßen, meine Phantasie leihen und ihnen sagen, was den Genuß steigere und veredle. Ich lag wie auf Rosenblättern und über mir herab hingen die vollen braunen Trauben. Ich durfte nur zugreifen. Freilich war ich dabei ein Sklave. Ich hatte die Freiheit des Herzens nicht. Für Glück und Annehmlichkeit, die mich umgaben, für Liebe sogar, die mich mit weichen Sammethänden pflegte, mußte ich doch die Kette dieser Liebe, die meinem Ideale nicht entsprach, hart empfinden. Wissen Sie, was eines der kläglichsten Loose des gebildeten Menschen ist? Empfindungen heucheln zu müssen, die man nicht hat, erkenntlich sein müssen für eine Hingebung, deren Gründe uns verdächtig scheinen. Ich war jung, strebsam, ehrgeizig. Ich hatte eine Phantasie wie Sardanapal. Ich konnte mir die glänzendste Welt, in der ich leben mochte, zaubern. Da fand ich sie! Ein Weib, das mich liebte, schüttete die Freuden der Bequemlichkeit auf mich herab. Ich reiste mit ihr. Sie liebte mich, ich erwiederte wenigstens äußerlich ihre Hingebung und mußte mir sagen, weil ich besser, weil ich edler in meinen Regungen war, als sie selbst in ihren angebornen, ehrgeizigen, unwahren, so hielt ich sie in ihrer sittlichen Haltung empor und diente ihr als Stamm und Anlehnung. Allein es war eine Sklaverei. Lieben sollen, wo man nicht liebt! Schön finden müssen, was uns nicht gefällt! O mein Freund, ich erkenne in dem Freunde des Fürsten Egon, so bescheiden und anspruchlos Sie auch sind, doch ein Auge, das auf die Tiefe des Herzens geht und sage Ihnen, ich verachtete mich. Ein junger Mann, geliebt von einer älteren Frau, die für ihn sorgt, ihn nur für sich und nur für sich in Beschlag nimmt, ist in neunzig bei hundert Fällen tief, tief verächtlich. Ich klirrte mit meiner glänzenden Kette. Ich riß mich heimlich zuweilen los. Ich fand Wesen, die mich bemitleideten, weibliche Wesen, die schöner, lieblicher, edler als meine Herrin waren. Ich genoß kurze Triumphe meiner Freiheit und mußte doch zu meinem Joch zurückkehren, denn ein eigner Zufall wollte, daß meine Gebieterin von der festen Vorstellung beherrscht war, daß sie früh sterben würde. Ich kann Ihnen den ganzen Roman meines Herzens nicht erzählen. Nur andeuten wollt' ich, was mir dies Leben da in den Städten und unter den civilisirten Menschen zum Ekel vergällte. Ich fand ein kindlich reines Gemüth, das mich liebte, die Mutter meiner Selma. Es war eine einfache Weiblichkeit, die nichts zu bieten hatte als sich selbst. Wie fühlt' ich mich veredelt von ihrer reinen Ursprünglichkeit! Da lag noch Alles unentweiht in der jugendlichen Brust, nichts vergeudet, nichts angegriffen von Dem, was zu ihren edelsten Schätzen gehörte. Ich fühlte wohl, daß bei diesem jungen Kinde, das durch eine sonderbare Fügung von meiner früheren Geliebten systematisch dahin erzogen wurde, mich liebenswerth zu finden und ihr Grauen vor mir zu besiegen, ich fühlte wohl, daß eine bedeutende, ihre Umgebungen umgestaltende Entwickelung bei Selma's Mutter nie eintreten würde, aber gerade, daß ich ihr so viel von dem Meinen zu geben hatte und daß es nur das Gute war, was ich aus meinem Wesen ausscheiden mußte zu ihrem Dienste, das hob mich wieder sittlich empor und bestärkte mich in meinem Entschluß, mir eine große, starke, lebenerschütternde Läuterung aufzulegen. Ich ging nach Amerika. Da hab' ich am Missouri einsam gelebt und mir die Reste der besseren Bestimmung noch wohlweise und sorglich einmal zusammengelegt. Es gab ein Ganzes! Es war nichts Halbes mehr, was mich erfüllte. Ich lebte einem Berufe, der mir anfangs schwer wurde, dann mich aber unterhielt, mich sogar begütert werden ließ. Ich sah wohl, daß Selma's Mutter durch die Trennung litt. Da hatt' ich eine geistige Aufgabe zu lösen, einen Mollton durch unser Leben durchzuführen. Auch dieser Schmerz dessen Ursache ich sogleich doch nicht aufheben konnte, wirkte milde und gut. Ich verwies auf zukünftige Hoffnung und versprach Rückkehr nach Europa. Die Gute erlebte sie nicht. So mußt' ich ihrem Kinde, Selma, mein Wort halten. Ich kehrte ungern zurück. Aber wenn ich diese Ehrenschuld, die ich abzutragen hatte, gern bezahlen soll, so mußt' es so kommen, wie jetzt! Ich bin ein Ascetiker der Weltlichkeit! Ich bin ein Egoist der Universalität! Ich weiß nicht, ob ich Ihnen verständlich bin. Ich will nur sagen, daß ich in meinem kleinen Dasein das ganze All wiederzuspiegeln suche und nichts thue, nichts im Geringsten und Kleinsten ergreife, ohne mir zu sagen: Das muß so sein! Das ist gut so! Die alte Zeit, wo mir Alles nur provisorisch war, wo ich immer rannte, hoffte, mich und Andre vertröstete, liegt hinter mir. Was ich beginne, ist nützlich, und was ich sehe und erlebe, ist gut. Ich will nichts mehr vom Überfliegenden. Da jenen Strauch an diesem Fenster zu beobachten, wie lange ihn der Schnee decken wird und wann er sein erstes grünes Keimchen schießen wird, Das ist mir eine Wonne, und auf solche Freuden beschränk' ich mich. So sehen Sie denn, daß ich mit Bauern bäurisch, mit Handwerkern handwerksmäßig, mit Dichtern dichterisch empfinden und reden kann, ohne verdrießlich zu werden und wie in jungen Zeiten etwa mein Schicksal zu beklagen.
So sprach Ackermann...
Hätte ihn Pauline von Harder reden hören, den geliebten Heinrich Rodewald, sie würde doch vor Wehmuth und Wonne gezittert haben, ob er sie gleich anklagte. Sie besaß die Fähigkeit, auch diese Größe seiner Worte zu verstehen...
Louis Armand mußte während dieser ihn ehrenden Geständnisse eines solchen Mannes an Murray denken. Es war derselbe Geist der Reue, der beide Männer ergriffen hatte, hervorgegangen aus unähnlichen Zuständen. Er hätte gern gewünscht zu wissen, ob in Ackermann die religiöse Färbung seiner Gefühle auch so stark war, wie bei dem ehemaligen, in sich gekehrten, leichtsinnigen Verbrecher. Deshalb warf er das Wort hin:
Die strebende Jugend, die nicht ruhen kann, muß Sie um diese Läuterung beneiden. Sollte man diese Weisheit, zu der Sie sich aufgeschwungen haben, nicht Religion nennen?
Es ist meine Religion, erwiderte Ackermann, mich gebunden zu fühlen. Früher war die Ungebundenheit meine Religion. Ich bin noch rüstig, ich fühle die Kraft in mir, mit Vielen in der großen Welt einen Wettlauf zu beginnen. Ich würde mich aber verachten, wenn ich ihn anträte. Religion ist das als eine Lebensnothwendigkeit tiefempfundene Gefühl der Abhängigkeit. Freilich die meisten Religiösen machen aus der tiefempfundenen Thatsache ein tiefempfundenes Bedürfniß dieser Thatsache. Das kann ich nicht! Diese Religiosität, die an sich schon das Bedürfniß der Schranke hat, das Bedürfniß der Gebundenheit, ist Schwärmerei und mit Schwärmerei ist Gefahr verbunden. Diese Art von Religiösen spricht von Läuterungen und läutert sich meist nur durch Das, was ihnen größres Wohlgefallen verursacht. Ich kannte eine Frau, die sich für die Sünden ihrer Jugend dadurch läutern wollte, daß sie die Feder ergriff und schrieb. Lieber Himmel, die Zeit der Blüte war vorüber. Sie hatte gut sich läutern durch etwas, was ihr einen neuen Lebensreiz bot. Ich kannte Andre, die sich läuterten, indem sie aus unsrer Kirche in die Ihrige übertraten. Die Wollust des Geistes spielt mit der der Sinne geheimnißvoll zusammen. Eine Läuterung kann ich nur da finden, wo man sich in etwas, seiner Natur und Neigung Widersprechendes, aber objectiv als gut und vollkommen Anerkanntes hineinlebt und in der Pflichterfüllung eine süße Freude genießt.
Bei diesen Worten öffnete sich die Thür. Selma und Oleander traten ein. Dieser, um für heute Abschied zu nehmen, Jene, um zu fragen, ob es nun für morgen bestimmt dabei bliebe, daß sie im Plessener Amtshause zu Tische wären?
Warum nicht? sagte Ackermann. Gewiß, gewiß! Sagen Sie der Justizdirectorin zu, daß wir kommen.
Damit begleitete er die Scheidenden an den Wagen, der ihm gehörte. Die kleine Hedwig mußte auf Selma's Verlangen Grüße an die Mutter und Geschwister bestellen. Louis bat Selma, sie möchte sich der rauhen Luft nicht aussetzen und in das Haus zurücktreten. Sie war erhitzt. Ihre Farben glühten wie vom Pinsel des Malers aufgesetzt. Louis nahm noch einmal den vollen Eindruck ihrer Anmuth hin, dankend für die freundliche Aufnahme, versicherte, daß er Egon auf ihren Wunsch die Lection lesen würde für seine Urtheile über Amerika und fuhr dann mit dem wieder schweigsam gewordenen Oleander, begleitet auch noch von einem zuthunlichen Nachnicken der etwas dreisten Magd aus dem Heidekruge, über den Hof auf die Straße hinaus, die sie heute früh gekommen waren.