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Drittes Capitel.

Der Falschmünzer.

Es war an einem stürmischen Oktoberabend, wie der heutige, erzählte Murray. Nur später schon. Die Nacht war schon angebrochen. Ich wohnte in demselben Hause wie jene Frau, die mich liebte. Wir waren im Begriff, die Stadt nächstens zu verlassen und uns nach Italien zu begeben. Den Grund sollen Sie bald erfahren. Sechs Monate lang hatt' ich in aller Stille schon ein Verbrechen getrieben, zu dem mich wahnsinniger Ehrgeiz verleitet, frivole Philosophie ermuntert hatte. Im obern Stockwerke hatt' ich eine Kammer, in die ich Niemanden einließ als meinen Bruder, den ich selbst aufsuchte und, da er in zerrütteten Umständen lebte, für meinen Anschlag leicht gewonnen hatte. Er baute in jener Kammer einen Schmelzofen, fertigte eine Prägmaschine für die von mir gemachten Stempel und fand sich zu gewissen Zeiten Nachts bei mir ein, wenn ich aus nicht ganz werthlosen Mischungen Goldstücke schlug. Mit kleinerer Münze befaßte ich mich nicht. Mein Talent zum Kupferstecher machte mir nebenbei die Fabrikation des Papiergeldes zu einer leichten, wenn auch langsam auszuführenden Aufgabe. Der Mensch ist im Grunde ein Thier. Seine edelsten Gaben benutzt er zum Ungebührlichen. Ich freute mich der gelungenen Beweise meines Talentes und lachte zu den Besorgnissen meines Bruders, dem ich niemals von dem falschen Gelde gab. Es waren ansehnliche Summen, die ich selbst in der großen Welt in Umlauf setzte.

Betrüger haben Sie betrogen, sagte Louis, Verschwender haben Sie getäuscht, Dieben mit ihrer eignen Münze gezahlt –

Das entschuldigt nichts, sagte Murray, hielt eine Weile schmerzlich lächelnd inne und fuhr dann fort:

In jener Nacht sollte uns eine Mischung gelingen, auf die ich besondern Werth legte. Sie war aber für die kleinen Hülfswerkzeuge, die uns in der Kammer zu Gebote standen, zu stark und endete mit einer Explosion, die den Ofen zertrümmerte und eine so gewaltige Lohe aufsteigen ließ, daß man eine Feuersbrunst befürchten mußte. Der Zufall wollte, daß in demselben Augenblicke, wo ich an diesem einen Auge, mein Bruder aber an beiden geblendet wurde, zwei andere eigenthümliche Momente eintraten. Meine Freundin war seit einiger Zeit schon in einem aufgeregten krankhaften Zustande. Sie wachte Nächte lang. Sie nicht nur, sondern auch ein schon längst gegen mich obwaltender Verdacht, organisirt durch einen in das Haus gezogenen spähenden Polizeibeamten, kamen fast zu gleicher Zeit an die Stelle, wo auffallend genug das fürchterliche Unglück geschehen war. Mein Bruder, alle Gefahr vergessend, hatte im Moment der Explosion geschrieen. Wie ein vom Blitz Gestreifter taumelte er hin und her, während die Thür aufgerissen wurde und meine erschreckte Freundin, die zu einem an einer versteckten Treppe befindlichen Cabinet meiner Wohnung einen eignen Schlüssel hatte, mit ihrer Kammerfrau hereinstürzte. Sie hatte die nicht zu bewältigende Flamme in dem zum Hof hinausgehenden Kämmerchen in der Nacht sogleich aufschlagen sehen, hatte schreien hören und war heraufgestürmt, ob ich in Gefahr wäre. Sie entdeckt die Verwirrung, in der ich mich befinde, ihre Begleiterin wirft Kleider auf die Flamme, um sie zu ersticken, aber diese werden im Nu von der furchtbaren intensiven Hitze verzehrt. Der Anblick der auf der Erde liegenden zerstreuten Goldstücke, die geheimnißvollen Geräthschaften, der wimmernde Bruder, der mit Wasser seine Augen kühlen will und wie ein Kind weint, da er nichts mehr unterscheiden, das Nächste nicht sehen kann, mein eigener Augenschmerz, dazu die beiden Frauen und das inzwischen eintretende Pochen von herzuströmenden Menschen an der Hauptthür, das Klingeln, der Ruf im Hofe: Feuer! Feuer!... Ich begreife nicht, daß mich nicht augenblicklich Raserei packte. Ich verlor aber die Besinnung nicht. Mit furchtbarer Bestimmtheit drängt' ich die Frauen zurück und stieß den Bruder ihnen nach. Alle Drei gingen durch das Cabinet und die kleine Lauftreppe in die Wohnung der Freundin. Ich band ihnen den Bruder auf die Seele. Nun räumte ich rasch in der Kammer auf, ließ den Ofen ausbrennen und rückte Alles, was die Flamme hätte ergreifen können, aus ihrer Nähe fort. Dann öffnete ich und stellte mich heiter, überrascht, als ich das ganze Haus versammelt sah, das mir Hülfe anbot. Man brachte nassen Sand. Diese Gefahr ging vorüber. Ich selbst aber wurde sogleich verhaftet. Meine Wohnung wurde untersucht. Man fand alles Das bei mir, was man längst geahnt hatte.

Und Ihr Bruder? sagte Louis.

Der arme Geblendete! fuhr Murray, den die Erinnerung an diese Schrecken weiß wie die Wand bleichte, fort. In die Wohnung meiner Freundin einzudringen wagte man nicht. Da man sich meiner versichert hatte, fand der Unglückliche Zeit, am Morgen mit einem Miethswagen aus dem Hause geschafft zu werden. Sein erstes Gefühl war Das, Hülfe bei dem Manne zu suchen, bei welchem unsre Schwester diente, dem langjährigen Freunde unsrer Eltern, einem wirklich vorzüglichen Thierarzte, dem Scharfrichter Lehmann. Dort gab er vor, in seiner Schmiede sich durch zu nahe Berührung der Glutausströmung des Herdes und einen Fall geblendet zu haben. Er blieb bei der Schwester, der er sich ganz vertraute. Man suchte ihn, den man für meinen Mitschuldigen hielt, in der Schmiede und fand ihn nicht. Seine Frau lebte nicht mehr. Sein Knabe, ein geistesschwaches Kind, konnte keine Auskunft geben, ich im Kerker verweigerte sie nicht minder. So galt er für entflohen, wurde mit Steckbriefen verfolgt und kein Mensch dachte daran, ihn an einem so unheimlichen Orte, wie die Scharfrichterei vorm Thore war, aufzusuchen. Er hatte in der That das beste Asyl getroffen und konnte meinem ganzen unglücklichen Processe in Ruhe zuwarten.

Murray schwieg eine Weile, um sich zu erholen und sich über den Eindruck, den diese Erzählung auf Louis machte, zu sammeln.

In Louis' Brust stockte der Athem. Sein Herz war beklommen. Seine Hand fühlte sich ihm selber eisig an.

Meine nächsten späteren Schicksale, sagte Murray, will ich übergehen. Ich wurde zu einer zwanzigjährigen Kerkerhaft verurtheilt. Ich habe alle Ursache, anzunehmen, daß ich die Dame, die einen Baron Grimm zu lieben glaubte, durch die Maske, die ich gezwungen war nun abzuwerfen, öffentlich nur wenig compromittirt hatte. Ich galt für leichtsinnig und wankelmüthig in meinen Neigungen. Man wußte wenig davon, wie eng schon das Band war, das mich mit ihr verbunden hielt, da sie zufällig auch unter mir in einem und demselben Hause wohnte. Das Geheimniß erhöht den Reiz solcher Verbindungen. Allein um so peinlicher mußt' es jener Frau sein, stündlich gerade von mir selbst eine Entdeckung zu fürchten. Ich hatte mich mit ihr durch ein Band verbunden, das der grenzenloseste Leichtsinn geschlossen hatte. Gewandt und gefällig, wie ich war, hatt' ich bei ihr keinen Widerstand gefunden und ich muß es Ihnen sagen, darf es als das eigentliche Ziel meiner Beichte nicht verschweigen... sie trug damals, als der Roman des Barons Grimm ein so schreckliches Ende nahm, unter dem Herzen...

Murray stockte. Seine Stimme war bewegt.

Louis verstand, was er sagen wollte.

Sie wird Ihnen keinen Haß genährt haben, wenn sie unter ihrem Herzen ein Pfand der Liebe trug, sagte Louis.

Doch, mein Freund! fiel Murray ein. Um so größer war dieser Haß! Ich verdiente ihn. Meine Täuschung war zu elend. Deshalb zürn' ich ihr auch nicht; zürn' ihr nicht, wenn sie der bösen Frau, die in ihrer nächsten Umgebung lebt, gestattete, einen Mordplan gegen mich anzulegen. Ich will Ihr Herz nicht betrüben, Louis, indem ich Ihnen die Rache schildere, deren zwei verletzte und gedemüthigte, wilde, vor Verzweiflung rasende Frauen fähig sind...

O sagen Sie mir Alles!

Nein, nein! Genüge Ihnen, daß ich Gelegenheit fand, einem Angriffe auf mein Leben zu entgehen. Ich entfloh...

Das gelang Ihnen?

Mit fremder Hülfe...

Vielleicht durch die Frauen! Sie irren sich vielleicht! Vielleicht gaben sie die Mittel her, Ihre Flucht zu erleichtern.

Nein, mein Freund! Wie leid thut es mir, diese gute Meinung, die Sie von Frauenherzen hegen, nicht bestätigen zu können. Ich entfloh durch den Beistand eines mitleidigen Mannes...

Wie segn' ich ihn!

Haben Sie Mitleid mit mir? Gönnten Sie mir wirklich nach solchen Verirrungen die Freiheit?

Sie haben die Freiheit, dächt' ich, zu benutzen verstanden!

Das lehrte mich nicht die Freiheit selbst, nicht der Dank gegen die Gottheit, die an mir ein Wunder vollzog, als sie mich unter den schwierigsten Verhältnissen einen tiefen Kerker durchbrechen und entfliehen ließ. Erst auf dem Meere, als ich nach Amerika floh, kamen mir stillere Gedanken und der Trotz auf meine Kraft und das Gefallen an meiner Wildheit nahmen ab. Ich betrat den Boden der neuen Welt mit ernsten Vorsätzen. Ich nahm, da ich englischer Sitte vollkommen mächtig war, einen englischen Namen an –

Murray –

Morton nannt' ich mich.

Morton? Und wovon ernährten Sie sich?

Von derselben Kunst, die ich misbraucht hatte. Ich wurde wieder Kupferstecher.

Und jeder Versuchung widerstanden Sie?

Du hörst mich, Herr! Ich kann wol sagen jeder!

Reichte der Erwerb hin, Ihre verwöhnten Ansprüche zu befriedigen?

Das war's, mein Freund! Ich gab diese verwöhnten Ansprüche auf. Ich habe gefunden, daß wir außerordentlich glücklich sein können, wenn wir plötzlich mitten in unserm Leben einmal innehalten, stillstehen, Alles ändern, zurückgehen können. Was macht uns so unglücklich, was treibt uns so von Extrem zu Extrem, als diese athemlose Begier, ein Leben so wie es nun einmal, ich möchte sagen in Schuß gekommen, zu Ende zu bringen? Ja, wir wachsen anfangs empor. Wir kommen von Jahr zu Jahr vielleicht in günstigere Lagen. Aber wehe uns, wenn wir diesem Zuge des Schicksals, dieser freundlichen Gunst der Gestirne immer nachgeben! Das Bett, einmal erweitert zum Genuß, will immer gefüllt sein. Eine Existenz, einmal bequem und behaglich angelegt, wird unsre Qual, unsre Folter, unsre Verlockung zur Sünde werden. Der Emporkömmling, der nicht mehr zurückkann, wird fast immer scheitern. Verwirren sich seine Begriffe von Recht und Tugend nicht in dem Drange des Erwerbs, so sinkt er erschöpft am Ende seiner Tage zusammen. Der Zwang, jenes bequeme Bett seiner Existenz immer gleich weit auszufüllen, hat ihm jede Freude des Lebens geraubt.

Jetzt versteh' ich, sagte Louis, warum so viele Handwerker in Paris zwanzig Jahre fleißig sind und dann auf's Land ziehen, um weniger arbeiten und sichrer genießen zu können.

Das nenn' ich einen Epikuräismus, antwortete Murray, den ich niemals empfehlen werde. Man soll nicht früher aufhören zu arbeiten, ehe nicht die Hände und der Muth erlahmen. Nein! Ich richtete mich in New-York sogleich arm und bescheiden ein. Die Anmaßungen des Barons Grimm lagen hinter mir. Man nannte mich den Diogenes in der Tonne und wollte Geiz darin finden, daß ich so wenig ausgab und so viel verdiente –

Thaten Sie Das?

Ja, mein Freund! In Amerika ist jede praktische Kunstfertigkeit hochgeehrt. Ich erwarb deshalb viel, weil ich wenig brauchen wollte. Ich habe ein nicht unansehnliches Vermögen gesammelt, noch reicher aber bin ich an innern Erfahrungen geworden. Ich verschloß mich auf der neuen Erde den Menschen nicht. Ich prüfte die Charaktere und unterrichtete mich über die Einrichtungen. Die Gewissensbisse, die an mir nagten, führten mich auf das Bedürfniß der Versöhnung. Glauben Sie nicht, daß ich ein bigotter Christ wurde, aber ich gestehe Ihnen, daß ich eines Mittlers bedurfte. Der Mittler Jesus, den uns das Christenthum bietet, sprach zu mir wie ein verborgener Freund. Er sagte mir nichts von Dem, was man wol so gewöhnlich in den Kirchen hört, er sagte mir: Du bist ein Mensch und hast gesündigt! Deine Bahn war gestört, aber vielleicht führte dich die Störung auf den rechten Weg, den du nie gefunden hättest, wenn du ohne Innerlichkeit, als leidlich guter Mensch, so fortgegangen wärest.

Sie schlossen sich einer Sekte an? fragte Louis, dem mit dieser religiösen Wendung des Gespräches eine neue Verklärung auf Murray fiel, ohne daß er sich freilich hätte eingestehen können, daß er ihm deshalb lieber geworden wäre. Er hing, wie jeder junge Mann, an seinem irdischen Berufe und an der reinen Weltlichkeit unsrer nächsten großen Bestimmungen und mistraute sogar dem Einflusse der religiösen Betrachtung auf die Energie, die er von dem Menschen der Jetztzeit verlangte.

Ich schloß mich keiner Sekte an, sagte Murray, sondern beobachtete nur. Wiedergeboren im Geiste kann man nur in sich selber werden. Was ich innerlich gelitten, verschuldet, mir vorzuwerfen und abzubüßen hatte, eignete sich Das für die Mittheilung? Ich dachte mir jedesmal, wenn ich die Sekten in ihren Cirkeln beten hörte: Wenn Ihr wahrhaft gottselig seid, muß Euch der Kampf um den innern Frieden leichter geworden sein als mir! Ich betete für mich. Auch hab' ich nie hinaufbeten können zu einem großen Wesen, das außer mir wäre. Das hätte mich nicht erquickt und erfüllt. Wie kann mich etwas erquicken, das nicht aus mir selber strömte? Die Macht des Gebetes liegt in der Ruhe, die nach ihm auf unser Inneres sich breitet. Ich betete, ich kann wol sagen, zu mir selbst. Ich betete zu dem tiefen Geheimniß, das in meiner Brust schlummert und mir alles Das entgegenhält, was gut und schön und unsre Pflicht ist! Das Böse lag klar vor meinem Blick. Ich verschönerte es nicht, ich entschuldigte es nicht durch bunte Farben. Ich sah es in seiner ganzen verworfenen, abschreckenden Gestalt und entrann dieser Gestalt, zu reineren Genien mich flüchtend, die mir ihre rettende Hand boten. Aber was ich auch that, um mich zu läutern, nichts wäre mir gelungen, wenn ich nicht die Freuden einer bescheidenen Lebensweise gesucht und an Entbehrung mich gewöhnt hätte. Mein einz'ger Luxus waren Reisen in das Innere der Staaten, die mir unendlich lehrreich wurden und unter Andern auch die Freude bereiteten, den Mann kennen zu lernen, der meinen Geschwistern die Kunde meines Todes brachte...

Wie ist es nur mit diesem Tode? fragte Louis, ergriffen von der weichen und sanften Stimme, in der Murray seine religiösen Empfindungen ausgesprochen hatte.

Wenn, mein junger Freund, fuhr Murray fort, die Aussöhnung des innern Menschen mit sich selbst und die Wiedergeburt im Geiste darin liegt, daß man jede Kluft zwischen seinem Schicksal und seiner Ergebung in dies Schicksal ausfüllt, so muß ich Ihnen gestehen, daß es zwei Dinge gab, die beim erwachenden Glück meiner Seele dennoch die Freudigkeit derselben störten. Der eine Gedanke, der mich peinigte, war die Flucht vor dem Loose, das mich in Europa heimgesucht hatte. Der andre die Erinnerung an meinen Sohn...

Wissen Sie nichts von Ihrem Kinde? Es ist ein Sohn? fragte Louis theilnehmend.

Es ist ein Sohn...

Und keine genauere Kunde von ihm?

Nicht mehr, als was ich Ihnen erzählen werde. Jene beiden Gedanken folterten mich...

Auch der Ihrer Flucht? Wie wäre Das? Wie konnte Sie der Gedanke an Ihre Rettung foltern?

Murray schwieg eine Weile, dann sagte er:

Sie stehen, ein reiner, unbescholtner, in sich friedlicher Jüngling, auf dem Standpunkte nicht, der der meinige werden mußte. Ich habe dem Herrn gedankt, als ich mir sagen konnte: diese Flucht rettete dein Inneres! In dem Kerker hättest du mit der Kette geklirrt und dir in ungebehrdigem Zorne den Schädel an der Wand eingerannt. Erst durch die Flucht fandest du die Stimmung, in dir einzukehren und über dich den Stab zu brechen...

Um so mehr!

Wie ich aber Frieden mit mir selber hatte, wissen Sie, was mich peinigte..?

Doch nicht der Vorwurf, daß Sie dem ungerechten Akte dieser weltlichen Gerechtigkeit nicht genügt haben?

Murray schwieg und wurde nachdenklicher.

Sie antworten nicht? Wär' es möglich, daß Sie die Absicht hätten –

Mich den richterlichen Behörden hier selbst wieder auszuliefern? fragte Murray lächelnd und richtete sein Auge lange auf Louis, der diese Verirrung des von ihm so hoch geschätzten Mannes nicht zu begreifen im Stande war.

Nein, nein, sagte er. Das ist keine lebenskräftige Tugend mehr! Das ist mönchische Selbstqual! Das ist Hypochondrie!

Haben Sie keine Sorge, mein Freund, sagte Murray, daß ich die Thorheit besitze, in diesem Punkte blindlings einem Gefühle zu folgen. Wie wenig reif dieser Gedanke bei mir ist...

Er zog sein Terzerol und fuhr fort:

Beweise Ihnen diese Waffe, mit der ich im Stande wäre, meinem Leben ein Ende zu machen, wenn ich so unglücklich sein sollte, erkannt zu werden. Und doch hass' ich Selbstmord! Und möchte Christ sein! Sie sehen, daß ich noch nicht zur rechten Erleuchtung gekommen bin!

Louis erwiderte nichts. Der Anblick der Waffe machte ihn vollends irr. Er konnte bei Murray eher Alles, als eine gewaltsame Beendigung seines Lebens durch eigne Hand voraussetzen. Mit seinen religiösen Grundsätzen schien diese Drohung nicht übereinzustimmen...

Murray verstand sogleich, was seine letzten Worte bestätigend in Louis' Seele vorging.

Nicht wahr, sagte er, wie wenig entsprechen solche Entschlüsse dem Bilde, das Sie vielleicht von mir gewonnen haben! Ich spreche von Selbstmord! Erkennen Sie daraus, wie wenig ich in mir selber schon reif und klar geworden bin! Ein völlig unbestimmtes Tasten im Dunkeln verwirrt mich noch, wenn ich an diese Gefahren denke. Soll ich sie aufsuchen? Soll ich sie fliehen? Eine Stimme in meinem Innern sagt: Kehre am Schluß deines Lebens in den Anfang zurück und dulde, was du dulden mußt –

Louis sprang auf und unterbrach Murray auf das Heftigste.

Sprechen Sie Das nicht aus! rief er. Sagen Sie nicht, daß man verpflichtet wäre, dieser irdischen Gerechtigkeit Wort zu halten! Wenn irgendwo ist hier das Recht der Nothwehr an seiner Stelle. Sie würden diese Gerechtigkeit beschämen, wenn Sie in den Kerker zurückzukehren wünschten.

Nein, mein Freund, ich würde noch mehr thun, sagte Murray, ich würde sie veranlassen, großmüthig zu sein; ich würde die Aufmerksamkeit des Publikums auf mich ziehen, belobt, gerühmt, gepriesen werden – kann ich Das wollen? Müßt' ich Das gerade nicht verachten? Nein, mein Freund, nicht sich selbst angeben, sondern angegeben werden, fortgeschleppt von der Gerechtigkeit, die sich der Beute freut, Das, Das, könnte leicht mein Schicksal sein...

Louis wehrte gewaltsam diese melancholischen Äußerungen fast mit den Händen ab. Es war ihm, als träte einer der alten Märtyrer aus den Nebeln der Geschichte und drängte sich an den Holzblock, nur um für Christus zu sterben und seinen Heiland bald zu sehen.

Nun, nun, sagte Murray und streckte ihm das Terzerol entgegen. Sie merken da, daß ich noch ziemlich weltlich gesinnt bin, wenigstens so lange – fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu – bis ich meinen Sohn gefunden habe.

Sprechen Sie davon, Murray! Das ist tröstlicher für mich.

Ich sehe aus Ihrem Eifer Ihre Liebe. Nun wohlan! Der zweite mich peinigende Gedanke ist mein Sohn. Ich weiß, ich ahne es, daß er im Elend lebt, verworfen, verkümmert. Wenn er lebt! Ich hatte keine Ruhe über diesen Gedanken. Ich weiß, daß ihn seine Mutter verstieß, weiß, daß sie ihn, wenn er noch lebt, hassen wird, wie sie den Vater haßte. Es gibt unblutige Mörderhände! Man kann tödten – o mein Freund – man kann tödten mit Gift und Dolch, das ist alt! Man kann tödten mit scheinbarer Liebe, übertriebener Pflege, durch tausend Mittel der Bosheit, die langsam, aber sicher treffen. Auch Das ist erwiesen, wenn auch meist im Dunkel begraben und nur für das jenseitige Gericht reifend! Aber ein noch langsamerer Tod durch Unterlassungen, ein sittlicher Mord durch Nichterziehung, Verwilderung, Elend... sehen Sie, Freund, das Alles steht klar vor mir, stand vor mir, seit ich mein Elend begriff, und meine Ruhe, meinen Frieden stört dies Bild so, daß ich mir verworfen vorkomme, wenn ich die natürliche Pflicht, die mir die Ordnung der Natur aufgegeben, aus jämmerlicher Feigheit um mein eignes Loos hintansetzte und von dieser Erde scheiden wollte, ohne mich noch wenigstens einmal umzublicken, wo wol das Kind ist, das sich so jammervoll durch sündige Eltern in's Leben stehlen mußte.

Louis war von diesen mit hoher Weihe ausgesprochenen Worten erschüttert.

Ja, sagte er, Murray's Hand ergreifend, das ist ein Gefühl, hochzuehren, heilig und edel! Diesem Gefühle widmen Sie Ihr Dasein, aber ihm schonen Sie es auch! Denken Sie an Ihren Sohn! Suchen wir ihn! Retten wir ihn, wenn er noch lebt und durch die unnatürliche Wuth einer betrogenen Mutter wol zu den Ausgesetzten und Verdammten dieser Erde gehört!

Das war meine Aufgabe, fuhr Murray fort. Ich raffte mein Vermögen zusammen, nahm Abschied von den Wenigen, die mich kannten, und schrieb jenem Manne, den ich einst auf seiner Farm am Missouri kennen lernte und von dem ich wußte, daß er zum Continente zurückkehrte, er sollte meinen Verwandten, die ich ihm bezeichnete, einiges Geld überbringen und sagen, daß ich todt wäre. Als mir einfiel, daß ich großen Gefahren entgegen ging, ließ ich den Verdacht entstehen, als lebt' ich wirklich nicht mehr...

Heunisch sagte mir, bemerkte Louis, daß die Ursula und der Schmied von einem todten Bruder geerbt hätten.

Tausend Dollars ein Jedes.

So wird es sein...

Ich komme nach Deutschland. Was beginnen? Leb' ich noch, entdeck' ich mich den Meinigen, so setz' ich mich der Gefahr aus, erkannt, ergriffen zu werden und meine Mühen um den Sohn wären vergebens.

Ja, Murray, schließen Sie sich ein! Lesen Sie! Arbeiten Sie! Denken Sie! Ich will für Sie handeln. Ich!

Murray war gerührt...

Was wissen Sie von Ihrem Kinde, wo wollen Sie hoffen es wiederzufinden?

Fünf Monate nach meiner Verhaftnahme, erzählte Murray, erfuhr ich durch einen Besuch meiner Schwester, der mir als Abschied gestattet wurde, weil ich mein Urtheil erfahren hatte, daß meine Freundin einige Wochen nach jenem verhängnißvollen Abende die Stadt verließ und ihr schrieb, sie sollte in einen nahegelegenen Ort sich begeben, um dort eine Mittheilung zu empfangen. Meine Schwester stellte sich ein, traf aber nur jene ältere Vertraute, die ihr erklärte, in vier Monaten etwa würde ihre Gebieterin von einem Kinde genesen, das mir elendem Menschen angehöre. Sie würde diese Erlösungsstunde von dem qualvollsten Zustande in einem Dorfe, das ihr näher bezeichnet wurde, abwarten und bis dahin sich in Verborgenheit halten. An dem Tage, wo sie die Anzeige der bevorstehenden Geburt empfangen würde, sollte sie kommen und das Kind abholen. Man wollte ihr ein für allemal eine nicht unbedeutende Summe zahlen, wenn sie das Kind als das ihre annähme und einen Schwur leistete, nie mehr im Leben von diesem Vorfalle und Verhältnisse Erwähnung zu thun. Wenn sie es verspräche, so könnte sie gewiß sein, daß die hohen und einflußreichen Verwandten der Dame Alles aufbieten würden, das Loos ihres gefangenen Bruders, dieses ruchlosen Abenteurers und Betrügers, zu mildern. Meine Schwester Ursula, noch entsetzt von dem Anblick des blinden älteren Bruders, voll Theilnahme auch für mich, mehr noch aber gereizt durch den Gewinn versprach, das zu erwartende Kind zu sich zu nehmen und für dessen Schicksal zu sorgen. Acht Tage vor meiner Verurtheilung hatte die Entbindung von einem Knaben stattgefunden. Meine Schwester hatte dreitausend Thaler empfangen, klagte aber, daß sie schon dem blinden Bruder davon die Hälfte abgeben sollte. Dieser war noch immer an dem schrecklichen Orte, wo meine Schwester in Diensten stand. Freilich hatte sie jetzt diesen Platz zu verlieren. Ihr Herr hatte meines Bruders Verbrechen erfahren und würde nicht gelitten haben, daß sie mit dem Kinde bei ihm geblieben wäre. Wo ist denn nun das Kind? fragt' ich damals und wohin willst du dich mit ihm wenden? Meine Schwester hatte zu allen Zeiten etwas Verwirrtes und Seltsames. Statt auf meine Frage zu antworten, antwortete sie darauf selbst mit Fragen. Nach Allem, was mir Franziska Heunisch von ihr erzählte, wundert es mich nicht, daß sie in ihren alten Tagen das Wesen einer Hexe angenommen hat. Wenn's nur erst über den grünen Klee ist! sagte sie damals. Was sie damit meinte? fragte ich. Ist das Kind schwächlich? Ist es krank? Wie wird es genährt? In diesem Augenblick, erfüllt von der ganzen gewaltsamen Theilnahme für ein Wesen, das mir noch für die Zukunft einen gewissen Zusammenhang mit dem Leben gab, trat der Gefängnißwärter ein. Die Frist der Unterredung war abgelaufen. Ursula mußte fort. Besorg' Alles gut! sagt' ich noch und drückte ihr die Hand, nicht voll Rührung, sondern voll Ingrimm. Sie ging, antwortete auf meine Fragen nicht mehr und – das ist Alles, was ich von meinem Kinde weiß und als Beruhigung mit hinüber nahm in die neue Welt.

Louis erwiderte, daß hier ja Anhalt genug zum weitern Forschen gegeben wäre.

Das wohl, sagte Murray, aber ich ahne nichts Gutes von dem Ergebniß. Eine Nachfrage bei jenen Frauen –

Leben sie noch? fragte Louis rasch.

Sie leben noch! sagte Murray. Sie leben in Glück und Freude! Ich will sie nicht stören in der Ruhe ihrer Herzen, wenn diese Herzen ruhig sind.

Ah, sagte Louis, doch nur, weil es gefährlich ist, den Verdacht solcher Tigerinnen zu wecken. Denn sonst –

Ich will keine Rache, erklärte Murray. Hätt' ich auch ein Recht dazu? Kaum zur Strafe für Das, was mir wirklich Schlimmes von ihnen widerfuhr. Bei ihnen wagt' ich nicht zu forschen... so ging' ich... schaudervoll zu sagen... wo ich zuerst um das Schicksal eines so elend auf die Welt gekommenen Wesens nachfragte...

Am Hochgericht!

Entsetzliches Gefühl, mit dem ich die Anhöhe hinaufstieg, die zur Schädelstätte der Verbrecher führt! Wie tief ritzten die Dornen, die ich mir selbst auf's Haupt setzte, in's Fleisch! Wie blutete ich unter dem Druck des Märtyrerthums der Reue, zu dem ich mich freiwillig darbot! Ich klopfte an die Pforte der unheimlichen Wohnung auf der Höhe und fragte nach dem Doctor Lehmann, so nannte man sonst den Pächter. Er war todt. Sein Nachfolger wußte nichts von Ursula Marzahn, nichts von Jakob Zeck. Ich ging den Berg hinunter, als wenn feurige Flammen unter mir aus dem Boden schlügen. Ach, ich nahm es für eine gute Vorbedeutung, daß man hier nichts von dem Vergangenen wußte. Eine neue Generation hatte die alte verdrängt. Die Vögel sangen in der Luft, die Ernte stand so voll und hoch und reif. Ich setzte mich in's Korn unter blaue Blumen und dankte Gott, daß ich nichts erfahren hatte.

Murray schwieg eine Weile, um sich zu erholen. Dann fuhr er fort:

Ich suchte den Wächter meines Gefängnisses auf...

Den fürchteten Sie nicht?

Er hatte mich entfliehen lassen...

Der Brave!

Weil er seine Pflicht verletzte, brav?

Wir vereinigen uns nicht, Murray... sagte Louis kopfschüttelnd.

In diesem Falle doch, wenn ich Ihnen sage, daß dieser Gefangenwärter mir entdeckte, warum ich nicht in das Zuchthaus kam, sondern zu einsamer Haft begnadigt wurde.

Murray erzählte die Umstände, die wir wissen.

O diese Teufel in Frauengestalt! rief Louis. Sagen Sie mir, wer sie sind?

Murray, auf diese Worte nicht achtend, fuhr fort:

Auch hier hatte der Tod schon den Posten abgelöst. Ich entdeckte eine Tochter jenes braven Mannes, jenes Mädchen...

Das Sie allein zu Grabe begleiteten?

Murray nickte.

O glauben Sie mir, rief Louis, was Sie für Herbststurm gehalten haben, als Sie an der aufgeschütteten Erde des Friedhofes standen, Das waren die Chöre der Engel, die ein Requiem der armen Seele sangen und ein Hosiannah Ihnen.

Murray lehnte dies Lob ab und fuhr in seinen Angaben fort:

Von jenem Mädchen hört' ich zum ersten male, daß eine Ursula, die sich Marzahn nennt, mit jenen Frauen noch in einem gewissen Zusammenhange steht. Nach diesem Namen forschend, hört' ich, daß Marzahn der Name eines verstorbenen Försters in Fürstlich Hohenbergischen Diensten war, dessen gegenwärtiger Nachfolger Heunisch ist. Den Namen Franziska Heunisch hört' ich zuerst bei meiner Nachbarin Louise Eisold, dann von jenen Feinden dieses jungen Mädchens, die mich veranlassen wollten, sie zu entführen. In dem Drange, den Beziehungen meiner Verwandten auf die harmloseste Art näher zu kommen, ging ich scheinbar auf die mir gemachten Vorschläge ein –

Von Wem kamen sie? sagte Louis. Wie oft versprachen Sie mir diese Aufklärung!

Lassen Sie mich schweigen, sagte Murray. Sie würden sie strafen wollen und mir nur Verfolgungen zuziehen, die ich jetzt noch nicht wünschen kann. Genug, ich wußte nun von Franziska, von den Märtens, Ihnen und Ihrem gutmüthigen Nebenbuhler Heinrich Sandrart, daß Ursula Marzahn und ihr Bruder Jakob Zeck beim Fürstlich Hohenbergischen Dorfe Plessen wohnen. Ich folgte Ihnen. Ich schützte Ihre Freundin. Und da bin ich nun und weiß nicht, wie ich, ohne von den Todten leibhaft aufzustehen, nach dem Schicksal jenes Kindes forschen soll, das in allen meinen Anfragen nach der etwaigen Umgebung dieser Menschen nie genannt wurde. Wie ich jenes Mädchen auf dem Wege des Lasters fand, wer weiß, ob ich meinen Sohn nicht als Verbrecher finde!

Dann wäre Ihnen besser, Sie entdeckten ihn nie, bemerkte Louis...

O! O! Ich glaube an die Möglichkeit moralischer Besserung; nur kommt es auf die richtigen Mittel an. Ein Verbrecher gleicht einer erstarrten Schlange, die man an seinem Busen aufwärmen muß...

Um sich zum Dank von ihr verwunden zu lassen?

Ich wählte kein gutes Bild. Nehmen Sie den Verbrecher sich selber nah, entziehen Sie ihm die Möglichkeit des Fehlens, erwärmen Sie ihn durch Liebe und Vertraulichkeit, erheben Sie ihn dadurch, daß Sie zu ihm niedersteigen... ich will nicht sagen, daß Alle dem Besseren zu gewinnen sind: Mancher ist es: warum sollt' ich ihn nicht suchen?

Ich helf' Ihnen, schloß Louis und horchte. Es schlug zehn Uhr vom Kirchthurme im Dorfe. Es war kalt geworden. Man hatte vergessen, im Ofen nachzulegen. Murray fröstelte wie ein Fiebernder.

Sie sind krank? Sie regten sich auf? Was haben Sie? sagte Louis Armand.

Das erste Gefühl einer Frau, die Mutter wird, antwortete Murray lächelnd, ist Fieberfrost. Mein Geständniß hab' ich abgeschüttelt. Sie werden es pflegen und schützen. Aber es überrieselt mich doch...

Besprechen wir morgen, sagte Louis, die Mittel, um bei der Schwester und bei dem blinden Bruder nachzuforschen, welches Schicksal einem Kinde geworden ist, das ihnen einst der Zufall anvertraute.

Keine Übereilung! rief Murray.

Wir haben ja Zeit, sagte Louis. Sie arbeiten hier in der Stille. Ich soll noch einige Tage bleiben und wer weiß, ob meine Abwesenheit von der Stadt... nicht wohl gar... Er stockte voll Betrübniß.

Gewünscht wird? fragte Murray.

Als Louis schwieg, sagte der Alte:

Louis Armand, Sie müssen morgen meine Aufrichtigkeit vergelten und mir sagen, ob auch Sie Kummer haben?

Louis gab Murray den einen Leuchter, während er selbst den andern ergriff und sagte ruhig ausweichend:

Gute Nacht für heute! Sie suchen einen Sohn, edler Mann! Nehmen Sie vorläufig mich an seiner Statt. Sie haben mich tief erschüttert und das Gefühl der Wehmuth, das seit einiger Zeit über mich und einige Freunde gekommen ist, vollends aufgelockert bis zum tiefsten Lebensernst. Es gibt denn doch nur wenig Wahrheiten, die uns so aus der Luft zufliegen und gleich unsern innersten Menschen befriedigen können. Aus der eignen Brust heraus müssen wir weise werden, aus dem Bedürfniß unsrer eignen Seele zum Guten kommen. Dank! Dank Ihnen für Ihr Vertrauen! Sie haben es nicht verschwendet. Der Fremdling ist Ihr Freund, Ihr Schüler, Ihr Sohn!

Murray lächelte milde. Er sah sich dann im Zimmer noch etwas mistrauend um, leuchtete an das Fenster, bemerkte, daß der Sturm etwas nachgelassen, schloß die Fenster, bedeckte seine kleine Werkstatt, schloß den Flügel und konnte sich nicht so rasch von dem Zimmer trennen.

Ist es mir doch, sagte er schon im Gehen, als wenn diese Wände zu viel erfahren hätten! Oder ergreift mich ein Bangen in der Nähe meines Bruders? Ich glaube, er würde mich trotz seiner Blindheit erkennen, wenn er meinen Athemzug hörte –

Träume der Aufregung, Murray! Beruhigen Sie sich! Ihr Geheimniß schlummert in meinem Herzen!

Murray drückte Louis die Hand und folgte in das Vorzimmer, wo Louis schlief. Er selbst ging über den Corridor in ein entgegengesetztes Gemach, das er gerade aufschloß, als die Kirchthurmuhr schon ein Viertel auf elf Uhr schlug, eine Stunde, wo auf dem Lande, auch im Sommer, wie vielmehr jetzt, Alles im tiefsten Schlummer liegt.

Der Morgen brach an, wie der Abend endete. Das Wetter hatte sich noch nicht aufgeklärt. Derselbe nebelgraue, feuchte Himmel. Louis hätte ihn so gern gewünscht seiner Stimmung gemäß. Er hätte nach Dem, was er gestern von einem der seltsamsten Menschen, denen er im Leben bisher begegnet war, gehört, die neuen, gewaltigen Eindrücke so gern in Luft und Natur hinaustragen mögen, um sich der ihn drückenden Schwere dieser geistigen Last etwas entbunden zu fühlen. Der Himmel bot sich aber nicht zu dieser Hülfe an. Er blieb verstimmt und verstimmend, verschlossen dem Blicke, der so gern zu seinem Blau emporgeschaut hätte.

Der junge Arbeiter, der hier zu einer unfreiwilligen Muße verdammt war, sprang aus dem Bett und bekleidete sich. Er fühlte das lebendigste Bedürfniß, Murray freundlich zu begrüßen und ihm durch seinen eignen unbefangenen Sinn die Angst zu nehmen, die uns doch befällt, wenn wir, verführt von einer günstigen Situation, aus uns zu gewagt heraustraten und mehr über uns enthüllten, als wir sonst dem Blicke der Menschen zu verrathen gewohnt sind. Hier war nun vollends noch die Last eines Verbrechens, das Geständniß einer unter allen Umständen bedenklichen Schuld abgeschüttelt worden und Louis fühlte zart genug, um die Lücke, die in Murray's Gemüth entstanden sein mußte, durch freundlichste Begrüßung wieder auszufüllen.

Er ging über den Corridor, klopfte bei ihm an, trat leise ein und fand ihn gleichfalls schon angekleidet, ruhig auf seinem Bette sitzend und lesend.

Ich lebte bisher so wenig in der wirklichen Welt, sagte Murray, daß ich mich immer an Bücher gehalten habe und in der That sind richtig gewählte Schriften ein Ersatz für das Leben. Geschichte, Naturkunde, leichtfaßliche Philosophie sind Gegenstände, über die ich mir schon seit dem Baron Grimm nicht gern eine wichtige Erscheinung entgehen lasse. Diese alte Gewohnheit ist mir im bessern Sinne geblieben.

So hab' ich wenigstens die Beruhigung, sagte Louis, auf den Vorrath von Büchern, die Murray mitgebracht hatte, blickend, daß Sie in der Zeit, wo ich suchen werde, die Verhältnisse Ihrer Geschwister genauer zu erforschen, wenigstens eine Beschäftigung haben.

Ich werde verstimmte Musik machen, lesen, eine Visitenkarte für Ihr Geschäft stechen und mich so nützlich als möglich zu machen suchen.

Damit gingen Beide gemeinschaftlich in das Eckzimmer hinüber, fast auf dem Fuße von Brigitten gefolgt, die das Frühstück mit klappernden Tassen brachte. Winkler tappte hinter ihr her, um einzuheizen.

Es wurde von einem Wagen des Herrn Ackermann aus dem Ullagrunde gesprochen, der den Candidaten Oleander zum Fräulein Selma täglich abhole, das Stunden bei ihm nähme, der Wagen würde heute hier erst vorfahren und dann wie immer am Pfarrhaus halten.

Wie weit ist's in den Ullagrund? fragte Louis, auf's Neue betroffen über den Namen Oleander (der der Name jener Deutschen war, die Thaddäus Kaminski auf seiner Flucht aus Polen ehelichte und mit nach Frankreich nahm)...

Eine Stunde zu fahren, zwei zum Gehen! hieß es.

Wann fährt Herr Oleander zurück?

Gegen Abend erst...

Ich muß sehen, wie ich selbst zurückkomme. Rechnen Sie auf ein Mittagessen für mich nicht. Aber mein würdiger Begleiter bleibt daheim und lassen Sie ihm nichts abgehen...

Es würden die darauf folgenden Auseinandersetzungen und Ablehnungen noch länger gedauert haben, wenn nicht ein Klopfen draußen an der Vorthür sie abgeschnitten hätte.

Herr Justizdirektor von Zeisel war es, der seinen Morgengruß schon in aller Frühe selbst bestellen wollte und sich die Ehre ausbat, morgen beide Herren bei sich zu Tische zu sehen. Louis blickte dabei auf Murray, der sich entschuldigte, aber die Gründe widerlegte, warum auch sein junger Freund Anstand zu nehmen schien, die Einladung anzunehmen. Frau von Zeisel erhielt später durch ihren Gemahl die Versicherung, daß sie auf die Vermehrung ihres Tisches wenigstens durch ein Couvert rechnen durfte. Auch Herrn Oleander würde man finden und wenn die Einladung Erfolg hätte, auch Herrn Ackermann und Tochter... Herr von Zeisel, der das freundschaftliche Verhältniß zwischen dem Fürsten Egon und Louis Armand kannte, unterließ nicht, diesen kritischen Besuch auf jede Art zu ehren. Er überreichte Louis ein Packet der neuesten Zeitungen und erbot sich zu jeder Gefälligkeit, die er ihm nur unter den traurigen Umständen dieser üblen Jahreszeit erweisen könnte. Louis dankte und bat nur, ihn wegen Fortsetzung dieser Zeitungen öfters in Anspruch nehmen zu dürfen.

Das kann ich mir denken, sagte Herr von Zeisel, wie sehr es Sie interessiren muß, diese glänzende Laufbahn, in die sich Sr. Durchlaucht plötzlich geworfen haben, zu verfolgen. Ich freue mich wahrhaft, daß die schönen Versicherungen, die Justus in den nahegelegenen Wahlkreisen für seinen Schützling gegeben, so schnell in Erfüllung kommen. Dennoch herrscht bei Allen, die für die allgemein hier herrschende Liebe zu Sr. Durchlaucht einen sichern Ausdruck haben und wissen, warum sie ihn verehren, eine Art Bedauern über diese Nachricht. Denn der Beruf eines Ministers gehört in diesen Tagen nicht zu den beneidenswerthen.

Murray schwieg aus Absicht, Louis aus Schüchternheit und bescheidener Einhaltung seiner Sphäre.

Über Ackermann, seine Pläne, seine Vorbereitungen zu sprechen, war Herr von Zeisel zu sehr Diplomat. Er lebte mit dem neuen Generalpächter fast auf gespanntem Fuße, was jedoch eine Einladung nicht ausschloß. Er rühmte sogar ausdrücklich Alles, was man sich von der zukünftigen Neugestaltung der wirthschaftlichen Verhältnisse des Fürstenthums versprechen dürfte. Sein ganzes Wesen war rücksichtsvoll und zeigte Takt.

Als Herr von Zeisel gegangen war, hatte Louis nicht mehr viel Zeit, die Neugier, was wol die Blätter enthalten würden, zu befriedigen. Er sah einige Nummern des »Jahrhunderts« durch, die er schon kannte. Die neuen Nummern entfaltete er kaum, als schon unten der Peitschenschlag des kleinen Einspänners hörbar wurde, der ihn nach dem Ullagrund abholen sollte. Er überließ die Zeitungen Murray, der dafür ein geringes Interesse hatte, und nahm von ihm für den Lauf des Tages herzlichen Abschied.

Sorgen Sie doch nicht, rief ihm zum Troste Murray noch nach, daß mir die Zeit lang werden wird! Nehmen Sie ja einen Mantel! Das Wägelchen ist nur halb geschlossen! Auf Wiedersehen!

Unten halfen Brigitte und der Gärtner Louis einsteigen. Der Kutscher schien ein Bauerbursche. Er saß schon durchnäßt auf seinem Bock und war nicht wenig erstaunt, heute nach Herrn Ackermann's Wohnung statt des jeden Morgen von ihm abgeholten Herrn Candidaten Oleander noch einen andern Besucher mitzunehmen.

Langsam fuhr der kleine Wagen den schlüpfrigen Weg hinunter, bog dann um den Thurm, an dem Herrschaftsgebäude vorbei, in das schmale, kaum fahrbare Örtchen ein. Wie hatte sich's hier gegen den Sommer geändert! Wo war das Grün der Bäume hin! Wo der Sonnenschein, wo die funkelnden Diamanten in dem Wasserstaub der Mühle! Wo die Blumen an den Staketen und Einfriedigungen! Wo die muntre Entenschaar auf dem Teiche! Wo die fröhlichen Kinder! Ein grauer Regen hüllte die ganze Natur ein. Man ahnte kaum, daß in der Nähe das Gebirge sich emporhob und auf diesen verschleierten Matten einst die Glocken der Heerden geläutet hatten.

Der kleine Wagen hielt vor der düstern Pfarrwohnung Guido Stromer's.


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